Was viele Medien zur Autoritarismus-Studie nicht berichten

Vor einem Monat erschien die diesjährige Leipziger Autoritarismus-Studie. Das an der Uni Leipzig angesiedelte Else-Frenkel-Brunswick-Institut veröffentlicht diese Studie aktuell im Zweijahresrhythmus. Darin werden autoritäre Tendenzen, soziale Bedingungen von Ressentiments und deren Verbreitung in der deutschen Bevölkerung analysiert. Die Studie hat dieses Jahr für einiges an Aufmerksamkeit gesorgt. Ihr habt sicherlich schon von einigen zentralen Ergebnissen in den Medien gehört. Die Zustimmung zur Demokratie sinkt, rechtsextremistische Tendenzen sind auch im Westen Deutschlands auf dem Vormarsch, Antisemitismus stieg zuletzt stark an.

Gleichzeitig sind in der Berichterstattung auch einige Aspekte zu kurz gekommen. Gerade im Vergleich Ost- vs. Westdeutschland scheint noch nicht allen bewusst zu sein, wie stark wir uns von bisherigen Narrativen über die Verbreitung von Rechtsextremismus und autoritären Tendenzen verabschieden müssen. Auch zum Thema Antisemitismus und dessen Verbreitung in der ganzen Gesellschaft gab es tiefgreifendere Erkenntnisse als „nur“ der beobachtete Anstieg. Und die Studie könnte auch einige überraschende Schlüsse für den Wahlkampf liefern. Denn sie untersuchte auch Einstellungen von unentschlossenen Wähler:innen. Wir schauen auf alle drei Aspekte.

Anm.: Wenn Quellen als Seitenzahlen angegeben sind, beziehen sie sich immer auf die Seitennummerierung in dieser Version der Autoritarismus-Studie.

1. Abschied von den alten Narrativen zu Ostdeutschland

Warum so viele Ostdeutsche rechts sind“ – solche oder ähnliche Schlagzeilen dominierten in den letzten Jahren die politische Berichterstattung über Ostdeutschland. Dabei bezog man sich in der Regel vor allem auf Fremdenfeindlichkeit sowie die guten Wahlergebnisse für die AfD. Schließlich ist die Partei in 3 ostdeutschen Landesverbänden gesichert rechtsextrem. Angesichts von gewaltsamen Protestaktionen gegen Geflüchtetenunterkünfte, PEGIDA-Aufmärschen und rechten Hetzjagden ist es auch richtig, dass auf diese Probleme geschaut wird. Doch dabei andere Entwicklungen in Richtung Autoritarismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu übersehen, wäre unklug. Vor allem, wenn Rechtsextremismus als ein vor allem ostdeutsches Problem dargestellt wird.

Die Leipziger Autoritarismus-Studie nähert sich diesem Problem systematisch an. Sie untersucht vor allem, welche rechtsextremen Einstellungen in Deutschland wie weit verbreitet sind. Da auch erhoben wird, ob die Personen aus Ost- oder Westdeutschland stammen, kann hier gut verglichen werden, wie es tatsächlich um die Verbreitung von Rechtsextremismus steht. Und während die meisten Medien aufgegriffen haben, dass die Verbreitung von extremistischen Ressentiments im Westen stärker steigt als im Osten, entsteht immer noch oft der Eindruck, Ostdeutschland sei trotzdem insgesamt einfach weiter rechts eingestellt. Das ignoriert einige Unterschiede, die in der Studie herausgearbeitet wurden.

Autoritarismus-Studie: So weit ist Extremismus verbreitet

Denn während es in der schnellebigen medialen Welt vor allem darum geht, einzuteilen in „Wer ist rechts?“ und wer nicht, hat die Studie genauer auf verschiedene Dimensionen des Rechtsextremismus geschaut. (S. 44-50)

Bei der Dimension „Ausländerfeindlichkeit“ bestätigen die Ergebnisse den Eindruck der medialen Berichterstattung: In Ostdeutschland liegt die manifeste1 Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen mit 31,5 % deutlich über den Werten in Westdeutschland (19,3%). Auch bei der Dimension „Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“ sind die manifesten Zustimmungswerte im Osten (3,8 %) höher als im Westen (3,1 %).

Doch in anderen Dimensionen hat Westdeutschland nicht nur „aufgeholt“, sondern sogar überholt. So liegt die manifeste Zustimmung zu antisemitischen (West: 4,6 %/Ost: 1,8 %), sozialdarwinistischen (2,9 %/1,6 %), chauvinistischen (16 %/11,8 %) sowie den Nationalsozialismus verharmlosenden Aussagen (1,8 %/1 %) im Westen höher. Wenn man die einzelnen Aussagen betrachtet, wird es teilweise noch deutlicher. Bei einigen rechtsextremen Aussagen liegt die Zustimmung in Westdeutschland rund 10 Prozentpunkte höher. So zum Beispiel zu folgenden Aussagen (S. 40f.):

  • „Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten“
  • „Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden“
  • „Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen“
  • „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen“

Bedrohung ernst nehmen statt auf bequemen Stereotypen beharren

Auch andere besorgniserregende Aussagen wie „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ erfuhren in Westdeutschland mehr Zustimmung als im Osten. Gleichzeitig sieht es bei ähnlichen Aussagen wie „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform“ umgekehrt aus. Während also vor allem die Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland weiterhin deutlich stärker vertreten ist, hat sich das Verhältnis in anderen Dimensionen des Rechtsextremismus sogar umgedreht – wenn auch auf noch relativ niedrigem Niveau.

Diese Ergebnisse schlagen sich (noch) nicht in vergleichbaren Wahlerfolgen wie der AfD in Ostdeutschland nieder. Doch konnten die Rechtsextremen auch in westdeutschen Landtagswahlen wie in Hessen und Bayern zuletzt Erfolge melden. Schlagzeilen wie „Warum so viele Westdeutsche Chauvinisten sind“ blieben bislang aus. Doch es ist wichtig, diese Entwicklung im Blick zu behalten – will man nicht von der nächsten Welle des Rechtsextremismus überrascht werden. Es ist Aufgabe von Medien, Gesellschaft und Politik, sich von einfachen, stereotypischen Schlagworten zu trennen und stattdessen versuchen zu verstehen, warum diese Ressentiments Zuspruch erfahren.

Höhere Zustimmung zur Demokratie – niedrigere Zufriedenheit?

Ein weiteres Thema der Autoritarismus-Studie, das medial vielfach aufgegriffen wurde, war die Untersuchung der Zustimmung der Demokratie. In Ostdeutschland liegt die Zustimmung zur Idee der Demokratie bei 94,6 %, in Westdeutschland stürzte die Zustimmung dagegen zuletzt von einem ähnlich hohen Niveau auf nur noch 89,4 % ab. Ähnlich sieht es auch aus, wenn man gezielt nach der „Demokratie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist“ fragt (Ost: 81,2 %/West: 70,8 %, S. 72). In Westdeutschland sind also grundsätzliche Zweifel, ob die Demokratie die beste Regierungsform ist, deutlich weiter verbreitet. Daher erscheint es paradox, dass die Zufriedenheit mit der Alltagsdemokratie, also mit der „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“, genau andersrum gelagert ist. Im Westen sind 45,5 % damit zufrieden, im Osten nur 29,7 % – der zweitniedrigste Wert nach 2006. (S. 74)

Also: In Ostdeutschland sind die allermeisten Menschen überzeugt von der Idee der Demokratie, aber viele unzufrieden mit deren Umsetzung. Diese zentrale Erkenntnis der Studie wurde in der medialen Berichterstattung nicht so intensiv diskutiert, wie es notwendig wäre. Denn offensichtlich gehen die Vorstellungen, wie Demokratie funktionieren sollte, auch 35 Jahre nach der Wende zwischen Ost- und Westdeutschland teilweise deutlich auseinander. Das lässt sich durchaus auch geschichtlich begründen, ohne sich auf pseudo-philosophische Abhandlungen über die „Mentalität der Ossis“ o.ä. zu versteifen.

Wende 1990: Chance auf neue Verfassung verpasst?

Denn auch wenn es für viele heute logisch erscheint, dass mit der Wiedervereinigung 1990 die ehemalige DDR einfach der BRD „beitreten“ würde, war das damals keineswegs so unumstritten. Dass man irgendwie mehr Demokratie will, zeichnete sich sowohl in der AG „Neue Verfassung“ des Zentralen Runden Tisches der DDR, als auch in der Volkskammer, die sich mit dem Thema zu befassen begann, ab. Damals war ja noch nicht einmal gesetzt, dass die DDR überhaupt endet, viele glaubten noch an eine Reform, sodass zumindest übergangsweise die DDR eine neue Verfassung bekommen würde. Aus dieser Perspektive wäre dann die naheliegendere Lösung gewesen, mittelfristig eine komplett neue Verfassung für ganz Deutschland zu entwerfen – sodass es tatsächlich auch rechtlich zu einer „Wiedervereinigung“, statt nur einem Beitritt der DDR kommen würde. Ein solcher Prozess hätte natürlich Jahre gedauert.

Doch tatsächlich überschlugen sich Ende 1989 und vor allem 1990 die Ereignisse. Da die ersten freien Wahlen sogar vorgezogen wurden, war offensichtlich, dass ein neuer Verfassungsentwurf bis dahin niemals fertig geworden wäre. Und mit dem Wahlsieg der CDU und ihrer Verbündeten, die im Wahlkampf vor allem damit geworben hatten, die Wiedervereinigung jetzt möglichst schnell über die Bühne zu bringen, war das Thema dann mehr oder weniger hinfällig. So blieben viele von der Bürgerrechtsbewegung erarbeitete Vorschläge außen vor. Darunter beispielsweise auch das Recht auf Wohnen oder das Recht auf Arbeit. Die Demonstrationen gegen §218 StGB vor dem DDR-Parlament am 22. April 1990 zeigen, dass auch im Bereich Feminismus längst noch keine Einigkeit herrschte. Aber es blieben auch geplante Reformen hin zu mehr Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie außen vor.

Verfassungsentwurf sah mehr direkte Demokratie vor

Dieser Verfassungsentwurf stand nämlich stark unter dem Eindruck der Rolle von Bürgerrechtsbewegungen beim Ende des SED-Regimes und damit im Zeichen direkter Demokratie. Bürgerbewegungen sollten unter besonderem Schutz stehen (Art. 35) und jede Verfassungsänderung per Volksentscheid bestätigt werden (Art. 100). Außerdem wurde ein Volksgesetzgebungsverfahren empfohlen (Art. 98), wonach ein Volksbegehren, nachdem es eine gewisse Anzahl an Unterschriften erreicht hat, zwingend zu einem Volksentscheid über das betreffende Thema geführt hätte.

Am Runden Tisch war dieser Entwurf noch von allen Beteiligten (auch der CDU) unterzeichnet worden. Er verfehlte aber in der Volkskammer die Mehrheit knapp. Generell wurde der Wahlsieg der CDU und ihrer Verbündeten in der Allianz für Deutschland als Votum für die Position der westdeutschen CDU gewertet, die möglichst schnell die Wiedervereinigung plus Übernahme des Grundgesetzes durch die DDR wollte. Tatsächlich gaben aber in einer Umfrage im April 1990 nur 9 % der Befragten an, dass sie diese Variante bevorzugen. 38 % hätten lieber eine neue, gesamtdeutsche Verfassung gehabt, 42 % zunächst einmal eine neue eigene DDR-Verfassung.

Konstruktive Debatte statt Vorurteile

Dieser Exkurs in die Wendegeschichte könnte Ansätze einer Erklärung liefern, warum die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Ostdeutschland so signifikant höher ist. Dabei sind in den Absätzen oben immer noch viele Dinge stark verkürzt. Wenn man wirklich eine Antwort auf die Frage „Warum wählen so viele Menschen in Ostdeutschland autoritäre Parteien?“ sucht (und nicht nur moralisieren möchte), dann könnte man hier anfangen zu graben.

Doch die Berichterstattung über Abnahme der Zufriedenheit mit der Demokratie lässt diesen komplexen Kontext quasi durchgängig außen vor. So werden tendenziell die immer selben Narrative bedient, die meist in Richtung einer vagen Schlussfolgerung von „die Ostdeutschen sind nunmal einfach irgendwie bisschen mehr rechts und bisschen weniger demokratisch“ tendieren. Konstruktiv ist das nicht.

2. Antisemiten sind eben nicht immer die anderen

Das Thema Antisemitismus wird in Deutschland seit dem 7. Oktober wieder verstärkt öffentlich diskutiert. Weg war der Antisemitismus nie, doch die Anzahl von Fällen antisemitischer Gewalt stieg zuletzt noch einmal an. Wir haben bereits mehrfach über die noch weiter wachsende Bedrohungslage berichtet.

In politischen Diskussionen wird Antisemitismus dabei gern als Vorwurf gegen die anderen gebracht. Über Antisemitismus in den eigenen Reihen redet dagegen kaum jemand gern. Wohlfeil kommen aus der rechten Ecke Vorwürfe gegen linke Studierende und migrantische Milieus während Antisemitismus der eigenen Helden (von Musk bis AfD) unter den Teppich gekehrt wird. Gleichzeitig wird von vielen Linken und Progressiven gern der Antisemitismus der Rechten, Rechtsextremen und Verschwörungsideolog:innen benannt, während wiederum antisemitische Gewalt durch autoritäre Linke sowie in muslimisch oder migrantisch geprägten Communities relativiert wird. Und die sogenannte Mitte der Gesellschaft zeigt am liebsten auf beide Ränder und bestätigt sich gern selbst darin, dass man ja mit einer Äquidistanz von links und rechts im sicheren Hafen sei.

Studie: Kein Millieu ist Antisemitismus-immun

Die Autoritarismus-Studie zeigt, dass alle höchstens teilweise Recht haben und grundsätzlich jedes politische Milieu zumindest Gefahr läuft, antisemitischen Ressentiments zu verfallen. Unterschiedlich sind auch hier vor allem wieder die Erscheinungsformen. Zunächst einmal muss jedoch festgehalten werden: Die Anhänger:innen der rechtsextremen AfD haben bei fast allen untersuchten Dimensionen des Antisemitismus die höchsten Zustimmungswerte. Der Antisemitismus in der extremen Rechten als größtes Problem kann und soll also nicht relativiert werden, indem auch auf andere problematischen Tendenzen hingewiesen wird.

Gleichzeitig müssen sich aber auch die demokratischen Parteien in den eigenen Reihen umschauen. Fast ein Drittel der CDU-Anhänger:innen stimmten laut Autoritarismus-Studie manifest2 Aussagen im Bereich “Schuldabwehrantisemitismus” zu, aber auch SPD, FDP und BSW haben hier jeweils deutlich über 20% Zustimmung und selbst bei den Linken (18,7%) und den Grünen (13,9%) finden sich erschreckend hohe Werte. Die Linkspartei hatte darüber hinaus den höchsten Wert bei “antisemitischem Antizionismus”, sogar noch vor AfD-Anhänger:innen. Fast 5% der SPD-Wähler:innen stimmen immer noch Aussagen im Zusammenhang mit tradierten Antisemitismus3 zu. Das ist der mit Abstand höchste Wert, AfD-Wähler:innen ausgenommen. (S. 146)

Autoritarismus-Studie widerlegt „einfache Wahrheiten“ zum THema Antisemitismus

Aussagen in den Medien wie „Zudem verbindet der Antisemitismus den Forschenden zufolge rechte und linke Milieus“ sind also insofern unvollständig, denn sie ignorieren oder relativieren, dass auch in der Mitte der Gesellschaft durchaus antisemitische Ressentiments existieren, auch wenn insgesamt für die meisten Erscheinungsformen des Antisemitismus gilt, dass sie Rechts außen am stärksten und links außen am zweitstärksten vertreten sind.

Eine Besonderheit stellt der Schuldabwehrantisemitismus (auch sekundärer Antisemitismus) dar. Diese Form des Antisemitismus basiert auf dem Ziel, die Aufarbeitung der NS-Zeit abzulehnen. Schuldabwehrantisemitismus ist laut Leipziger Autoritarismus-Studie in Linksaußen-Milieus am schwächsten vertreten und steigt linear an, je weiter man in der politischen Selbstverortung nach Rechts geht. Auch in der (selbstverorteten) politischen Mitte stimmt jede:r Vierte manifest Aussagen zu, die dem Schuldabwehrantisemitismus zuzuordnen sind. Auffällig ist außerdem, dass der nicht selten mit der politischen Linken assoziierte israelbezogene Antisemitismus tatsächlich Rechts außen weiter verbreitet ist. Auch postkolonialer Antisemitismus und antisemitischer Antizionismus sind demnach Rechts außen fast genauso weit verbreitet wie Links außen. (S. 147)

Tatsächlich zeigte die Studie auch, dass der Hang zum Antisemitismus gar nicht so sehr mit der Selbsteinschätzung als „Links“ oder „Rechts“ korreliert, sondern deutlich stärker mit anderen Faktoren. Darunter ist das sogenannte „Autoritäre Syndrom“, also den generellen Hang zum autoritären Denken, vor allem Verschwörungsmentalität, autoritärer Unterwürfigkeit und Konventionalismus. Aber auch andere Aspekte wie mangelnde Ambiguitätstoleranz, Antikapitalismus und, im abgeschwächten Maße, pessimistischer Blick auf die Wirtschaft und die Zukunft generell. (S. 151)

Diese dritte Erkenntnis ist vielleicht die überraschendste und gleichzeitig die am wenigsten diskutierte der Autoritarismus-Studie. Denn im medialen Diskurs wirkt es oft so, als wären enttäuschte, unentschlossene Wähler:innen eine rechte Zielgruppe, die man irgendwie mit „ernsthafterer“ (sprich: restriktiver) Migrationspolitik „zurückgewinnen“ müsste. Tatsächlich kommt die Autoritarismus-Studie aber zu Ergebnissen, die genau das Gegenteil nahelegen.

Zunächst einmal sprechen schon die rohen Fakten dagegen. Denn die Teilnehmer:innen der Studie sollten sich auf einer Skala von „Links außen“ bis „Rechts außen“ einordnen. Außerdem sollten sie auch angeben, welche Partei sie wählen. Es wurde aber auch, das ist der entscheidende Punkt, unter denjenigen weiter differenziert, die keine Parteipräferenz angaben. Diese wurden nämlich gefragt, ob sie

a) grundsätzlich nicht wählen,

b) sich unsicher sind, ob sie wählen oder

c) ob sie eigentlich definitiv wählen gehen wollen, aber nicht wissen, wen sie wählen.

Und unter dieser letzten Gruppe, den unentschlossenen Wähler:innen, zeigte sich ein interessantes Bild. Denn fast ein Drittel dieser Befragten ordnet sich „Links“ oder „Links außen“ ein, mehr als die Hälfte in der „Mitte“. Nur 14,8 % verorteten sich „Rechts“, niemand „Rechts außen“. Die Unentschlossenen, also diejenigen, die man „zurückgewinnen“ könnte, scheinen also schon einmal deutlich weniger rechts zu sein, als es oft diskutiert wird.

AfD hat vor allem in der rechtsextreme Szene erfolgreich mobilisiert

In der Studie wurde zu diesem Thema aber noch mehr nachgebohrt – wir können also noch tiefer einsteigen. Viele glauben ja, dass die AfD enttäuschte Wähler:innen der anderen Parteien gewonnen hat und man die jetzt irgendwie mit konservativer/rechter Politik zurückgewinnen müsste. Das stimmt aber laut der Autoritarismus-Studie nur teilweise. Tatsächlich ist es der Partei auch gelungen, bestehendes rechtsextremes Wählerpotential zu mobilisieren. Während zum Beispiel noch 2020 nur 55,7 % der Menschen mit geschlossen rechtsextremen Weltbild überhaupt zur Wahl gegangen sind, waren es 2022 und 2024 um die 72 %. Der Anteil für die AfD unter rechtsextremen Wähler:innen stieg von 32,1 auf rund 57 %. (S 56f.)

Und ja, natürlich gibt es auch einige Wähler:innen mit rechtsextremen Einstellungen, die bisher andere demokratische Parteien gewählt haben (v.a., aber nicht nur, die CDU) und „abgewandert“ sind. Diese wird man aber nicht mit einem eigenen Rechtsruck „zurückbekommen“. Denn sie wählen die AfD ja gerade deswegen, weil sie endlich ihre rechtsextremen Einstellungen bedient.

Stattdessen empfehlen die Autor:innen der Studie:

„Potenziell erfolgreicher kann dagegen die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Themen sein, bei denen die AfD ihren Wählern wenig bieten kann.“ (S. 55)

Das kommt im Diskurs allerdings zu selten vor. Die meisten demokratischen Parteien glauben weiterhin, dass sie einfach ein bisschen mehr nach rechts rücken müssten, um ihre Wähler:innen zurückzugewinnen. Und aufgrund dieser Fehleinschätzung entsteht ein zweiter Effekt: Die demokratischen Parteien lassen Potenziale liegen.

Kaum Autoritäre unter den Unentschlossenen Wählern

Die Studie hat nämlich nicht nur die Selbstverortung der Teilnehmenden erhoben, sondern auch die Haltung gegenüber verschiedenen autoritären Ressentiments analysiert. Das heißt: Wir haben auch Erkenntnisse darüber, wie weit verbreitet diese Ressentiments bei der spezifischen Gruppe der unentschlossenen Wähler:innen sind. Und das Ergebnis, auch hier: Diese Unentschlossenen, die ja grundsätzlich wirklich noch überzeugt werden können, haben fast durchweg sehr niedrige Zustimmungswerte zu den autoritären Ressentiments.

So liegt die manifeste Zustimmung zu antisemitischen und sozialdarwinistischen Aussagen sowie solchen, die den Nationalsozialismus verharmlosen, durchgängig bei unter einem Prozent. Manifest ausländerfeindlich sind in der Gruppe der Unentschlossenen nur 9,6%, weniger als bei allen anderen Parteien außer den Grünen. Auch die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur liegt mit 1,5 % manifester Zustimmung niedriger als bei Unterstützer:innen der CDU/CSU (2,7 %) oder der Linken (4 %). In allen Kategorien ist der Unterschied zur AfD jeweils von allen abgefragten Parteipräferenzen der mit Abstand größte. Übrigens lässt sich das auch auf die Gruppe der Nichtwähler:innen übertragen. Die jeweiligen Zustimmungswerte sind hier zwar durchweg höher, aber immer noch alle jeweils im Bereich der demokratischen Parteien, weit entfernt von den AfD-Unterstützer:innen. (S. 56)

Fazit

Also: Die AfD hat ihr rechtsextremes Potential größtenteils ausgereizt, die Unentschlossenen und Nichtwähler:innen sind deutlich weniger empfänglich für autoritäre Ressentiments. Und sogar die Autor:innen der Studie schlagen vor, den Fokus eher weg vom AfD-Thema Migration und hin zu anderen Themen, „bei denen die AfD ihren Wählern wenig bieten kann“ zu legen. Wenn die demokratischen Parteien es ernst meinen mit dem Vielbeschworenen „Zurückgewinnen“ von Enttäuschten und „Überzeugen“ von Unentschlossenen, müssten sie also eine deutlich progressivere Politik anbieten. Warum das nur zögerlich passiert, können wir auch nicht abschließend erklären.

Auf jeden Fall hat es etwas damit zu tun, dass die Parteispitzen sich offenbar weiterhin diese nun auch von der Autoritarismus-Studie widerlegte Mär einreden, die enttäuschten Menschen seien alle irgendwie „rechts“ oder „überfordert mit der Migration“. Diesem Trugschluss folgend versuchen sie, sich gerade beim Thema Migration immer wieder in Restriktionen zu überbieten. Dass das kaum einen positiven Einfluss auf ihre Beliebtheitswerte hatte, ignorierten die Parteispitzen monatelang. Und auch viele Medien, da können wir die Öffentlich-Rechtlichen nicht ausnehmen, tragen zumindest ihren Teil dazu bei, dass dieser Eindruck sich verfestigt.

Dabei gibt es schon länger wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, dass es vor allem gute Sozialpolitik ist, die populistische Wahlerfolge eindämmt. Tatsächlich waren es außerdem die massenhaften demokratischen Proteste Anfang des Jahres, die es überhaupt mal geschafft haben, den Aufstieg der AfD zu stoppen und sogar umzukehren. Umso erschreckender ist es, dass die demokratischen Parteien weiterhin nicht die Sorgen der Menschen beachten, sondern wieder ängstlich auf das Thema Migration starren. Man kann nur hoffen, dass über Weihnachten vielleicht die eine Politikerin oder der andere Wahlkämpfer noch mal genauer in die Leipziger Autoritarismus-Studie reinliest.

Artikelbild: Heiko Rebsch/dpa


  1. Manifeste Zustimmung = Anteil derer, die angeben, dass sie einer jeweiligen Aussage „überwiegend“ oder „voll und ganz“ zustimmen. Die Autor:innen der Autoritarismus-Studie gehen darüber hinaus davon aus, dass auch „stimme teils zu, teils nicht zu“ als Antwort auf eine rechtsextreme Aussage, also die Mittelkategorie der Antworten, zumindest potenziell Anschlusspunkte für Rechtsextremismus offenbart; diese Mittelkategorie wird als „latente Zustimmung“ gewertet. ↩︎
  2. Siehe Fußnote 1 ↩︎
  3. Tradierter Antisemitismus = die offene Markierung von Jüdinnen und Juden als „andersartig“. ↩︎

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