Von Dagmar Henn
Es ist über vierzig Jahre her, dass Südkorea weltweite Schlagzeilen machte: Der Aufstand von Gwangju 1980, den das Militär blutig niederschlug, läutete das Ende von Jahrzehnten mehr oder weniger offener Militärdiktatur ein. Der (bisher gescheiterte) Versuch des derzeitigen südkoreanischen Präsidenten Yoon Seok-yeol, das erste Mal seit dem Sieg der Demokratiebewegung wenige Jahre später das Kriegsrecht zu verhängen, weckt also in Südkorea starke Emotionen.
Auch in der Erklärung, mit der er die Verhängung des Kriegsrechts verkündete, waren historische Referenzen zu finden. "Um ein liberales Südkorea vor den Bedrohungen durch Nordkoreas kommunistische Truppen zu schützen , rufe ich hiermit das Kriegsrecht aus", sagte er in seiner Fernsehansprache und erklärte, die Opposition versuche, die Regierung mit staatsgefährdenden Aktivitäten zu lähmen ‒ wohinter selbstverständlich nordkoreanische Unterwanderung stecke.
Töne, die ebenfalls sehr an die vergangenen Militärdiktaturen erinnern, denen gegenüber Yoon erklärte Sympathien hegt. Wobei der an der Oberfläche erkennbare Grund schlicht in der Tatsache liegt, dass ihm seit der letzten Parlamentswahl eine Nationalversammlung gegenübersteht, in der die Opposition fast über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, und dass Yoon in mehreren Bereichen eine Politik verfolgt, beispielsweise mit der Absicht, den gesamten öffentlichen Personenverkehr zu privatisieren, die auf heftigen Widerstand der südkoreanischen Gewerkschaften stößt.
Seine Umfragewerte sind miserabel und lagen zuletzt bei einer Zustimmung von ganzen 17 Prozent ‒ ein selbst für derzeitige westliche Staatschefs beeindruckend niedriger Wert. Die Frau des ehemaligen Generalstaatsanwalts ist in diverse Korruptionsskandale verwickelt, während Yoon selbst seine Gegner gern mit Klagen überzieht. Allerdings ‒ selbst eine weniger kontroverse Gestalt hätte an seiner Stelle Schwierigkeiten gehabt, politische Pläne durchzusetzen, weil diese Konstellation zwischen Präsident und Parlament einfach für Chaos bürgt.
Dahinter stecken jedoch noch ganz andere Probleme. Probleme, die an manchen Punkten sehr an die deutschen erinnern, auch wenn die Vorgeschichte eine andere ist: Korea wurde 1910 von Japan annektiert. In den folgenden Jahrzehnten wurden Millionen Koreaner als Zwangsarbeiter in die ebenfalls von Japan besetzte Mandschurei deportiert, und mehrere hunderttausend Frauen als Prostituierte nach Japan. Am Ende des Zweiten Weltkriegs schickten die USA (die auch schon Anfang des 20. Jahrhunderts die Finger nach Korea ausgestreckt hatten) Truppen nach Korea, um eine Einnahme durch die Rote Armee zu verhindern. Schließlich wurde das Land aufgeteilt ‒ ursprünglich sollte aber nach wenigen Jahren die Besatzung beendet und eine gesamtkoreanische Regierung geschaffen werden.
Insgesamt gab es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs drei Länder, die sowohl von sowjetischen als auch von US-amerikanischen Truppen besetzt waren: Deutschland, Österreich und Korea. Nur in einem davon, in Österreich, ließen es die USA zu, dass die Besatzung endete und die Besatzungszonen wieder vereint wurden. Deutschland und Korea wurden durch eine harte Grenze geteilt, die jederzeit zur Kriegsfront werden konnte. In Korea hält dieser Zustand bis heute an.
In Südkorea sind nach wie vor über 24.000 US-Soldaten stationiert. Gleichzeitig befindet sich dort das regionale Kommando für die Pazifik-Region. Es gibt einen militärischen Beistandspakt zwischen den USA und Südkorea, und die US-Armee kann jederzeit das Kommando über die südkoreanische Armee übernehmen. Jeder Militärputsch in der südkoreanischen Geschichte geschah mit dem Segen der USA. Deshalb war der Kampf um Demokratie in Südkorea auch immer ein Kampf gegen den Einfluss der Vereinigten Staaten.
Der Koreakrieg von 1950 bis 1953 wurde seitens der Vereinigten Staaten mit extremer Brutalität geführt. Es war einer der wenigen Fälle, in denen es den USA gelang, sogar ein UN-Mandat zu erhalten ‒ weil die Sowjetunion in diesen Jahren den UN-Sicherheitsrat boykottierte. Nach geschätzt vier Millionen Toten, auch durch den Abwurf von etwa 450.000 Tonnen Sprengstoff in Form von Bomben durch die USA, endete er in einem Waffenstillstand und einer dauerhaften Teilung entlang des 38. Breitengrades. In Südkorea kam es allerdings auch nach Ende des Krieges immer wieder zu Massakern an vermeintlichen Kommunisten ‒ Gwangju war also kein Einzelfall.
Mit der Demokratisierung Ende der 1980er wurde auch der Wunsch nach einer Wiedervereinigung politisch wieder sichtbar, und das Verhältnis zur DVRK ist ein zentraler Punkt aller politischen Auseinandersetzungen. Yoons Vorgänger Moon Jae-in beispielsweise hatte sich bemüht, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu normalisieren. Yoon hingegen nahm auch an diesem Punkt die Haltung der früheren Militärdiktatoren wieder auf. Gleichzeitig verfolgte er eine ‒ aufgrund der Geschichte sehr problematische ‒ Politik der Annäherung an Japan.
Diese Annäherung an Japan ist ein Teil der US-amerikanischen Strategie, einen pazifischen Militärblock gegen China zu bilden. Es überrascht nicht, dass Yoon in Washington sehr beliebt ist: Im Internet kursieren Videos, wie er im Weißen Haus ein Ständchen vorträgt. Die unklare Kommunikation des Weißen Hauses in den ersten Stunden nach seiner Verhängung des Kriegsrechts dürfte damit zu tun haben. Der Auftritt des Sprechers des State Department, Vedant Patel, in der Pressekonferenz vom 3. Dezember war eine lange Reihe von Versuchen, einer direkten Stellungnahme auszuweichen. Wobei die Tatsache, dass die öffentlichen Aussagen Verwirrung andeuteten, nicht ausschließt, dass einzelne Personen, wie US-Außenminister Antony Blinken oder US-Präsident Joe Biden selbst, doch zuvor informiert worden waren.
Unter der politischen Ebene liegt jedoch noch eine ökonomische. Auch hier gibt es wieder starke Parallelen zu Deutschland: Die südkoreanische Wirtschaft ist extrem exportorientiert, und wie bei der deutschen beruht der Erfolg der Exportindustrie auch auf einer Reduzierung des Lebensstandards der einheimischen Bevölkerung. Die Geburtenrate in Südkorea ist mit 0,7 Kindern pro Frau die drittniedrigste der Welt. Die extrem hohen Immobilienpreise dürften mit dazu beigetragen haben, nicht nur, weil sie es erzwingen, dass beide Partner arbeiten, sondern weil der Raum, um Kinder großzuziehen, kaum finanzierbar ist.
Südkorea hat nach wie vor eine große Armee: Das Land mit etwas über 51 Millionen Einwohnern hat 500.000 Soldaten. Dabei handelt es sich um eine Wehrpflichtarmee, mit einem Wehrdienst der Männer von 18 bis 21 Monaten. Yoon hatte die Wahl mit einem antifeministischen Wahlkampf gewonnen. Einer der Hintergründe für den Erfolg dieses Ansatzes war, dass junge Männer die Zeit ihres Wehrdienstes als Benachteiligung in der Karriere gegenüber den Frauen betrachten.
Die Export-Import-Daten Südkoreas zeigen, wo die Frage geopolitischer Orientierung und die ökonomische Struktur kollidieren. 2022 waren Mikrochips das Hauptexportprodukt mit 17,2 Prozent der Exporte, gefolgt von raffinierten Erdölprodukten mit 8,71 Prozent und Autos mit 7,39 Prozent. Der größte Abnehmer war China mit 21,2 Prozent, gefolgt von den Vereinigten Staaten mit 15,9 Prozent und Vietnam mit 8,61 Prozent. Bei den Importen nach Südkorea führte Rohöl mit 13,4 Prozent vor Mikrochips mit 8,47 Prozent und Erdölgas mit 7,03 Prozent. Hauptlieferanten waren China mit 22,6 Prozent, die USA mit 11 Prozent und Japan mit 7,63 Prozent.
Bei den aktuellen Zahlen hat sich das Verhältnis verschoben. Im September 2024 exportierte Südkorea nach China im Wert von 11,4 Milliarden US-Dollar, in die USA im Wert von 10,4 Milliarden US-Dollar und nach Vietnam im Wert von 4,99 Milliarden US-Dollar. Die USA liegen also knapp hinter China. Der Grund dafür ist jedoch nicht, dass die Exporte in die USA so stark zugenommen hätten, sondern dass Südkorea infolge der von den USA geforderten Einschränkungen im Handel mit China Exporte dorthin verloren hat ‒ eine für die südkoreanische Halbleiterindustrie sehr ungünstige Entwicklung.
Allein die Liste der wichtigsten Handelspartner verrät bereits, dass das wirtschaftliche Eigeninteresse Südkoreas in einer stärkeren Integration innerhalb Südostasiens läge, insbesondere mit China. Die politische Nähe des gegenwärtigen Präsidenten sorgt hingegen dafür, dass stattdessen dem Interesse der Vereinigten Staaten gefolgt wird. Gleichzeitig wird auch Südkorea als Energieimporteur von den gestiegenen Energiepreisen getroffen, was vor allem die Schwerindustrie (Schiffbau) und den Fahrzeug- und Maschinenbau trifft. Mit einem Anteil der Industrie an der Wertschöpfung von etwa einem Drittel gehört es, wie Deutschland, zu den wenigen westlichen Staaten, die nach wie vor eine nennenswerte Industrie besitzen.
Wie Deutschland muss auch Südkorea fürchten, durch die Politik einer künftigen Regierung Trump wirtschaftlich noch weiter in die Enge getrieben zu werden, aufgrund der Einführung weiterer Handelsbeschränkungen gegenüber China auf der einen Seite und Schutzzöllen gegen seine Waren durch die USA auf der anderen Seite. Es gibt genau einen Sektor der südkoreanischen Industrie, der von der aktuellen geopolitischen Lage profitiert: die Rüstungsindustrie. Die Rüstungsexporte erreichten im laufenden Jahr bereits eine Höhe von 20 Milliarden US-Dollar, verglichen mit 7,3 Milliarden noch im Jahr 2021. Allerdings zeigt ein Vergleich mit den Exportwerten anderer Güter allein im September bereits deutlich, dass dies die Verluste in anderen Bereichen nicht ansatzweise kompensiert.
Die Staatsverschuldung liegt im Vergleich zu den meisten anderen westlichen Ländern mit aktuell 51,5 Prozent des BIP vergleichsweise niedrig, ist jedoch seit 2017, als sie noch bei 36,3 Prozent lag, deutlich gestiegen. Die Militärausgaben lagen 2022 bei 2,72 Prozent des BIP.
Zurück zu den Handelsverbindungen. Es existieren Planungen für eine Hochgeschwindigkeitstrasse von Seoul über Pjöngjang bis Peking. Die ersten Anzeichen dafür gab es bereits beim Staatsbesuch von Kim Jong-un in China im Jahr 2018. Aufmerksame Beobachter konnten dem Bericht des Fernsehens der DVRK entnehmen, dass, kaum dass Kims Zug die Grenze nach China überschritten hatte, der Chef der chinesischen Eisenbahnen zustieg. Im Zusammenhang mit den anderen Infrastrukturplänen Chinas wäre eine solche Strecke nur logisch und hätte auch für Südkorea den Vorteil, vor maritimen Erpressungsversuchen der USA sicher zu sein. Allerdings gäbe es dafür zwei politische Voraussetzungen: ein mindestens entspanntes Verhältnis zur anderen Landeshälfte und Souveränität.
Diese Mischung aus wirtschaftlichen Bedürfnissen und geopolitischen Abhängigkeiten dürfte uns Deutschen sehr vertraut vorkommen. Während sie in Deutschland jedoch zu einer völligen, strukturellen Lähmung führt, ist diese in Südkorea oberflächlich, weil die Opposition eher aus der Sackgasse herausfinden könnte ‒ dafür zeigte sich mit dem Putschversuch des Präsidenten, dass eine eruptive Entwicklung jederzeit möglich ist. Ein Kompromiss zwischen den US-Interessen und den eigenen Interessen Südkoreas ist kaum denkbar. Aber ein Entkommen aus der Bindung an die USA würde voraussetzen, dass auch das südkoreanische Militär diesen Schritt stützt und nicht mit einem weiteren Militärputsch reagiert.
Selbst wenn sich die politische Lage durch einen Rücktritt des Präsidenten beruhigen sollte (was eher unwahrscheinlich ist, nachdem der Verteidigungsminister schon den Sündenbock gab und zurücktrat), die Grundkonstellation ändert sich dadurch nicht. Weitere Auseinandersetzungen werden folgen.
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