Von Igor Karaulow
Der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson hat über die Zeitschrift The Spectator ein weiteres Paket mit motivierenden Beschwörungsformeln an das Kiewer Regime gesandt. Aus irgendeinem Grund glauben westliche Politiker, dass solche Pakete zusätzlich zu den Militärhilfepaketen für die Ukraine und den Paketen mit antirussischen Sanktionen in regelmäßigen Abständen verschickt werden sollten.
Der Inhalt dieses Pakets ist nicht sonderlich neu: Die Ukrainer werden sich niemals ergeben, der Westen wird ihnen helfen, Russland wird verlieren, und so weiter. Dennoch enthält dieser Text eine merkwürdige These, auf die ich näher eingehen möchte. Johnson sagt:
"Unsere Botschaft an Russland lautet: Das war's. Es ist vorbei. Ihr habt nicht länger ein Imperium. Ihr habt nicht länger ein 'nahes Ausland' oder eine 'Einflusssphäre'. Ihr habt kein Recht, den Ukrainern zu sagen, was sie zu tun haben, so wie wir Briten kein Recht haben, unseren ehemaligen Kolonien zu sagen, was sie zu tun haben. Es ist an der Zeit, dass Putin erkennt, dass Russland eine glückliche und glorreiche Zukunft haben kann, aber erst müssen sich die Russen wie Rom und Großbritannien in die Reihe der postimperialen Mächte einreihen."
Diese pathetische Tirade macht deutlich, dass der Verlust des Kolonialreichs in Großbritannien immer noch als schmerzhaftes historisches Trauma empfunden wird, ein Zahnschmerz, über den heutige britische Politiker nun sprechen müssen. Ich nehme an, das Gleiche gilt für Frankreich und einige andere europäische Länder; schließlich besaßen auch Belgien und die Niederlande einst reiche Überseegebiete, also sehnt sich dort wohl auch jemand nach einstiger Größe.
Es wird deutlich, dass einer der Gründe für die moderne europäische Russophobie ganz einfach Neid ist. Während westliche Imperien zusammengebrochen sind, wollen diese hartnäckigen Russen einfach nicht ihrem Beispiel folgen. Das ist eine Schande, wie Sie sehen. Deshalb wollen sie bei Russland nachhelfen, es ihnen gleichzutun. Das ist alles, was man über die "regelbasierte Weltordnung" wissen muss.
Johnson ist allerdings unaufrichtig. Die Briten genießen ihren Status als "postimperiale Macht" keineswegs. Die größten Diamanten sind schon lange aus der britischen Krone herausgefallen, aber die imperialen Charakterzüge sind geblieben. Ich glaube nicht an die Verschwörungsdoktrin von Dmitri Galkowski, wonach nicht einmal eine Katze ohne die heimliche Beteiligung der Briten gebären kann. Aber Sie müssen mir zustimmen, dass dieser Staat, der in Bezug auf sein Territorium, seine Bevölkerung und seine Rolle in der Weltwirtschaft recht bescheiden ist, versucht, eine unverhältnismäßig große Rolle in der Welt zu spielen.
So ist das britische Militär beispielsweise in 145 Militäreinrichtungen in 42 Ländern der Welt präsent. Jeder kennt die Insel Diego Garcia im Indischen Ozean, die die Briten zusammen mit den US-Amerikanern zu einem wichtigen Militärstützpunkt gemacht haben. Sie ist eine der Inseln des Chagos-Archipels, auf die die britische Krone aus irgendeinem Grund nicht verzichten will, ebenso wenig wie auf die Falklandinseln, die doch so weit von den weißen Klippen von Dover entfernt sind.
Diese "postimperiale Macht" gibt ihre Atomwaffen nicht nur nicht auf, sondern droht sogar mit ihnen. Die Sonderdienste dieser "postimperialen Macht" planen und führen Sabotageakte in anderen Ländern durch. Bei Gott, das Ganze ist absurd. Schließlich entspricht der Wunsch, Russland zu beweisen, dass es wie alle "normalen" Länder auf jegliche Einflussnahme im Ausland verzichten sollte, ganz und gar nicht dem Verhalten britischer Politiker – sowohl von Boris Johnson selbst, als er Premierminister war, als auch von denen, die ihm nachfolgten. Die hysterische Einmischung in ukrainische Angelegenheiten, die sie an den Tag gelegt haben und legen, riecht eindeutig nach Raubtierimperialismus, nach einem erbitterten Kampf um Einflusssphären, Ressourcen, Waren- und Finanzströme. Die "postimperiale" Welt, für die Johnson wirbt, meint eigentlich den uns bekannten Neokolonialismus, der durch die Aufteilung von Einflusssphären anstelle von direkten territorialen Eroberungen gekennzeichnet ist. Daher redet sich der Autor des Artikels in der Zeitschrift The Spectator bloß um Kopf und Kragen.
Großbritannien führt als NATO-Mitglied einen Krieg gegen Russland, und zwar nicht, damit die Ukraine in niemandes Einflussbereich liegt und niemand ihr seinen Willen diktieren kann, sondern um sie im Einflussbereich des Westens zu halten, und zwar in einem Zustand westlicher Besatzung.
Überhaupt brauchen wir diese Lügenmärchen nicht. Die ehemaligen Metropolen der Kolonialreiche erkämpfen sich ihr Recht auf eine "glückliche und glorreiche Zukunft" immer noch mit Gewalt und Unverschämtheit. Die Briten sind ebenso unverfroren wie die Franzosen. Kaum wurden sie in Afrika in die Enge getrieben, beschlossen sie sofort, sich in Armenien zu engagieren, in der Hoffnung, Nikol Paschinjan zu ihrer Marionette zu machen. Und es ist ihnen egal, dass Macron im Falle eines neuen Konflikts in der Region keine echte Möglichkeit hat, Armenien zu helfen. Das Hauptziel ist dasselbe wie in der Ukraine: Russland muss aus seiner Einflusssphäre gedrängt werden. Und das geht am besten, indem man die ehemaligen Sowjetrepubliken eine nach der anderen in den Einflussbereich des Westens und vorzugsweise in dessen Militärblöcke zieht. Gleichzeitig wird jeder russische Widerstand gegen diese Anmaßungen als "imperiales Syndrom" Russlands deklariert.
Boris Johnson tut so, als würde er Russland nicht nur drohen, sondern auch eine Art Zuckerbrot anbieten: Wenn ihr verliert, ist das keine große Sache, wir werden euch in unsere Reihen aufnehmen und ihr werdet nur besser leben. Er lügt wie alle westlichen Politiker, aber zum Glück sind wir gegen diese Lügen immun. Diese Immunität wurde uns allerdings zu einem hohen Preis zuteil: Einst haben wir uns schon einmal auf so eine Lüge eingelassen, und haben unser Land verloren – und trotzdem blieben wir zu groß und allumfassend schuldig. Natürlich wurden wir nicht in irgendwelche westlichen Reihen aufgenommen.
Als Antwort auf diese hinterhältigen Äußerungen müssen wir sagen, dass Russland nicht verschwinden wird, es bleibt genau dort, wo es ist. Und es hat aufgrund seiner Größe, seines Ressourcenreichtums, seines intellektuellen und kulturellen Potenzials allein durch die Naturgesetze Anspruch auf seinen eigenen Einflussbereich. Wir werden sicher nicht so tun, als wären wir Möbel. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in Afrika und Lateinamerika hat und wird Russland weiterhin Einfluss auf das Geschehen nehmen. Natürlich wird dies ohne räuberische Ziele und Betrugstechniken geschehen, denn so etwas ist der russischen Zivilisation einfach nicht eigen.
Aber die alten europäischen Mächte, die ihre Gier nicht aufgegeben haben, werden nicht in Würde und Freude leben. Selbst jetzt fühlen sie sich nicht so komfortabel, wie ihre Politiker und Ideologen versuchen, sie darzustellen. Und im Laufe der Zeit werden ihre Versuche, auf Kosten anderer Nationen zu existieren, ziemlich erbärmlich aussehen und eine immer schärfere Antwort erhalten.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 25. September 2024 zuerst auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Igor Karaulow ist ein russischer Dichter und Publizist.
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