Rosneft-Chef: "Westen betreibt grünen Neokolonialismus"

Von Elem Chintsky

Eine Woche ist seit dem Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum (SPIEF) vergangen und ein gewisser Auftritt dort sticht hervor. Der Chef des russischen Rosneft, Igor Setschin, erläuterte die wahren Zahlen der Energiewende und ließ ihre eigentliche Erfolgsbilanz – sofern diese so bezeichnet werden kann – Revue passieren.

Eine der wohl besten Zusammenfassungen von Setschins Analyse lieferte der russische Politologe Leonid Krutakow. Demnach geht es gar nicht darum, ernsthaft anzunehmen, dass die grüne Energiewende jemals die Ziele angestrebt hat, an welche die wahlberechtigte und verängstigte Bevölkerung des Westens durch alle PR- und Medienkanäle herangeführt wurde. Die dramatische und dringliche Klimarettung ist bloß ein Stellvertreter-Stichpunkt, der die wahren Absichten verdecken soll. Laut Setschin seien in den vergangenen zwei Dekaden 10 Billionen US-Dollar in den erneuerbaren, vermeintlich nachhaltigen Energiesektor geflossen – das Dreifache der Investitionen, die sein traditioneller Gegenpart mit seinen fossilen Brennstoffen erhielt.

Dieses Kapital wurde weitestgehend über die westlichen Börsen-Knotenpunkte in New York und London unter dem moralischen Mandat der Weltrettung gelotst. Resultat heute? Die viel gepriesene Solar- und Windenergie macht heute weniger als 5 Prozent der weltweiten Energieerzeugung aus. Der weltweite Anteil von Elektroautos liegt heute bei etwa 3 Prozent, wobei hier noch gestritten werden kann über die Sicherheit der Fahrzeuge selbst, die "erneuerbare" Herkunft der Energie, mit der die Lithiumbatterien aufgeladen werden sowie den kolonialen Ursprung des Lithiums.

Nichts davon ist nachhaltig. Weshalb Setschin ohne große Mühe konstatiert, dass hier ein empirisch mittlerweile bestätigtes, unrentables "politisches Projekt" vorliegt. Denn er fügt hinzu, dass der weltweite Verbrauch von Erdöl, Erdgas und Kohle im gleichen Zeitraum um insgesamt 35 Prozent gestiegen ist – bei wesentlich geringeren Kosten. Krutakow hebt hervor, dass Setschin eine für den gesunden Menschenverstand einfach zugängliche Prognose aufstellt: 

"Die geplanten Gesamtkosten für die Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens bis 2050 belaufen sich auf mehr als 270 Billionen US-Dollar – fast das Dreifache des globalen BIP. Angesichts der derzeitigen Investitionsleistung ist es nicht schwer, das Ergebnis vorherzusagen. Deutschland, Frankreich und Belgien sind bereit, ihren Ansatz zu überarbeiten, um die Ziele des Grünen Pakts für Europa zu erreichen. Und die Weltbank hat die Frist bereits um 10 Jahre vorverlegt."

De facto heißt das, dass die EU-Eliten ein masochistisches Selbstbeschneidungsprojekt verfolgen. Zwar brillierten die rechtskonservativen Kräfte kürzlich bei den Europawahlen, aber wie besonders das deutsche Beispiel zeigt: Die letzte Hürde der AfD bleibt die "grüne", scheinkonservative CDU. Die Christdemokraten werden die von der AfD erhoffte Umkehrung der deindustrialisierenden Energiewende Europas vereiteln können. Zumal Friedrich Merz und die meisten seiner Untergebenen abseits der Werteunion durchaus bereit wären, in Zukunft auf Bundesebene mit den Grünen zu regieren. Einer Partei, die zuletzt die stärksten Wahlverluste erlitten hat.

Cui Bono?

Anhand der Zahlen Setschins, die zeigen, dass international forcierte, grüne Energie beileibe kein rationales Geschäftsprojekt sein kann, stellt sich die Frage, worum es sich dann hier sonst handeln könnte? Wer profitiert von diesen Entwicklungen? Der Rosneft-Chef führt eigens dafür den Begriff des "grünen Neokolonialismus" ein. Dieser wird betrieben, um die unipolare Struktur der Weltordnung zu konsolidieren, welche seit 1990 unter US-Vormundschaft auf Basis der Kontrolle von Finanzinfrastruktur, Technologie und Logistik steht.

In den Jahren 1990 bis 2015 wurden dank der "grünen Ideologie" essenzielle Wachstumsressourcen im Wert von mehr als 240 Billionen US-Dollar aus den Entwicklungsländern der Dritten Welt in die Industrieländer des Westens umgeleitet. Setschin zufolge sei hier im Wesentlichen "eine flächendeckende Sanktionsschranke für 88 Prozent der Weltbevölkerung – für diejenigen, die nicht zu der 'Goldenen Milliarde' gehören" am Werk.

Mit der "Goldenen Milliarde" wird im russischen Diskurs die privilegierte, anspruchsberechtigte, realitätsferne Bevölkerung des nordamerikanischen und europäischen Kontinents verstanden. Mit anderen Worten: Der "EU-Garten" Josep Borrells war bisher die Wohnstätte für zwei Drittel der "Goldenen Milliarde". Auch Frankreichs Diktat mit dem CFA-Franc, anhand welchem Paris noch acht westafrikanische Länder in monetärer Geiselhaft hält und Raub auf allen ökonomischen Ebenen vor Ort betreibt, dient als schmerzhaft anschauliches Beispiel dieses Neokolonialismus.

Des Weiteren fügte Krutakow hinzu, dass diese grüne Agenda als ideologische Ablösung für den gescheiterten "globalen Terrorismus" gilt, den die USA mit ihren Partnern besonders Anfang der 2000er-Jahre vielversprechend zu verfolgen begonnen hatten. Invasionen, Präventivkriege und US-Okkupationen von ehemals souveränen, rohstoffreichen Ländern – die diesen Terrorismus vermeintlich unterstützten – wurden unter mehrheitlich europäischem Applaus ermöglicht.

Mit dem heutigen Debakel im Nahen Osten – samt eines Genozids an den Palästinensern durch israelische Hand und europäische Bestärkung, brennt diese nach außen gerichtete, geopolitische Kerze aus. Zumal die Neben-Doktrin der westlichen Klimareligion – die politische Korrektheit – dafür sorgt, dass die reale Gefahr des manifestierten Islamismus auf dem europäischen Kontinent durch unangefochtene und unregulierte Migration vollkommen vernachlässigt und vom System ignoriert, umgekehrt und verschleiert wird.

Der russische Politikwissenschaftler stellt Setschins Begriff des vom Westen praktizierten "grünen Neokolonialismus" einen "Neo-Malthusianismus" entgegen, der die geradezu vorsätzlichen Bemühungen, die eigene wirtschaftliche Entwicklung zu hemmen, besser illustrieren soll. So solle der vermeintlichen Diskrepanz zwischen "zu vielen Menschen" und "zu wenig Energie- und Nahrungsressourcen" auf der Welt entgegengewirkt werden. Klimareligionstheoretiker aller Gewerke schweifen dabei oft auf die Metaebene und fabulieren unter anderem in Richtung einer nicht offen ausgesprochenen Eugenik, die der gemeinen Bevölkerung die Abneigung zur Fortpflanzung schmackhaft machen soll.

All die Rhetorik innerhalb der EU (unter dem Motto nachhaltiger Entwicklung), die von Verzicht und kollektiver Verantwortung für die immanente Vernichtung des Klimas handelt, soll als Begründung dafür dienen, wohin die Reise eigentlich geht. Bezahlbare Energie in Hülle und Fülle soll in kollektiver europäischer Wahrnehmung nicht mehr als ein Recht oder eine Selbstverständlichkeit angesehen werden. Billige Energie für jeden lohnt sich nicht mehr für die internationalen Investmentgesellschaften und Finanzkonglomerate und wird deshalb mit dem Prädikat "nicht mehr nachhaltig" stigmatisiert.

Setschin postuliert, dass die Europäische Union von 2021 bis 2023, im Rahmen der Sanktionen gegen Russland, 630 Milliarden US-Dollar an Moskau zahlen musste, um ihre unmittelbaren Energiebedürfnisse zu befriedigen – ein dramatisches Vielfaches, denn so viel hat russische Energie die EU in den vorangegangenen acht Jahren zusammengenommen gekostet.

So betreibt gleichzeitig die europäische Industrie angesichts stark steigender Energiekosten eine Verlagerung ihrer Produktionsstätten ins Ausland. Oftmals in die USA, aber auch in die Volksrepublik China. In Deutschland liegt die Zahl dieser Unternehmen mittlerweile bei 32 Prozent. Einen Nutzen davon tragen also zumindest mittelfristig die USA. Sofern die USA ihre innenpolitischen Herausforderungen und ein Umlenken beim Verlust des Status der Weltreservewährung meistern, können sie von diesem Vorteil etwas länger profitieren.

Die auseinandergehende ökonomische Entwicklungsschere zwischen den USA und der EU ist kein neues Phänomen. Setschin erwähnt die Daten des Internationalen Währungsfonds für die letzten 15 Jahre. In dieser Zeit wuchs die EU-Wirtschaft lediglich um 13 Prozent. Während die US-Wirtschaft um 85 Prozent zulegte. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der EU insgesamt ist gesunken und liegt nun 52 Prozent unter dem US-Durchschnitt. Wenn der Rückgang anhält, wird das US-Bruttoinlandsprodukt bis ins Jahr 2035 das der EU um das Fünffache übertreffen.

Krutakow unterstreicht noch einmal das Offensichtliche, aber in der EU vorsätzlich ignorierte – nämlich, dass Energie eine grundlegende Ressource für das Wachstum einer jeden Volkswirtschaft ist. Alle Wirtschaftszweige eines Landes sind betroffen. Hier spricht der Politologe dem neuen Russland, welches eines Tages aus der militärischen Sonderoperation als wichtiger, gestärkter eurasischer Player hervorkommen soll, eine Warnung aus. Bei der eigenen Volkswirtschaft darf nicht nur auf Energie-Export gesetzt werden, wobei eine Diversifizierung – und wie er sagt, eine "Mobilisierung" dieser – stärker vorangetrieben werden muss. Die eigene Energie müsse genutzt werden, um andere, inländische Industriezweige zu vitalisieren, zu reformieren und weiterzuentwickeln.

Zwar wurde den vier wichtigsten Erdöl fördernden Staaten, auf die die USA signifikanten Einfluss haben – Saudi-Arabien, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, Irak – pro forma nahe gebracht, sich ebenfalls auf die grüne Energiewende einzustellen, jedoch lasse das Wachstum der Förderkapazitäten ebendieser traditionellen Energieträger in diesen OPEC+-Nationen einen alternativen Ansatz, einen Plan B im Hintergrund vermuten, so Setschin. Die Kapazität der Erdölförderung dieser Länder soll bis ins Jahr 2027 um 2 Millionen Barrel pro Tag zunehmen – heute sind es 5,6 Millionen Barrel pro Tag.  

Setschins weitere Warnung: Die Regulierung der Branche durch die OPEC+ könnte sich stark zuungunsten Russlands ändern, "wenn ein bestimmter Kandidat die kommenden US-Wahlen gewinnt".

Weder Setschin noch der reflektierende Kuratow nennen Donald J. Trump beim Namen, aber es liegt äußerst nahe, dass er damit gemeint ist.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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