Wenige Tage vor den Explosionen, die die beiden russisch-deutschen, auf dem Boden der Ostsee verlegten Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 zerstörten, waren Kriegsschiffe der US-Marine unmittelbar vor Ort. Dabei hatten sie ihre Transponder abgeschaltet – und als der Hafenmeister von Christiansø zu ihnen ausfuhr, weil er darauf aufmerksam wurde und von Havarien ausgehen musste, forderte die US-Marine ihn zur sofortigen Umkehr auf.
Dies schreibt die Zeitung Politiken, eines der wichtigsten Blätter Dänemarks.
Christiansø ist eine Insel im gleichnamigen Archipel, der auch Ertholmen genannt wird, ist der östlichste Punkt Dänemarks und liegt unweit der Insel Bornholm, an der beide Nord-Stream-Stränge verlaufen. Auf die Aussage des dortigen Hafenmeisters John Anker Nielsen verweist Politiken wie folgt:
"Vier oder fünf Tage vor den Nord-Stream-Explosionen war er mit dem Rettungsdienst von Christiansø unterwegs, weil dort einige Schiffe mit abgeschaltetem Funk standen. Es stellte sich heraus, dass es Schiffe der US-Marine waren. Und als der Rettungsdienst sich ihnen näherte, wurde er vom Marinekommando aufgefordert, umzukehren."
Bekannt ist, dass die Explosionen sich drei Monate nach dem Ende der NATO-Marineübung BALTOPS 22 ereigneten, an denen unter anderem ein Schiffsverband um die USS Kearsarge, ein amphibisches Angriffsschiff der US-Marine, beteiligt war.
Wie alle Schiffe der Wasp-Klasse besitzt die Kearsarge ein Welldeck, das theoretisch zum Abfeuern von Torpedos, vor allem jedoch zum Start und zur Aufnahme von Landungs- und Luftkissenbooten, aber auch Unterwasserdrohnen dient.
Gerade Tests unbemannter Unterwasservehikel (UUV) waren aber einer der erklärten Zwecke der Marineübung gerade für die US-Kriegsmarine. Neben derartigen Fahrzeugen zur Seeminenaufklärung und -räumung, die erklärtermaßen bei BALTOPS 22 erprobt wurden, verfügen NATO-Staaten auch über solche Unterwasserdrohnen, die selbst entweder leicht zum Tragen von Seeminen oder ähnlich schweren Sprengsätzen umgerüstet werden können oder von vornherein dafür ausgelegt sind.
Zur Zerstörung der gut geschützten Nord-Stream-Pipelines ausreichend große Sprengsätze könnten von Modellen wie dem D19 des französischen Herstellers Naval Group getragen werden, dem LDUUV Snakehead, das vom Naval Undersea Warfare Center der US-Marine entwickelt wurde (das NUWC war an BALTOPS22 beteiligt), sowie nicht zuletzt dem von Boeing entwickelten XLUUV Orca, das als autonomes beziehungsweise ferngesteuertes dieselelektrisches U-Boot von Abmessungen und Gewicht her dennoch gut ins Welldeck der Kearsarge passt, explizit zum Tragen von Seeminen ausgelegt ist und ausgerechnet im Sommer 2022 Erprobungen unterzogen werden sollte. Auch in Norwegen wird seit geraumer Zeit in diesem Bereich gearbeitet – der Hersteller Kongsegg hat mehrere entsprechende Gewichtsklasse anzubieten.
Auch einen Einsatz von Kampf- und Sprengtauchern in einem Maßstab, wie es für die Sprengung der stahlbetonbewehrten, in den Meeresgrund vergrabenen Erdgasrohre erforderlich wäre, kann die Kearsarge sehr leicht unterstützen. Denn auf ihr und den von ihr tragbaren Booten finden die vielen dafür nötigen Geräte und das viele Personal locker Platz.
Eine derartige Hergangsversion legte der US-Investigativjournalist Seymour Hersh im Frühjahr 2023 vor. Ihm zufolge wurden Sprengsätze, die die US-Marine im Sommer 2022 während BALTOPS 22 gelegt hatte, dann im Herbst desselben Jahres von den norwegischen Streitkräften ferngezündet.
Zurück zum Hafenmeister von Christiansø: In der Tat wurde er im Rahmen der Ermittlungen Dänemarks zur Nord-Stream-Sabotage persönlich von der dänischen Polizei befragt. Diese sei im Januar 2023 in Christiansø aufgeschlagen und habe gefragt, ob Bilder von Ausflugsjachten einer bestimmten Marke vorliegen, schreibt Politiken. Es scheint den Beamten um die Jacht Andromeda der Marke Bavaria gegangen zu sein, von der aus laut der im Westen präferierten Version eine kleine Rotte ukrainischer Hobbytaucher die Sabotage begangen haben soll.
Doch wie auch Hersh hält Nielsen diese Arbeitshypothese für wenig glaubwürdig. Politiken hierzu:
"Seit sieben Generationen lebt die Familie des Hafenmeisters auf Christiansø und weiß alles über die Wetter- und Windverhältnisse in der Ostsee. Aus diesem Grund würdigt er die Theorie von einer Jacht und einem Häufchen Ukrainer, die bis zu 80 Meter tief getaucht sein sollen, keiner besonderen Beachtung."
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