Ansteckende Armut

Die Bürgergeldbehörde zwingt die Partner von Betroffenen, finanziell für diese einzustehen und greift so massiv in Paarbeziehungen ein. Wie tief ist deine Liebe? Vielleicht reicht sie aus, um dir ein Zusammenleben mit der geliebten Person vorstellen zu können. Aber was ist, wenn man als Preis für die Partnerschaft quasi ins Bürgergeld-System einheiraten und alle Erniedrigungen und Schikanen der Behörde mit dem Partner teilen muss, obwohl man selbst genug verdient? Die Behörden nämlich versuchen nicht nur Erwerbslose, sondern auch deren Mitbewohner komplett ihrem rigiden Reglement zu unterwerfen. Die Folge ist, dass nicht wenige Partnerschaften unter diesen besonderen Bedingungen zerbrechen. Bürgergeldempfänger müssen nicht nur unter finanziell klammen Bedingungen überleben, auch auf dem „Beziehungsmarkt“ sind ihre Chancen gering. Die Liebe orientiert sich im Zweifelsfall doch oft dorthin, wo mehr Geld ist. Diese wahre Geschichte erzählt von (nicht nur) einem, der das Fürchten lernen sollte, damit er sich auszieht. Sie ist älteren Datums und verwendet daher noch den Begriff „Hartz IV“ — das Grundprinzip ist jedoch gleich geblieben. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“. Volker Freystedt

 

Wenn eine HIV-positive Person einen neuen Partner kennenlernt, raten Aids-Beratungsstellen zu einer möglichst baldigen Offenlegung. Denn bei einem verantwortungsvollen geschützten Umgang kann eine Gefährdung des Partners sehr gering gehalten werden.

Zu ähnlich frühzeitigen Offenbarungen gegenüber dem Partner muss man auch raten, wenn sich Normalverdiener und Leistungsbezieher von HARTZ IV kennenlernen. Denn HARTZ IV kann extrem ansteckend sein — zumindest bei ungeschütztem Schriftverkehr mit vielen ARGEn, die auf eine Verbreitung geradezu hinarbeiten. Hier ein exemplarischer Fall, also kein Einzelfall.

Nehmen wir an, ein Mann aus A und eine Frau aus B haben sich im Internet kennengelernt. Sie stellen nach kurzer Zeit fest, dass ihnen die Distanz zwischen A und B zu weit ist und sie keine Fernbeziehung führen wollen. Sie beschließen, das Risiko des Zusammenziehens einzugehen. Da er fest angestellt ist und seine schulpflichtigen Kinder bei der getrennt lebenden Ehefrau in seiner Nähe leben, sie hingegen erst dabei ist, sich selbständig zu machen — wozu ihr die ARGE noch aufstockende Leistungen zahlt —, kann nur sie umziehen. Doch als sie sich bei der ARGE der neuen Stadt meldet, wird dort sofort eine „Bedarfsgemeinschaft“ (BG) festgestellt, die Einkommensnachweise des Freundes angefordert und der Antrag auf Leistungen abgelehnt: Sein Einkommen reiche gerade aus, dass beide in Armut glücklich werden können. Eine schwere Prüfung für eine frische Beziehung!

Da erfährt der Mann — nennen wir ihn in Anlehnung an Franz Kafkas Protagonisten „Herrn K.“ — zufällig etwas von einer Übergangszeit von einem Jahr, in der bei frisch Zusammenlebenden noch keine BG angenommen werden dürfe. Per Widerspruch darauf aufmerksam gemacht, gibt die ARGE kleinlaut nach — für ein Jahr. Es ist kaum anzunehmen, dass der Sachbearbeiter erst durch den Widerspruch von dieser Regelung Kenntnis bekommen hat; offenbar versuchen die ARGEn die Unwissenheit der Hilfesuchenden auszunutzen, um Kosten zu sparen. Kommt ARGE also doch von „Arg“, laut Duden „Heimtücke, Falschheit“?

Nach einem Jahr laufen die Mühlen der ARGE wieder an: nicht nur sein Einkommen muss Herr K., inklusive Vermögensnachweisen und Kontoauszügen, offen legen — er wird, da sein nach Abzug seiner Unterhaltsverpflichtungen verbleibendes Einkommen nicht für beide reicht und die BG nun insgesamt Leistungen benötigt, behandelt, als sei er selber bedürftig! Das HARTZ IV-Virus ist übergesprungen und beginnt metastatisch zu wirken!

Denn ab jetzt erfährt Herr K., der einen Vollzeitjob hat, der auch seinen Qualifikationen entspricht, die rührende Obhut der ARGE:

er soll das sogenannte „Arbeitspaket“ ausfüllen, in dem alle für eine Arbeitsvermittlung benötigten Daten abgefragt werden; er soll eine „Eingliederungsvereinbarung“ unterschreiben, in der er sich dazu verpflichtet, „alles dazu beizutragen, das aktuelle Beschäftigungsverhältnis zu erhalten“ und „bei einer Ortsabwesenheit vorab die Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners einzuholen“.

Eingeleitet wird das Schreiben der ARGE an Herrn K. mit den Worten: „Nachdem Sie nun Leistungen nach dem SGB II erhalten …“ — eine wahrhaft kafkaeske Verdrehung der Tatsache, dass man an sein Geld will, damit die ARGE weniger zahlen muss!

Was die ARGE ihm und seiner Freundin, die den SGB II-Antrag gestellt hat, nicht zuteil werden lässt: die Aufklärung über die tatsächlichen gesetzlichen Voraussetzungen für eine „Bedarfsgemeinschaft“ — richtig „Verantwortungs- und Einstehgemeinschaft“ —, die in § 7 Abs. 3a SGB II festgelegt sind. Dieser Paragraph findet sich zwar unter vielen anderen „Ausfüllhinweisen“ auf 11 Schreibmaschinenseiten, aber die ARGE prüft das Vorliegen der Kriterien nicht nach, sie setzt sie voraus und überlässt es den meist überforderten Betroffenen, ob sie diesen Punkt finden, ihn verstehen und die Konsequenzen daraus ziehen können.

Erst im Internet findet K. die richtige Rechtsauslegung: Nach einem Jahr Zusammenleben „kann“ „vermutet“ werden, dass zwei Menschen für einander einstehen. Die ARGE vermutet nicht nur, sondern erklärt einseitig den vollendeten Tatbestand.

K. und seine Freundin legen nun getrennt Widerspruch gegen die Zusammenlegung zu einer BG ein, da bei ihnen die erforderlichen Voraussetzungen auch nach einem Jahr noch nicht vorliegen. Sie schleppt frühere Verbindlichkeiten mit sich herum, mit denen er nichts zu tun hat, und er zahlt Unterhalt, was sie nicht tangieren kann; außerdem kennen sie sich erst so kurz, dass über eine Dauerhaftigkeit der Beziehung noch keine Aussage getroffen werden kann, und auch ihre berufliche Zukunft in der neuen Stadt ist noch ungewiss. Deshalb war von vornherein klar, dass jeder für seine Finanzen eigenverantwortlich ist und auch auf längere Sicht bleibt. Sie haben getrennte Konten, keiner ist dem anderen Rechenschaft schuldig für das, wofür er sein Geld ausgibt.

Im Internet stellen sie außerdem fest, dass sie nicht allein sind — viel zu vielen Bedürftigen wird statt Hilfe Desinformation, Misstrauen und Demütigung zuteil, ihnen werden jede Menge Stolpersteine in den Weg gelegt. Misstrauen als prophylaktische Berufseinstellung.

Natürlich gibt es auch die Leistungserschleicher — aber es kann nicht angehen, dass im Bestreben, den Missbrauch von Sozialleistungen durch einzelne Bürger zu verhindern, die missbräuchliche Auslegung des Gesetzes durch die Behörde zum Regelfall wird.

Vor allem nicht in Zeiten, wo mit immer größeren Milliardenbeträgen Millionäre vor dem Abrutschen in die Lebensrealität der Normalbürger bewahrt werden. Da ist es leichter zu verkraften, den einen oder anderen Kleinschmarotzer mitzuziehen, als berechtigte Ansprüche abzuschmettern.

Doch kommen wir zurück zu Kafka und den Metastasen des Hartz IV-Virus! Nehmen wir an, der berufstätige Freund unserer Antragstellerin erkrankt, wird arbeitsunfähig, bezieht statt Gehalt nur noch Krankengeld, wird für eine stationäre ReHa in einer Klinik angemeldet.

Was macht nun die ARGE? Sie macht sich natürlich Sorgen! Denn wer lange Zeit Krankengeld erhält, hat weniger Geld, als wenn er sein Gehalt bekäme. Und das würde für die ARGE bedeuten, dass sie mehr zahlen müsste. Ganz zu schweigen, was wäre, wenn der gute Herr K. nicht wieder arbeitsfähig würde! Also muss man sich als ARGE selbst dahinterklemmen, den Ärzten kann man offenbar nicht über den Weg trauen.

Es flattert Herrn K. also eine zu unterschreibende Schweigepflichtentbindung ins Haus, damit die ARGE ärztliche Gutachten anfordern kann.

Als nächstes folgt eine Einladung des Gesundheitsamtes „auf Veranlassung der ARGE“, da unser Herr K. ja schließlich „ALG2-Leistungen“ beziehe! Und er bekommt Formulare einer BKK, die ihn als ALG 2-Bezieher versichern soll. Wohl gemerkt: Der Mann hat Job und Versicherung und ist in ärztlicher Behandlung.

Dank Internet erfährt er dann allerdings, dass er laut Gesetz gar nicht den gleichen Pflichten unterliegt wie ein Arbeitsloser; wenn das eigene erzielte Einkommen reichen würde, um keinen eigenen Leistungsanspruch stellen zu können, dürfen auch keine Anstrengungen erwartet werden, die dazu dienen sollen, sich aus der Hilfebedürftigkeit zu befreien. Also keine Eingliederungsvereinbarung, keine Erreichbarkeitsanordnung!

Und in Fällen, in denen die ARGE eine Untersuchung beim Gesundheitsamt beantragen kann, geht die Schweigepflichtentbindung an den dortigen Arzt, nicht an den Sachbearbeiter.

Sind die ARGE-Sachbearbeiter schlecht geschult, oder sind sie dahingehend geschult, mit ihrem Wissen zum Schaden ihrer „Kunden“ hinterm Berg zu halten?

Doch selbst da, wo unparteiisch entschieden werden soll, macht es das „fehlerhafte, handwerklich schlecht gemachte Gesetz namens SGB II“ schwer, „offensichtliche rechtsstaatliche Kriterien einzuhalten, … es wird beherrscht von unbestimmten Rechtsbegriffen, die der Auslegung und Einordnung harren“, so Stefan Sell.

Tatsächlich betreibt das Sozialgericht, an das sich Herr K. hilfesuchend wendet, um endlich zu erreichen, von der ARGE in Ruhe gelassen zu werden, Detektivarbeit: Es fragt bei der Wohnbaugenossenschaft nach und erhält von dort die Bestätigung, dass Herr K. als Grund für sein Tauschgesuch von einer Einzimmer- in eine Zweizimmerwohnung den Zuzug seiner „Lebensgefährtin“ angegeben hat. Das genügt, Herrn K. als überführt zu betrachten und ihm die Rücknahme seiner Klage zu empfehlen. Ohne Aussicht auf Prozesskostenhilfe muss Herr K. nun natürlich klein beigeben. Offensichtlich genügt die Bezeichnung eines Menschen als „Lebensgefährte“ zur Erlangung einer Wohnung! zu einer Zwangsverehelichung mit Versorgungsverpflichtung, ungeachtet dessen, dass in diesem Fall ja sogar eine Ehe zumindest rechtlich noch besteht!

Ein Mann, der nichts gemacht, hat als eine Beziehung zu einer Frau aufzunehmen, die noch im SGB-II-Bezug ist, wird von der ARGE als Verfügungsmasse vereinnahmt; obwohl er zahlen soll, wird er behandelt, als fordere er etwas von der Behörde!

Eine solche Vorgehensweise der ARGEn kann doch nur zur Folge haben, dass die Chancen von HARTZ IV-Beziehern geschmälert werden, Partner unter „Normalverdienern“ zu finden; wie in einem Apartheidsstaat müssten sie unter sich bleiben, denn bei der aktuellen Vorgehensweise der ARGEn zieht ein „Hartzer“ den Partner nicht nur mit in die Armut, es sei denn, dessen Einkommen liegt deutlich über dem Durchschnitt, sondern — was teilweise schlimmer ist — liefert ihn einem Apparat aus, vor dem er nicht nur finanziell die Hosen herunterlassen, sondern auch noch jede Menge darüber hinausgehende Daten über sich preisgeben muss.

Vor allem wird er behandelt wie ein Arbeitsloser und Leistungsempfänger, was in der Praxis bedeutet, amtlicher Willkür ausgesetzt zu sein, die nur eines kennt: Das Einsparpotenzial rigoros auszuschöpfen. Dabei misst sich der Erfolg nicht an den Prozessen vor dem Sozialgericht, denn dort gehen circa 50 Prozent für die ARGEn verloren; erfolgreich sind die ARGEn unterm Strich, weil die meisten Antragsteller sich durch die vielen Willkürakte einschüchtern und verwirren lassen und erst gar keine Widersprüche oder Klagen einreichen.

Doch egal, wie die Eingabe eines Betroffenen in der Widerspruchsstelle der ARGE oder notfalls vor dem Sozialgericht entschieden wird — ein Schaden ist angerichtet: Das durchlebte Ausgeliefertsein kann Menschen nachhaltig erschüttern, es führt zu Zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie mit der Gefahr einer Öffnung für extreme politische Gruppierungen rechts oder links der viel beschworenen Mitte. Demokratie und inneren Frieden aber kann man zwar mit Geld verspielen, aber nicht wieder kaufen.

Mir macht es Angst, wenn ein Gesetz dazu dient, die Schwachen in der Gesellschaft, Arbeitslose und Niedriglöhner, gegeneinander auszuspielen.

Und mir macht es Angst, wenn es einem Verwaltungsapparat wie den ARGEn gelingt, Menschen, die über einen existenziellen Lebensbereich anderer Menschen entscheiden, durch Vorgaben so zu entmenschlichen, dass sie das Wohl der Behörde über die des Bürgers — in der Amtssprache auch noch als „Kunde“ bezeichnet! — stellen, sich zu willfährigen Werkzeugen bei der „Kolonialisierung der Bevölkerung auch im eigenen Land“, so Gabriele Gillen, machen lassen. Das sehe ich als Fruchtbarmachung eines Bodens, auf dem Faschismus gedeihen kann: Wenn sich auf der einen Seite die „Sachbearbeiter“ hinter — teilweise die Menschenwürde ignorierenden — Dienstanweisungen verstecken, und wenn auf der anderen Seite die sich in der Verliererrolle findenden Leistungsempfänger das Bedürfnis entwickeln, auf eine noch schwächere Gruppe herabschauen zu können.

Mein vorläufiges Fazit: Nicht Deutschland muss in Afghanistan verteidigt werden — das Grundgesetz und die Menschenrechte brauchen unseren Einsatz an der „Heimatfront“, damit wir nicht eines nahen Tages völlig in einem kafkaesken Absurdistan leben.

Nachtrag

Da die Rechtslage bei vielen Hartz IV-Paragraphen einen breiten Interpretationsraum lässt und die Sachbearbeiter häufig die Bestimmungen zum Nachteil der „Kunden“ ignorieren, kann man allen SGB II-Beziehern bei Problemen nur raten:

Termine bei der ARGE immer in Begleitung wahrnehmen; alles schriftlich geben lassen; alle eigenen Schriftstücke mit Einschreiben schicken oder gegen Eingangsstempel abgeben; möglichst schnell eine Beratungsstelle suchen oder sich einen Anwalt für Sozialrecht nehmen, Prozesskostenhilfe oder Beratungsscheine, falls keine Rechtsschutzversicherung besteht.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst im Oktober 2010 im SOZIALMAGAZIN 10/2010.

Quellen und Anmerkungen:

Webseiten:

www.gegen-hartz.de; Hilfe und Austausch für Hartz-IV-Geschädigte
www.stefan-sell.de; dort Referat „Die Verfahrensflut durch Hartz IV als Menetekel für die Sozialgerichtsbarkeit oder: Von dem Dilemma eines nicht-einlösbaren Lösungsversprechens durch das Sozialgericht und dem Anspruch des Einzelnen auf Rechtsprechung“.

Literatur:

Gern, W. und Segbers, F. (Hrsg.): „Als Kunde bezeichnet, als Bettler behandelt. Erfahrungen aus der Hartz IV-Welt“. Hamburg 2009
Gillen, Gabriele: „Hartz IV — eine Abrechnung“. Hamburg 2004 (Rezension in Sozialmagazin 11/2005)
Lange, Björn: „Hartz IV — und der Tag gehört dir“ bei „Books on Demand“ 2010

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