Das Gesetz gegen digitale Gewalt ist schwach gestartet und im Rohr krepiert. Kurz vor Ende der Legislaturperiode hat das Justizministerium das nur fast fertige Papier eines Entwurfs veröffentlicht. Ein Nachruf.
Früher in der Schule, zum Ende einer Klassenarbeit, haben die Lehrer*innen gesagt: „Soo, die Zeit ist um. Es ist nicht schlimm, wenn ihr nicht fertig geworden seid. Schreibt noch den Satz zu Ende und gebt dann ab.“
Genau das ist nun auch mit dem Gesetz über digitale Gewalt passiert. Die Zeit der Ampelkoalition ist um. Das Bundesjustizministerium ist mit dem Gesetzentwurf nicht fertig geworden. Der letzte Stand des Vorhabens wurde nun für die Nachwelt veröffentlicht. Das Papier markiert das leise Ende eines einst ambitionierten Vorhabens. Die künftige Regierung kann sich davon inspirieren lassen, oder die Rückseite als Schmierpapier verwenden.
Was sind meine Augenbrauen damals erfreut gehüpft, als ich vor drei Jahren im Koalitionsvertrag der Ampel las:
Mit einem Gesetz gegen digitale Gewalt werden wir rechtliche Hürden für Betroffene, wie Lücken bei Auskunftsrechten, abbauen und umfassende Beratungsangebote aufsetzen.
Das klang vielversprechend. Umfassende Beratung? Genau, was den Betroffenen fehlt. Rechtliche Hürden? Gerade bei bildbasierter Gewalt ein Riesenthema, ebenso bei Überwachung durch (Ex-)Partner*innen per Spyware. Darüber berichten wir seit Jahren.
Ein fader Geschmack auf der Zunge kam auf, als das Justizministerium im April 2023 erstmals Eckpunkte vorlegte. Darin war keine Rede mehr von Beratungsangeboten, das wäre ja auch teuer geworden. Der Abbau rechtlicher Hürden kreiste um Auskunftsansprüche für Betroffene. Das heißt, Betroffene sollten vor Gericht erwirken können, dass Online-Anbieter etwa IP-Adressen von Verdächtigen herausrücken. Mit sogenannten Accountsperren lag noch ein höchstens semi-nützliches Werkzeug für Betroffene mit im Korb.
Was war nochmal digitale Gewalt?
Die größte Kritik an den Eckpunkten war jedoch: Da stand „digitale Gewalt“ drauf, aber da steckte kaum „digitale Gewalt“ drin. Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für mehrere Formen zwischenmenschlicher Gewalt, die Frauen und andere marginalisierte Gruppen der Gesellschaft besonders treffen. Dazu gehören Stalking, Doxing, Belästigungen, Bedrohungen, Ortung und Überwachung, Veröffentlichung intimer Fotos oder Videos, auch per Deepfake.
Bloß, im Eckpunktepapier selbst war keine Spur mehr von der Geschlechterdimension des Phänomens. Viele Formen digitaler Gewalt waren schlicht nicht abgebildet. Stattdessen sprach aus den Eckpunkten eine große Unschärfe. Die geplanten Auskunftsansprüche bezogen sich sogar auf Urheberrechtsverletzungen und Inhalte von Messengern. Als ein das Thema völlig verfehlendes Beispiel nannte das Justizministerium selbst eine unwahre Restaurantkritik. Seit wann sind Beschwerden über angeblich labberige Pizzen bitte digitale Gewalt? Was für ein Facepalm-Moment.
Das Feedback von Fachleuten und Zivilgesellschaft war entsprechend umfassend. In der Folge geschah lange nichts, bis Anfang Dezember die Ampelkoalition zerbrach. Und dann war klar: Das wird wohl nichts mehr mit dem Gesetz gegen digitale Gewalt, wie mit vielen anderen Ampel-Vorhaben auch. Was sich dennoch seit dem Eckpunktepapier am Vorhaben geändert hat, lässt sich nun einem 40-seitigen PDF nachlesen.
Spontan das Thema gewechelt
Schon die verschiedenen Titel zeigen, dass hier wenig ausgegoren ist. Ist es nun ein Gesetzentwurf oder doch nur ein Diskussionsentwurf? Ist es ein Gesetz „gegen digitale Gewalt“ oder ein „Gesetz zur Stärkung der privaten Rechtsverfolgung im Internet“? Im Zweifel von allem ein bisschen, man ist eben nicht fertig geworden.
Die halbgare Umbenennung – weg vom Begriff „digitale Gewalt“ – dürfte eine Reaktion auf die Kritik sein, dass das Gesetz sich nicht wirklich mit digitaler Gewalt befasse. Der neue Name, „Stärkung der privaten Rechtsverfolgung“, ist zwar folgerichtig, aber zugleich eine Enttäuschung. Denn vorgenommen hatte man sich eigentlich etwas anderes.
Als wäre die Aufgabe der Klassenarbeit eine Gedichtanalyse gewesen, aber man hat stattdessen – vielleicht mit ein paar eingestreuten Reimen – den Schwänzeltanz der Bienen erklärt.
Die Papiere aus dem Justizministerium sind nicht mehr das, was meine Augenbrauen hüpfen ließ, als ich 2021 den Koalitionsvertrag las. Sie sind nicht das, worauf zahlreiche Betroffene, vor allem Frauen, seit Langem hoffen.
Kein Interesse, Teilpunkte zu vergeben
Allzu sehr wie eine Baustelle wirkt auch die Begrenzung des Gesetzes auf eine konkrete Reihe von Tatbeständen. Aus den Begründungen geht hervor: Hier sollte das Phänomen digitale Gewalt modelliert werden – mit dem, was unter anderem das Strafrecht hergibt. Auch das Urheberrecht ist weiterhin dabei. Das Ergebnis lässt sich schwerlich als gelungen beschreiben.
Konkret gehören zur Liste etwa „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ (also auch entsprechende rechtsextreme Hetze?), „Verbreitung pornographischer Inhalte“ (also auch Pornoseiten ohne Ausweiskontrollen?) sowie „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte“ (also auch Pädokriminalität?). Kurzum: Sowohl der neue Entwurf als auch die alten Eckpunkte haben ein Problem mit dem Fokus. Worum soll es hier bitte gehen?
Früher in der Schule haben sich Lehrer*innen auch unfertige Klassenarbeiten vorgenommen. Sie haben sich mit viel Geduld und Wohlwollen angeschaut, wofür es immerhin ein paar Teilpunkte geben könnte. Die Gedichtanalyse analysiert gar kein Gedicht, beinhaltet aber immerhin ein paar saubere Paarreime? Halber Punkt!
Aber das Diskussionspapier aus dem Justizministerium ist keine Klassenarbeit. Ich wünsche mir keine Teilpunkte nach dem Motto: „Das BMJ hat sich sehr bemüht“. Ich wünsche mir ein rundum durchdachtes und gutes Gesetz gegen digitale Gewalt.
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.
Meist kommentiert