Sechs Minuten nach

Foto: Franziska Lô

Von Franziska Lô. Wie viele Menschen in dem idyllischen griechischen Bergdorf leben, weiß ich nicht. Vielleicht zweihundert. Sicher weiß ich nur, dass meine Seele hier ein Zuhause gefunden hat.

Anfangs bin ich nicht sicher, woran es liegt, dass Frieden, Stille, Gleichmut und Gelassenheit jeden Tag mehr Besitz von mir ergreifen. Ich erforsche, lausche und warte.

Da höre ich sie: die Turmuhr. Sie schlägt zur vollen und zur halben Stunde. Als ich es zum ersten Mal bemerke, schaue ich auf mein Handy und es ist 10:06 Uhr. Oh, tatsächlich?

Auch zur halben Stunde schlägt sie zuverlässig: sechs Minuten nach halb.

Es mag eine Kleinigkeit sein, die den meisten überhaupt nicht auffällt. Mich berührt diese Kleinigkeit tief. Ich spüre: hier habe ich Zeit. Sie ist im Überfluss vorhanden. Es gibt nichts zu tun, kein Eilen, keine Hektik, kein Druck.

Seit jeher bin ich der Meinung, dass sich die Energie eines Ortes auf uns überträgt. Auch wenn mein Vermieter Vasili sagt: „Wenn du in dir gut bist, ist es überall auf der Welt schön.“ Weise Worte. Hohe Ziele. Denn wir alle kennen sie, die stille Ruhe, die uns umgibt, wenn wir durch Mutter Natur streifen und sie tief einatmen. Gefolgt von dem inneren Vibrieren, wenn wir wieder in einer Stadt sind oder an Orten, die von uns nehmen, stattzugeben.

Ich spüre nochmal hin: ja, diese göttliche Langsamkeit. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Dinge passieren, wenn es soweit ist. Nicht früher, nicht später. Sondern genau dann.

„Warten weitet das Herz“, weiß auch Pater Anselm Grün. Und das ist das nächste Erlebnis, das so banal wie wunderbar ist.

Wir kaufen in einem Tante-Emma-Laden noch ein paar Kleinigkeiten, wobei ich die schmale Straße mit dem Auto blockiere. Dann fällt mir plötzlich auf, dass hinter mir ein anderes Auto steht. Wie lange ist es dort schon? Der Fahrer hat den Motor ausgeschaltet und: wartet. Er hupt nicht, er schimpft nicht, er klopft auch nicht an die Scheibe. Er wartet. Tatsächlich. Ohne zu murren, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Und genau in dem Moment wird mir bewusst, dass es das Selbstverständlichste ist! Dass es in Ordnung ist, dem anderen den Raum zu geben, den er braucht. Sich selbst die Zeit zuzugestehen, die man braucht um zu sein, zu werden, zu tun oder zu lassen. Eben das, was gerade dran ist. Dass wir jedes Mal, wenn wir auf jemand anderen warten, genau diese Stille für uns selbst genießen können, statt sie mit irgendetwas füllen zu müssen.

Wieder zurück im Dorf läutet die Glocke: zuverlässig sechs nach. Welche volle Stunde es ist, ist gar nicht wichtig. Die Zärtlichkeit, die in dieser Geste liegt, berührt mich sehr.

Was macht es mit uns, wenn wir uns einfach wieder die Zeit nehmen dürfen, zu warten & die Zeit in Anspruch zu nehmen, die wir brauchen?

Für uns. Für mich. Jeder für sich. Für einander. Für das Tun. Für das Lassen. Für das, was kommen will.

Lücken, nicht ständig praktisch füllen und optimieren müssen, sondern einfach wieder spüren, dass wir da sind. Atmen. Riechen. Hören. Fühlen. Dem Wind lauschen. Nach Innen spüren. Das Herz fühlen. Die Seele sprechen lassen. Den Dank fühlen.

Sein statt tun. Spüren statt wollen. Lassen statt machen. Absichtslos.

Fransiska Lö

Franziska Lô ist Psychologin, Kunsttherapeutin und Autorin. Sie reist gern und sammelt unterwegs Weisheiten und Geschichten, um sie in Ihr Leben und Ihre Arbeit zu integrieren. Sie bietet online psychologische Beratungen an, die auf den buddhistischen Prinzipien der Achtsamkeit beruhen. https://praxis-flo.de und www.franziska-lo.com, info@praxis-flo.de +49 711 121 69 24

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