Wahl zwischen Pest und Cholera: In Österreich wiederholt sich das Jahr 1938

Von Dmitri Bawyrin

Einen Monat nach den Parlamentswahlen haben die österreichischen Behörden endlich entschieden, was sie mit der Meinung des Volkes machen wollen: auf sie spucken und sie ignorieren. Die Wähler hatten entschieden, dass die Mächtigen gehen sollen, und die Mächtigen haben entschieden, dass sie nicht gehen werden, weil sonst der Faschismus beginnen und Österreich seine Demokratie verlieren werde. Das muss der Wähler doch einsehen.

Der Präsident des "Östlichen Reiches" Alexander van der Bellen übertrug die Regierungsbildung dem amtierenden Bundeskanzler Karl Nehammer, dessen Österreichische Volkspartei (ÖVP) von der Bevölkerung klar vor die Tür gesetzt wurde: Sie erhielt 26,3 Prozent der Stimmen (eine Klatsche gegenüber den 37,5 Prozent bei den Wahlen vor fünf Jahren) und stellt nur die zweitgrößte Fraktion im Parlament.

Es ist das erste Mal in der Nachkriegsgeschichte Österreichs, dass der Sieger einer Wahl an der Regierungsbildung gehindert wird. Die Erklärung dafür ist folgende: Niemand will mit dem aktuellen Sieger befreundet sein. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) gilt als rechtsextrem, profaschistisch, populistisch, inakzeptabel und unmenschlich – kurz gesagt, sie ist Österreichs Version der Alternative für Deutschland oder von Marine Le Pens Rassemblement National. Daher wird die Regierung von den unterlegenen Parteien gebildet werden – höchstwahrscheinlich von der ÖVP, den Sozialdemokraten und den Liberalen.

Politisch gesehen ist das wie ein Schwan, ein Flusskrebs und ein Hecht, die den Karren, vor den sie gespannt sind, jeder in eine andere Richtung ziehen wollen. Aber welcher Karren (oder welches Land) ist schon zu schade, um geopfert zu werden, wenn es gilt, Faschisten von der Macht fernzuhalten.

Allerdings gibt es eine Nuance, die das Verhalten der österreichischen Eliten äußerst heuchlerisch macht. Die "faschistische" FPÖ hat schon zweimal mit der ÖVP koaliert, d. h. sie galt als eine gerade noch akzeptable Kraft. Völlig inakzeptabel wurde sie erst, als die Neutralität Österreichs im Konflikt mit Russland zum zweitwichtigsten Thema ihres Vorsitzenden Herbert Kickl wurde: keine antirussischen Sanktionen, keine Hilfe für Kiew – das ist jetzt die Position der FPÖ. Das wichtigste Thema der "Freiheitlichen" ist natürlich die Begrenzung der Migration, wie es bei Nationalisten üblich ist.

Dennoch sollte man Kickl nicht allzu sehr nachtrauern, auch wenn die FPÖ früher als "Partei der Russophilen" bekannt war. Er argumentiert in diesem Fall als normaler Politiker und nationaler Egoist, der nicht will, dass sein Land die Rechnung in einem fremden Krieg bezahlt, zumal es viel zu verlieren hat: Österreich war stark vom Handel mit Russland abhängig. Der dahinterstehende gesunde Menschenverstand ist an sich erfreulich, besonders seitdem es in Westeuropa Mode geworden ist, auf Befehl aus Washington den Kopf gegen die Wand zu schlagen, um Moskau zu ärgern. Dennoch haben Kickls Kritiker in einem Punkt recht: Er ist ein "Führer".

Die Freiheitspartei hat eine lange und skandalöse Geschichte, die so weit geht, dass ihre Gründer in der SS dienten. Seitdem hat sich viel geändert, und die FPÖ hat am modernen Russland wenig auszusetzen. Ein zehnminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Parteiaktivisten über die Ereignisse von 1941 bis 1945 kann jedoch ausreichen, damit sich einem russischen Menschen die Fäuste ballen.

Zu leugnen, dass die FPÖ einer rechtsextremen Partei ähnelt, wäre unehrlich und für einen Russen inakzeptabel. Abgesehen von Napoleons Marsch auf Moskau haben wir mit den Franzosen vom Rassemblement National nicht viele historische Meinungsverschiedenheiten (Le Pen ist eine Gaullistin durch und durch). Aber Kickl hat Parteifreunde, die sich die Augen auskratzen würden, wenn ihr Führer Kanzler würde, nach Moskau reiste und dort den traditionellen Kranz am Grab des Unbekannten Soldaten niederlegte.

Von einer rechtspatriotisch-nationalistischen Partei kann man nur schwerlich das erwarten, was wir von Deutschen erwarten: eindeutige Verurteilung, Ablehnung und Reue für alles, was die Nazis im 20. Jahrhundert angerichtet haben. Die Sozialdemokraten in Österreich stehen uns in diesem Punkt wesentlich näher: Sie äußern Reue für die faschistische Vergangenheit. Zugleich unterstützen sie aber die heutige nationalistische Ukraine mit ganzer Seele.

Was ich damit sagen will, ist, dass wir in Europa nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Es gibt dort keine nennenswerten gesunden Kräfte, die sich den Russophobikern entgegenstellen. Die europäischen Wahlen sind fast immer eine Entscheidung zwischen dem einen oder dem anderen Übel, zwischen verschiedenen Faschismen, wie im Falle Österreichs.

Es ist eine undankbare Aufgabe, die braunen Sorten nach ihren Schattierungen zu sortieren, aber für einen Österreicher lassen sich Faschisten tatsächlich in gute und schlechte einteilen. Das Regime, das 1932 im Land errichtet wurde und bis zum "Anschluss" an Nazi-Deutschland 1938 überdauerte (das heißt, bis ein gewisser gescheiterter Künstler "bemannt und bewaffnet" in die österreichische Heimat zurückkehrte), wurde von seinen Gegnern Austrofaschismus genannt. Das Regime war nationalistisch, militaristisch, autoritär, und doch für europäische Verhältnisse bemerkenswert vegetarisch. Man zog es dort vor, nicht zu morden.

Das unumstößliche Prinzip der austrofaschistischen Kanzler Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg bestand darin, Österreich vor der Verschlingung durch Deutschland zu bewahren. Deshalb töteten die Nazis Dollfuß bei einem gescheiterten Putschversuch im Jahr 1934 und verhafteten Schuschnigg bei einem zweiten Versuch vier Jahre später. Er verbrachte den Krieg in Konzentrationslagern und emigrierte anschließend in die USA, wo er Politikwissenschaften lehrte. Er ist ein seltenes Beispiel eines ideologischen Faschisten, der zugleich auch ein prominentes Mitglied des antinazistischen Widerstands war und sich von Anfang bis Ende gegen Hitler stellte.

Was die Situation in Österreich also wirklich beängstigend macht, ist nicht, dass einige seiner Politiker Faschisten aus der Vergangenheit ehren (und Kickl ehrt Schuschnigg sicherlich). Das Beängstigende ist, dass die Alternative, die den Österreichern aufgezwungen wird, uns auch an die Alternative von 1938 erinnert – diejenige mit Hitler an der Spitze.

1938 wollte Österreich für sich selbst leben, mit eigenem Geist und eigenem nationalen Interesse. Es wollte sich nicht dem Projekt der europäischen Einigung anschließen, seine Souveränität aufgeben, in fremden Kriegen verheizt werden und Soldaten an die Ostfront schicken. Es wurde gezwungen. Heute wird Österreich wieder gezwungen, und die Befehle werden auch dieses Mal auf Deutsch, in Ursula von der Leyens Muttersprache, erteilt.

In der modernen Geschichte gibt es auch die Ostfront, Nazibataillone und rehabilitierte Bandera-Anhänger. Es gibt Kriegsverbrechen und Verfolgungen nach dem nationalen Prinzip. Es gibt einen psychopathischen Politiker und einen Staat, der den Anspruch erhebt, Welthegemon zu sein. Und vielleicht gibt es demnächst einen Weltkrieg, wenn sich die Eskalationsspirale weiterdreht und Europa sich nicht bald auf seine nationalen Interessen besinnt.

Zumindest so, wie es Kickl tut. Indem sie ihm die Möglichkeit verweigerten, Bundeskanzler zu werden, haben die österreichischen Eliten nicht dem Faschismus einen Riegel vorgeschoben, wie die europäische Presse behauptet. Sie haben sich nur für den Faschismus eines anderen entschieden. Einen schlimmeren Faschismus.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Originalartikel ist am 25. Oktober 2024 auf ria.ru erschienen.

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