Von Rüdiger Rauls
Private Kaderpartei
Vermutlich haben Wagenknechts Erfahrungen mit der Linkspartei, dann mit der Bewegung "Aufstehen", die scheinbar beide an den verschiedenen inneren Strömungen scheiterten, sie zu der Vorstellung gebracht, dass eine neue Partei aus Menschen bestehen sollte, die weitgehend ihre Ansichten teilen. So sammelte sie Leute um sich, von denen sie wohl glaubte, dass sie sich auf sie verlassen kann. Es entstand eine Art Kaderpartei, die über eine geringe Mitgliedschaft verfügt und noch weniger Aktive und Entscheider. Mitgliedschaft wie Führungspersonal sind weitgehend handverlesen. Die Auswahlkriterien sind undurchsichtig. Politisches Bewusstsein und Erfahrung scheinen dabei nicht an oberster Stelle zu stehen, wie das Führungspersonal in manchen untergeordneten Gremien erkennen lässt.
Die Partei profitierte bisher hauptsächlich von der schlechten Stimmung im Land, der schwindenden Bindungskraft der Regierungsparteien und der Hoffnung auf Verbesserung, die viele Wähler mit dem Namen Wagenknecht verbinden. Aber genügt das, um eine andere Politik zu machen? Mit diesem Anspruch und Versprechen ist das Bündnis angetreten, und damit gelang es ihm, aus dem Stand bei den Wahlen im Osten sehr gute Ergebnisse zu erzielen. Die Partei wurde zum Zünglein an der Waage, weil die anderen es sich selbst verboten hatten, mit der Alternative für Deutschland (AfD) und der Linkspartei Regierungen zu bilden.
Aber wofür das BSW steht, ist nicht zu erkennen. Der Anspruch anders zu sein als die anderen, hatte nur eine geringe Halbwertzeit. In dem unwürdigen Gezänk der ersten Sitzung des Thüringer Landtags hat auch das BSW kräftig mitgemischt. Jene Partei, die sich von den anderen abheben wollte, beteiligte sich an einem Parteiengezänk, wofür bisher nur die anderen bekannt waren und dementsprechend unbeliebt beim Bürger sind. Hat das BSW dabei eine andere Politik gemacht? Hat es eine bessere Figur abgegeben als die anderen Parteien?
Auch Wagenknechts Vorstellung, ein einig Volk von Brüdern zu sein, wenn sie selbst die Mitstreiter aussucht, hat nicht lange gehalten. Mit den Erfolgen beginnen die Auseinandersetzungen der politischen Richtungen, zuerst in Vorwürfen und Anfeindungen, die erst hinter den Kulissen und dann immer öfter öffentlich ausgetragen wurden. Vielleicht herrschte die naive Vorstellung, dass man sich auch in Zukunft auf die politischen Ansichten jener Mitstreiter verlassen kann, die man selbst ausgesucht und in den inneren Kreis aufgenommen hat. Damals hielt man sie für zuverlässig, weil man zum damaligen Zeitpunkt einer Meinung war.
Aber die Meinungsverschiedenheiten entstehen in den Veränderungen durch neue gesellschaftliche Entwicklungen, mit denen sich die Parteien auseinandersetzen müssen. Das Neue bringt auch neue Sichtweisen. Zu glauben, dass die gemeinsamen Ansichten der Vergangenheit von den Veränderungen in der Welt unangefochten bleiben, ist naiv. Mit Sicherheit wollte das BSW keine Kaderpartei sein und hat sich bestimmt auch nicht so verstanden. Aber solch ein Bild entstand durch die Geheimnistuerei und Abschottung, die nach außen hin betrieben wurde.
Dabei wollte man eigentlich nur sicher sein, nicht von Karrieristen ausgenutzt und von inneren Auseinandersetzungen zerrissen zu werden. Dagegen aber helfen keine persönlich bestimmten Auswahlverfahren. Dagegen hilft nur ein gemeinsames weltanschaulich gefestigtes Fundament und die sachliche Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen.
Teilhabe an der Macht
Aber gerade dieses politische Bewusstsein fehlt dem BSW, das auf einer Weltanschauung fußt, die in der Lage ist die Welt zu erkennen, wie sie ist, und die Veränderungen zu vermitteln, die in ihr vorgehen. Das BSW verfolgt keine politische Agenda, keine politischen Ziele. Es formuliert Ansprüche wie alle anderen Parteien auch, die mehr oder weniger persönlichen Wunschvorstellungen entspringen. Es bedient einen Teil der Wählerschaft mit Sichtweisen und Forderungen, die den Interessen dieses Teils entsprechen. All das ist mehr oder weniger zufällig, gestützt auf Stimmungen. Aber es schafft kein politisches Bewusstsein auf der Basis einer Weltanschauung und schon gar nicht sind die Mitglieder dieser Partei durch eine gemeinsame Weltanschauung untereinander verbunden.
Dementsprechend brechen nun innerhalb der Partei die Widersprüche auf nach den Siegen bei den Landtagswahlen im Osten. Diese Brüche folgen der Aussicht auf Teilhabe an der Macht in Form von Regierungsbeteiligungen. Diese Entwicklung droht jeder Partei, sobald sie sich am Parlamentarismus der bürgerlichen Demokratie beteiligt. Selbst Parteien, die sich als Gegner der Klassengesellschaft verstehen, sind dieser Gefahr ausgesetzt.
Hatte sich die SPD im 19. Jahrhundert als Interessenvertreterin der Arbeiterklasse verstanden, gelangte sie mit ihrer zunehmenden Bedeutung immer öfter in die Zwickmühle zwischen der Übernahme von Verantwortung für die bürgerliche Gesellschaft und dem Festhalten an ihrer Klassenorientierung. 1914 war mit der Bewilligung der Kriegskredite dieser Zwiespalt zugunsten des bürgerlichen Staats entschieden. Diese Entwicklung setzte sich über das 20. und 21. Jahrhundert fort bis hin zur Zeitenwende. Die SPD stimmte nicht mehr nur als Getriebene Kriegskrediten zu, sondern betreibt nun selbst aktiv Aufrüstung durch die Schaffung eines Sondervermögens.
Ähnlich war die Entwicklung bei den Grünen, nur noch wesentlich schneller. Was bei der SPD mehr als hundert Jahre gedauert hatte, vollzog sich bei der ehemaligen Friedenspartei innerhalb weniger Jahrzehnte. Im Gegensatz zur SPD hatte bei den Grünen nie eine weltanschauliche Grundlage für deren Politik vorgelegen. Sie waren von Anfang an eine Partei der moralischen Werte. Aber auch diese Ausrichtung führte mit zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung zu einer Richtungsdiskussion zwischen den Realos, die Machtpolitik betreiben, und den sogenannten Fundamentalisten (Fundis), die an ihren moralischen Grundsätzen festhalten wollten. Heute bestimmen die Realpolitiker.
Nun deutet sich beim BSW eine ähnliche Entwicklung an, nur dass hier der Zerfallsprozess noch einmal schneller stattfindet. Während einige in ostdeutschen Landtagen Realpolitik machen wollen, gestützt auf die Wahlergebnisse und die Not der bürgerlichen Parteien, noch überhaupt Koalitionspartner zu finden, kämpft Wagenknecht von Berlin aus um die Reste weltanschaulicher Ansätze. Die Forderung nach dem Ende der Waffenlieferungen an Kiew, der Wiederaufnahme der Diplomatie und dem Verbot neuer amerikanischer Raketen in Deutschland erhält mit ihrer Aufnahme in die Präambeln der Koalitionsverträge im Osten den Anschein von Inhaltlichem und Prinzipientreue aufrecht.
Ob man sich in der Führung des BSW dessen bewusst ist, dass es sich dabei eigentlich nur noch um ein Feigenblatt handelt, ist nicht erkennbar. Aber man sieht sich genötigt, an dieser Frage Koalitionen scheitern zu lassen. Man will nicht den Eindruck von fehlendem Rückgrat erwecken, den man den anderen Parteien vorgeworfen hat und den der Bürger am Verhalten der meisten Parteien verabscheut. Bei genauerer Betrachtung aber sind die Unterschiede zwischen den Präambeln in Brandenburg und Thüringen bedeutungslos, an denen sich nun der Richtungsstreit in der Partei offenbart. Wer macht sich schon Gedanken über Präambeln und vor allem, welchen Einfluss haben sie auf die praktische Politik, wenn es um Krankenhäuser, Schulen und sonstige Alltagsprobleme der Menschen geht?
Nicht noch eine Partei
Es ist schwer zu sagen, wie ernst Wagenknecht und die Führung in Berlin den Streit um die Präambeln tatsächlich nehmen. Jedenfalls scheinen für sie Ansehen und Glaubwürdigkeit an der Einhaltung dieser Zusagen zu hängen, die man vor den Wahlen in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufstellung neuer US-Raketen gemacht hatte. Sie scheinen überzeugt, dass sie sonst auf dem Weg sind, "das BSW zu einer Partei zu machen, von der es nicht noch eine braucht."
Die Wagenknechte sehen das Unterscheidungsmerkmal zwischen sich und den anderen auf der moralischen Ebene von Glaubwürdigkeit, Standhaftigkeit und Worttreue. Sie wollen die Demokratie gerechter und demokratischer machen. Das heißt aber nichts anderes, als dass sie die kapitalistische Gesellschaft reformieren, d. h. erträglicher machen wollen, überwinden wollen sie sie nicht. Dazu glauben sie, den Bürgern die besseren Konzepte und Modelle anbieten zu können. Sie halten sich für die besseren Interessenvertreter und Stellvertreter des Volkswillens.
Aber sie erkennen anscheinend nicht, dass das Volk sich in einer Klassengesellschaft nicht so einheitlich zeigt, wie der Begriff nahelegt, dass es aus unterschiedlichen Klassen besteht mit ganz verschiedenen Interessen. Ein solches Klassenbewusstsein herrscht beim BSW vielleicht theoretisch vor, aber seine Führung versteht nicht, welche praktische Politik daraus zu folgen hat. Da das BSW keine klassenorientierte Politik betreibt, unterscheidet es sich in seinem politischen Bewusstsein nicht von den anderen Parteien, nur in seiner moralischen Ausrichtung.
Aber diese Politik, stellvertretend für das Volk dessen Interessen zu benennen und für deren Umsetzung zu sorgen, hat sich verbraucht. Diejenigen, die dem Volk weismachen wollen zu wissen, was das Beste für es ist, und vorgeben als einzige in der Lage zu sein, das zu erreichen, erreichen das Volk immer seltener. Die Menschen merken immer öfter und deutlicher, dass die selbsternannten großen Heilsbringer ihnen kein Heil bringen. Die gesellschaftlichen Zustände entziehen einer solchen Stellvertreterpolitik immer mehr die Grundlagen.
Denn die wirtschaftlichen Grundlagen für eine solche Politik schwinden immer mehr wegen der antirussischen Sanktionen und deren Folgen: Preissteigerungen und Niedergang der Wirtschaft. Aber auch im Bewusstsein der Menschen findet eine solche Politik immer weniger Niederschlag. Sie trauen den Heilsverkündern immer weniger, nicht nur weil sie diese für Lügner halten, sondern weil sie auch merken, dass diese mit ihrem Latein am Ende sind. Diese Ahnungen und Stimmungen aber greift das BSW nicht auf, sondern versucht es ebenso als Stellvertreter, nur mit anderen Forderungen und Parolen.
Keine neue Partei
Wagenknecht war auf dem richtigen Weg, als sie "Aufstehen" ins Leben rief. Sie war immer noch auf dem richtigen Weg, als sie mit Alice Schwarzer zusammen gegen den Krieg mobilisierte. Aber sie ging den Weg nicht weiter. Sie setzte die Mobilisierung, die sie angekündigt hatte, nicht fort. Sie erkannte wohl nicht, dass die Zeit der Stellvertreterpolitik vorbei ist, dass man die Menschen für die eigenen Interessen mobilisieren und organisieren muss. Zudem scheinen sie und ihre Mitstreiter nicht zu wissen, wie man das macht, und vor allem, wohin diese Mobilisierung führen soll.
Ihr Politikverständnis reicht über das Denken nach den Maßstäben der parlamentarischen Demokratie nicht hinaus. Da wird für Wahlergebnisse und Mandate gekämpft. Dazu reichen herausragende Persönlichkeiten, die mit herausragenden Ideen und Vorschlägen die Geschicke von Parteien und Gesellschaften bestimmen. Das ist das Denken des Bündnisses wie auch der anderen Parteien. Aber die Verhältnisse entwickeln sich so, dass die Stellvertreter die Geschicke der Menschen immer seltener erfolgreich verwalten können. Letztere werden wohl gezwungen sein, die eigenen Geschicke vermehrt selbst in die Hand zu nehmen, damit das dabei herauskommt, was für sie das Richtige ist.
Der gute Wille kann dem BSW nicht abgesprochen werden. Aber angesichts der veränderten Bedingungen ist es mit der Aufgabe überfordert. Es will weiterhin im alten Stil Politik machen, statt sich auf die Kraft und den Einfallsreichtum derer zu stützen, die zunehmend für die eigenen Interessen in Bewegung geraten. Es braucht aber nicht nur die Mobilisierung der Menschen. Es bedarf auch eines klaren Ziels.
Dieses ist noch nicht erkennbar. Aber die Suche danach drängt immer mehr über die bestehende Ordnung hinaus. Für den Erfolg bedarf es einer Organisation, einer Partei, die über die politische Klarheit verfügt, wohin dieser Weg gehen soll und ihn in der Diskussion mit jenen ermittelt, die auf der Suche sind. Zu all dem aber fehlt dem BSW die Analysefähigkeit der materialistischen Weltanschauung als Fundament und das Denken über die bestehende Ordnung hinaus. Insofern ist das Bündnis nur eine jener Parteien, von denen es nicht noch eine braucht.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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