Frankreichs neokoloniales Imperium zeigt Risse

Von Jewgeni Balakin

Die Zeit der Kolonialreiche ist vorbei, aber Paris glaubt, dass die Zeit keine Macht über Frankreich hat. In diesem Augenblick unterdrücken die französischen Streitkräfte Proteste in Neukaledonien (einer Inselgruppe in Ozeanien). Findet vor unseren Augen eine Invasion in einem fernen Land am anderen Ende der Welt statt?

In der Tat kann eine solche Meinung entstehen. Rechtlich gesehen ist der Fall jedoch komplizierter: Neukaledonien ist eines der "Überseegebiete" Frankreichs und steht unter dessen Verwaltung. Außerdem sind die Besitztümer dieser europäischen Macht außerhalb des Kontinents nicht auf einen einzigen Punkt auf der Landkarte beschränkt, sondern umfassen dreizehn "Überseegebiete" mit unterschiedlichem Rechtsstatus, von denen Neukaledonien das unabhängigste ist. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Neukaledonien gegen Paris auflehnt und versucht, unabhängig zu werden.

Es sei daran erinnert, dass Frankreich Neukaledonien im Jahr 1853 zu seinem Besitz erklärte und seither seine Vorherrschaft auf den Inseln ziemlich rigide aufrechterhielt. Unter dem Druck der antikolonialen Prozesse, die durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs ausgelöst wurden, erhielt die Inselgruppe 1946 den Status eines "Überseegebiets", was sich jedoch als reines Wortspiel erwies. In den 1980er-Jahren bildete sich eine Unabhängigkeitsbewegung, und als Ergebnis einer langen Auseinandersetzung (die sogar die Form eines bewaffneten Konflikts annahm) wurde 1998 das Abkommen von Nouméa geschlossen, das die Autonomie der Gebiete ausweitet und eine zwanzigjährige Übergangszeit vorsieht, gefolgt von einem Referendum im Jahr 2018. Für den Fall, dass die Abspaltung abgelehnt wird, war die Möglichkeit von zwei weiteren Volksabstimmungen bis 2022 vorgesehen.

Zugegebenermaßen wurden alle drei von der französischen Regierung versprochenen Volksabstimmungen durchgeführt. Allerdings haben die Behörden des Mutterlandes immer wieder zu Täuschungsmanövern gegriffen, um die ehemalige Kolonie unter ihrer Verwaltung zu halten. So wurde unter anderem allen Einwohnern Neukaledoniens, die bereits vor 1994 dort lebten, das Stimmrecht eingeräumt und nicht nur den Kanaken, die seit jeher das Land bewohnten. Und da Frankreich die Quote der einheimischen Bevölkerung seit dem 19. Jahrhundert gezielt durch die Ansiedlung von Migranten (insbesondere von 1864 bis 1896 durch die Übersiedlung von Kriminellen auf das Archipel) verringert hat, ist es Paris bisher gelungen, eine formale Mehrheit gegen eine Abspaltung zu erreichen, wenn auch nur mit minimalem Vorsprung. In diesem Zusammenhang würde die Verfassungsreform, die die französischen Behörden seit dem 13. Mai 2024 in Erwägung ziehen, um die Rechte der Migranten in Neukaledonien zu erweitern, jeden Versuch der einheimischen Bevölkerung, auf friedlichem Wege die Unabhängigkeit zu erlangen, zunichtemachen, was der Grund für die aktuellen Proteste ist.

Die einheimische Bevölkerung Neukaledoniens ist jedoch nicht die einzige, die von den (neo-)kolonialen Praktiken Frankreichs betroffen ist. Die französischen Behörden nutzen die Migration als Mittel, um ihren Willen durchzusetzen, und halten Korsika weiterhin unter ihrer Kontrolle. Im Fall von Neukaledonien fürchten die Franzosen, die Kontrolle über die zweitgrößten Nickelreserven der Welt zu verlieren, die etwa elf Prozent der Gesamtreserven ausmachen; im Fall von Korsika über einen Vorposten im Mittelmeer. Zu diesem Zweck haben sie lange und hartnäckig versucht, die Völker dieser Inseln durch eine "Masse von Arbeitern" zu ersetzen, was, wie der britische Soziologe Michael Mann treffend formuliert, nicht nur eine Perversion der Demokratie ist (die die französischen Gesetzgeber nun theatralisch beschwören), sondern auch eine Form von Völkermord.

Das Arsenal der französischen Behörden zum Machterhalt in den ehemaligen Kolonien umfasst nicht nur "sanften Völkermord", sondern ebenso perverse Formen der Unterwerfung. Um die Kontrolle über afrikanische Länder aufrechtzuerhalten, zwangen sie deren Regierungen im Jahr 1945 den sogenannten CFA-Franc auf. Obwohl das Akronym CFA im Laufe der Zeit eine recht neutrale Bedeutung erhielt, spiegelte seine ursprüngliche Bedeutung (colonies françaises d’Afrique – Kolonien Frankreichs in Afrika) die wahren Absichten von Paris wider. Durch die Kontrolle des Wechselkurses der Währungen formal unabhängiger Länder mithilfe des CFA (was wohlgemerkt den UN-Grundsätzen widerspricht), entzieht Frankreich ihnen nicht nur jährlich etwa eine Billion US-Dollar, sondern verschafft sich auch leichten Zugang zu Ressourcen. Es versteht sich von selbst, was aus der Wirtschaft des ehemaligen Mutterlandes ohne afrikanisches Uran und Gold werden würde.

Koloniale Gewohnheiten sind schwer zu überwinden. Da die französischen Behörden vierzehn afrikanische Länder mit dem CFA-Franc kontrollieren, kümmert es sie kaum, dass elf von ihnen zu den weltweit am wenigsten entwickelten Ländern gehören. Doch es gibt für Paris genug Grund zur Sorge: Seit der Erfindung des CFA haben bereits acht Länder diese "stabile Währung" aufgegeben. Außerdem könnten Niger, Burkina Faso und Mali diesem Beispiel bald folgen. Angesichts der raschen Verringerung der militärischen Präsenz Frankreichs auf dem Kontinent und einer Reihe von antifranzösischen Rebellionen ist es unwahrscheinlich, dass das ehemalige Mutterland in der Lage sein wird, seinen "guten Willen" durchzusetzen und diese Prozesse aufzuhalten.

Die Vergangenheit Frankreichs ist geprägt von schillernder Größe, aber seine Zukunft könnte düster ausfallen. In fast allen Teilen der Welt gibt es Fragmente des französischen Kolonialreichs, allerdings gibt es immer weniger Macht, um sie zu halten. Paris will zu den führenden Mächten in der Ukraine-Krise gehören, setzt seine eigenen Interessen in Armenien, Moldawien und Kasachstan durch, hat aber Schwierigkeiten, mit den Protesten in Neukaledonien fertig zu werden, das es rechtlich als sein Territorium betrachtet. Und die Migration, die Paris als Waffe in seiner Außenpolitik einsetzt, bereitet ihm im eigenen Land bereits große Probleme.

Wenn Frankreich seine Besitztümer außerhalb des Kontinents verlieren sollte, wird es zu einer der gewöhnlichen Mächte der europäischen Halbinsel, deren geopolitisches Gewicht in den kommenden Jahrzehnten nur noch abnehmen wird. Das ehemalige Imperium hat seinen Untertanen einfach nichts mehr zu bieten: weder Soft Power, noch eine starke Hand, noch die Illusion eines gesättigten Wohlstandes. Die Zeit der (neo-)kolonialen Imperien ist vorbei, ganz gleich, wie sehr sich die Pariser Behörden vom Gegenteil zu überzeugen versuchen.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 21. Mai 2024.

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