Wirtschaft und Gas: Europa zahlt hohen Preis für Bruch mit Russland – Deutschland den höchsten

Von Olga Samofalowa

Deutschlands regierende Ampel-Koalition ist zusammengebrochen – und der Kanzlersessel unter Scholz stark ins Wanken geraten. Die Gründe liegen in der wachsenden Welle von Problemen im Land, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Es ist Deutschland, das den höchsten Preis für Europas Abbruch der Beziehungen zu Russland und den freiwilligen und erzwungenen Verzicht auf Russlands Erdgas zahlt.

Erfolge der deutschen Wirtschaft wurden seit Jahrzehnten zu einem beträchtlichen Teil von niedrigen Energiepreisen getragen – sie profitierte enorm von Deutschlands Freundschaft mit Moskau: Erstens hat niemand in Europa so viel Gas aus Russland erhalten wie die BRD. Zweitens war dieses Gas für die Deutschen auch immer etwas billiger als für andere Europäer.

Beispiel: Die chemische Industrie, für die Erdgas ein wichtiger Rohstoff ist, hatte in Deutschland somit die besten Bedingungen. Wo ist sie jetzt? Zum Jahreswechsel 2022/2023 wurde die Produktion kurzfristig eingestellt – weil Gas für Europa auf einmal fantastische zwei- bis dreitausend Dollar pro tausend Kubikmeter kostete. Dabei hatte die Europäische Kommission zuvor geschrien, dass russisches Gas für 450 US-Dollar pro tausend Kubikmeter Raub am helllichten Tage sei – aber mehrere Tausend für die gleiche Menge zu zahlen, weil man meinte, auf russisches Gas verzichten zu müssen, das ist natürlich das Normalste der Welt. Also kann es gar nicht der Preis gewesen sein, über den Brüssel sich so grün und blau geärgert hatte.

Auch andere deutsche Industriezweige stehen nach wie vor unter Schock – wohlgemerkt sind dabei die Folgen des Verzichts auf Russlands Erdgas noch immer nicht voll in Deutschland angekommen. Der deutsche Automobilkonzern Volkswagen will erstmals in den 87 Jahren seines Bestehens mehrere Produktionsstätten im Lande schließen – und erstmals seit 30 Jahren Mitarbeiter entlassen. Jahrzehntelang war die deutsche Automobilindustrie weltweit führend und hat viele Krisen gemeistert, dieses Mal jedoch nicht. Denn der Preis für Strom ist ebenfalls stark gestiegen, zumal viele Wärmekraftwerke in Deutschland, als es mit Russland befreundet war, mit Erdgas als einer Energiequelle arbeiteten, die im Vergleich zu Kohle viel sauberer und im Vergleich zu den Erneuerbaren kostengünstiger ist. Das gleiche Gas in Flüssigform indes ist weit teurer und zudem schlechter verfügbar. Deutschland war sogar gezwungen, reine Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Und das als Land, in dem die Grünen sich über Ökologie und Umweltverantwortung die Lunge aus dem Hals schreien.

Wenn Strom teurer wird, steigen die Ausgaben aller, denn jedes Zulieferer- und Endprodukt wird teurer: Industriegüter, Lebensmittel und Autos. Selbstredend auch die Stromtarife für die Bevölkerung: Im Jahr 2022 gingen die Preise dafür auf dem Großhandelsmarkt förmlich durch die Decke – sie stiegen auf das Dreifache an.

In europäischen Ländern gibt es fast keine Zentralheizung wie in Russland. Dabei ist schon in Russland mit seinen im Vergleich zu Europa niedrigen Tarifen das Heizen mit Elektrogeräten kein billiges Vergnügen – ausgerechnet in Europa jedoch ist es weit verbreitet. Und so sehen wir denn: Gab eine typische dreiköpfige Familie in Deutschland im Jahr 2021 3.772 pro Jahr Euro für Strom, Wärme und Treibstoff für den Familienwagen aus, sind es Anfang 2024 bereits 5.306 Euro, errechnete das Verbraucherportal Verivox.

Die Inflation im Land ist im Anstieg, und die Europäer, insbesondere die Deutschen, sind daran nicht gewöhnt, sodass die Nachfrage sofort zu sinken begann. Und wo ist Deutschland jetzt? In einer Rezession, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Das Land war in wirtschaftlicher Hinsicht führend in der Eurozone – und ist nun der größte Außenseiter mit den schlechtesten Indikatoren.

Jetzt kommt Deutschland tatsächlich auch mit dem LNG aus, das statt russischen Röhrengases kommt – doch in Wirklichkeit ersetzte dieses nicht die von Russland bereitgestellten Mengen: Es ist lediglich so, dass der Gasverbrauch wie überall in der EU stark zurückgegangen ist. Einerseits begannen die Menschen zu sparen, andererseits schlossen Unternehmen oder reduzierten ihre Produktion. Da ist sie – die künstliche Zerstörung der Gasnachfrage, über die Gazprom-Chef Alexei Miller kürzlich sprach. So sank der Gasverbrauch allein in Deutschland von 90 bis 95 Milliarden Kubikmetern in den Jahren 2019 bis 2021 auf 78 Milliarden in den Jahren 2022 und 2023. In der gesamten Europäischen Union sank der Gasverbrauch im Zeitraum von 2022 bis 2023 um mehr als 100 Milliarden Kubikmeter – auf das Niveau von 1996, berechnete man bei Gazprom.

Generell ist der Wunsch der Europäischen Union, vom Import von Energieressourcen abzukommen, ja durchaus verständlich. Sie wollen nicht von ausländischen Lieferanten abhängig sein. Doch es herrscht ein katastrophaler Mangel an eigenem Erdgas, zudem gehen die Vorkommen in Norwegen zur Neige. Sprich: Die Pläne sind in ihrer allgemeinsten Fassung logisch, aber die Ausführung humpelt mit beiden Beinen.

Warum im Voraus schon gesunde Beine amputieren – und dabei vorher nicht einmal eine Prothese erfinden, mit der man ohne Beine laufen kann?

Denn die Alternative ist noch nicht gebrauchsfertig: Erneuerbare Energiequellen können nicht ständig Energie liefern, wenn der Mensch sie benötigt – und vor allem kann diese Energie nahezu gar nicht gespeichert werden: Wasserstofftechnologien müssen noch zur Reife gelangen, müssen weiterentwickelt werden. Aber wie soll das gehen, woher soll das Geld für diese Arbeiten kommen, wenn die Wirtschaft wie in Deutschland in einer Rezession steckt? Es wäre viel logischer gewesen, wenn Deutschland dank russischen Gases weiterhin Geld verdiente, reicher würde, EU-Spitzenreiter bliebe und somit Mittel hätte, um in die Erzeugung von Wasserstoffenergie zu investieren. Außerdem ist Gas deutlich umweltfreundlicher als Kohle – was ist denn an Gas überhaupt falsch? Es ist ein hervorragender Kraftstoff für die Übergangszeit, bis die eigenen Wunsch-Energiequellen erschlossen sind.

Das Ergebnis? Selbst gemachte Kopfschmerzen. Der Winter hat in Europa noch nicht begonnen – doch die Gaspreise auf den europäischen Märkten haben bereits begonnen zu steigen. Denn in den USA stürmt es – und in Europa weht kein Lüftchen. LNG aus Amerika gelangt also möglicherweise nicht so bald nach Europa, und die Nachfrage nach Gas ist gestiegen, da die Windenergieerzeugung ausgefallen ist. Fehlt nur noch, dass die Kälte in Europa selbst oder in China vorzeitig einsetzt – oder aber dass in Norwegen irgendwelche dringenden Reparaturen an der technischen Ausstattung der Gasfelder anfallen: Und schon steigen die Preise nochmals schlagartig, dann aber wohl gleich in den Orbit.

Apropos China: Europa ist enorm abhängig geworden – von natürlichen Faktoren ebenso wie von den Ereignissen bei allen möglichen Lieferanten einerseits und dem Verbraucherkonkurrenten China andererseits. Das Schöne an der Erdgasversorgung mittels Pipeline war ihre Stabilität. Die Magistralleitungen waren praktisch unverwundbar und fungierten somit als Versicherung. Die Europäer füllten damals ihre unterirdischen Gasspeicher (UGS) für den Winter nicht einmal bis zur vollen Kapazität – wozu auch, wenn Gazprom bei Bedarf sofort mehr liefern konnte und auch lieferte? Heutzutage aber müssen die unterirdischen Gasspeicher auf dem höchstmöglichen Füllstand gehalten und zusätzliches Geld für die Gasspeicherung ausgegeben werden, weil die Risiken gestiegen sind, es keinerlei Versicherung gibt und die allgemeine Anfälligkeit des Marktes und der Wirtschaft zugenommen hat.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA am 8. November 2024.

Olga Samofalowa ist eine russische Journalistin.

Mehr zum Thema – Europa hat die Wahl: Gemeinsam mit Russland blühen oder im Elend enden

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