Der Westen stürzt Syrien in ein kontrolliertes Chaos

Von Jewgeni Posdnjakow

Die bewaffnete syrische Opposition hat Damaskus eingenommen. Kämpfer der Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS, früher bekannt als al-Nusra-Front) hatten die Stadt am Vortag, dem 7. Dezember, umstellt. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Al Hadath stießen die Vertreter der Gruppierung auf wenig Widerstand seitens der Republikanischen Armee. Nur wenige Stunden nach Beginn der Kampfhandlungen in der Hauptstadt drangen sie in den Palast von Baschar al-Assad ein, der unbewacht geblieben war.

Vor diesem Hintergrund berichtete Reuters, dass der Präsident des Landes Damaskus verlassen hat. Derzeit ist sein Aufenthaltsort unbekannt, aber die Nachrichtenagentur räumte ein, dass er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sein könnte. Es gibt noch keine offizielle Stellungnahme zu diesem Thema. Zur gleichen Zeit wurde der Zusammenbruch der säkularen Regierung vom Ministerpräsidenten des Landes, Mohammad Ghazi al-Dschalali, bekannt gegeben, berichtete Al Arabia.

Ihm zufolge haben die meisten Minister beschlossen, in Damaskus zu bleiben. Sie werden ihre Aufgaben für die Dauer der Übergangszeit weiter wahrnehmen. Al-Dschalali soll sich bereits mit dem HTS-Anführer Abu Muhammad al-Dschaulani darauf geeinigt haben. Im Gegenzug hat die Opposition die Sicherheit der Regierungsmitglieder, die sich in der Republik aufhalten, garantiert.

Gleichzeitig überschritten Einheiten der israelischen Armee die Kontaktlinie auf den Golanhöhen und drangen in die Pufferzone an der Grenze zu Syrien ein, berichtete die Times of Israel. Es wird berichtet, dass diese Maßnahmen ergriffen wurden, um die Sicherheit des Landes nach dem Sturz der Assad-Regierung zu gewährleisten. Wie der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu feststellte, eröffnet der Machtwechsel in Syrien neue Möglichkeiten für Tel Aviv. Er betonte, dass der Sturz von Assad ohne die Angriffe der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) auf Iran und die Hisbollah nicht möglich gewesen wäre. Der jüdische Staat sei derzeit bereit, den Einwohnern der syrischen Republik die Hand des Friedens zu reichen, werde aber nicht zulassen, dass feindliche Kräfte an seinen Grenzen erstarken.

Im Westen wurden diese Ereignisse überwiegend positiv aufgenommen. Die diplomatische Leiterin der EU, Kaja Kallas, brachte ihre Unterstützung für die bewaffnete syrische Opposition zum Ausdruck und fügte hinzu, die EU sei bereit, mit den neuen Behörden zusammenzuarbeiten. Das französische Außenministerium vertritt eine ähnliche Position, während Bundeskanzler Olaf Scholz das Ende von Assads Herrschaft laut Kommersant als "gute Nachricht" bezeichnete.

Das russische Außenministerium teilte unterdessen auf seinem Telegram-Kanal mit, dass es derzeit keine Bedrohungen für die Militärstützpunkte der russischen Streitkräfte in der syrischen Republik gebe, obwohl die entsprechende Infrastruktur bereits in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden sei. Es werden alle möglichen Anstrengungen unternommen, um die Sicherheit der russischen Bürger in Syrien zu gewährleisten.

Die derzeitige akute Phase der Krise in Syrien begann am 29. November. Damals griffen HTS-Kämpfer Aleppo, die zweitgrößte Stadt des Landes, an. Die Aktivitäten der Terroristen wurden von der Türkei, den Vereinigten Staaten und der Ukraine unterstützt. In der Nacht zum 8. Dezember gelang es den Formationen, das große Bevölkerungszentrum Homs einzunehmen, was ein günstiges Umfeld für eine Offensive auf Damaskus schuf.

In Syrien wird die Zeit von 1971 bis heute als "Assad-Ära" bezeichnet. Damals kam der Vater des heutigen Präsidenten, Hafiz al-Assad, durch einen Putsch innerhalb der Baath-Partei an die Macht. Nach seinem Tod wurde die Republik von Baschar al-Assad geführt, dessen Regierung bis zum Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 stabil blieb.

Wladimir Saschin, ein leitender Forscher am Institut für Orientalische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften, stellt fest:

"Der Hauptverlierer des Sturzes der Regierung von Baschar al-Assad ist wohl der Iran. Für ihn war Syrien der 'goldene Stein' in der schiitischen Einflusskette. Wir sollten nicht vergessen, dass der Zusammenbruch der Regierung auch vor dem Hintergrund einer erheblichen Verschlechterung der Position der Hisbollah erfolgte, die ebenfalls Teil der Einflussachse Teherans war."

Der Experte fügt hinzu:

"In der Tat ist das wichtigste Konzept Irans - der Export der islamischen Revolution - in Frage gestellt worden. Das Land kann die Situation in keiner Weise ändern. Es wird eine qualitativ andere Realität akzeptieren und mit der neuen syrischen Regierung verhandeln müssen, in der Hoffnung, zumindest einige diplomatische Beziehungen zu etablieren."

"Es ist eine große Frage, ob Teheran Erfolg haben wird. Die HTS bezeichnete den Iran als den zweitwichtigsten Gegner nach dem Regime von Baschar al-Assad. In einer solchen Situation ist es ziemlich schwierig, auf einen stabilen Dialog zu hoffen."

Saschin erklärt weiter:

"Der Hauptnutznießer der Ereignisse ist die Türkei.

Für Ankara ist dies ein weiterer Schritt zur Anerkennung seines wachsenden internationalen Einflusses und zur Stärkung seiner Position auf regionaler Ebene. Es ist gut möglich, dass der Sturz der syrischen Regierung die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Iran erschwert, aber es wird nicht zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen beiden kommen."

"Was Israel betrifft, so ist der Sturz Assads für Tel Aviv ein kontroverses Ereignis. Einerseits ist der jüdische Staat einen starken Akteur losgeworden, der seine engen Beziehungen zu Teheran offen dargelegt hat. Theoretisch sollte dies der Sicherheit des Landes zugutekommen."

Er führt weiter aus:

"Wie die künftige syrische Regierung aussehen wird, ist jedoch nicht vollständig geklärt. Es ist durchaus möglich, dass radikale Islamisten an die Macht kommen, für die sich Tel Aviv als neuer Hauptgegner erweisen wird. Dennoch ist bereits jetzt klar, dass die Lage im Nahen Osten sehr viel komplizierter geworden ist. Das fragile Gleichgewicht der Kräfte in der Region ist hoffnungslos erschüttert."

Die Macht in Syrien ist von westlich kontrollierten Gruppierungen gestürzt worden, so Simon Tsipis, ein israelischer Experte für internationale Beziehungen und nationale Sicherheit. Er behauptet:

"Die Aktivitäten der HTS und anderer Formationen werden mithilfe der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste durchgeführt. Tel Aviv war auch an der Ausbildung ihrer Spezialisten beteiligt."

Tsipis spekuliert:

"Der Sturz von Baschar al-Assad spielt Israel in die Hände. Er ist der traditionelle Gegenspieler des jüdischen Staates. Gerade jetzt greifen die IDF syrische Flugplätze an, um den Rebellen zu helfen, die Regierung endgültig zu beseitigen.

Syrien wird systematisch, Schritt für Schritt, in einen zerrütteten, ausgebluteten Staat verwandelt.

Der Westen will ein kontrolliertes Chaos schaffen. Ein Terrain, auf dem es kein selbstbewusstes Regime geben wird, das in der Lage wäre, die Interessen seines Volkes zu verteidigen. So hat Israel einfach keine Gegner mehr, die es in irgendeiner Weise angreifen könnten. Die Stabilität in Syrien ist für die nächsten Jahrzehnte verloren. Selbst wenn ein Führer auftauchen würde, wäre er wahrscheinlich ein vom Westen ernannter Mann."

Die HTS-Kämpfer haben viel weniger zum Sturz des syrischen Regimes beigetragen als Baschar al-Assad selbst, erinnert der Militärexperte Wadim Kosjulin, Leiter des Zentrums des Instituts für aktuelle internationale Probleme an der Diplomatischen Akademie des russischen Außenministeriums. Er erklärt:

"Der ehemalige Präsident des Landes ruhte sich, offen gesagt, auf den Lorbeeren der Siege von Mitte der 2010er-Jahre aus. Er und sein Team glaubten, der Machtkampf sei vorbei."

Kosjulin merkt an:

"Aus diesem Grund wurde der Entwicklung und Modernisierung der Streitkräfte wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Armee wurde zu einer Ansammlung von Warlords, von denen jeder versuchte, seinen eigenen Clan zu gründen. Das missfiel sowohl den Soldaten selbst als auch den einfachen Bürgern der Republik. Assads Autorität begann zu schwinden."

"Vor diesem Hintergrund sieht es so aus, als hätten sich die Kämpfer seit mehreren Jahren auf Rache vorbereitet. Die HTS war hier wahrscheinlich die leidenschaftlichste der Gruppen, mit Unterstützung der Türkei und anderer ausländischer Akteure. Sie waren gut motiviert und geistig bereit, ihr Leben im Kampf gegen die syrische Armee zu opfern."

Der Experte fügt hinzu:

"Die HTS erhielt eine große Menge an militärischer Ausrüstung von externen Kräften.

Die Organisation verfügte über einen guten Vorrat an Drohnen, der bei der Einnahme von Aleppo sehr klug eingesetzt wurde. Es war das erste Mal, dass Assads Kämpfer mit Drohnen konfrontiert wurden - die Methoden zu ihrer Abwehr waren im Vorfeld nicht ausgereift, was in den Reihen der Armee Panik auslöste."

"Die HTS-Anhänger operierten in relativ kleinen Gruppen und versuchten, sich gegenseitig Deckung zu geben, wenn sie eine neue Stadt betraten. Mit der Zeit, als die Ohnmacht der syrischen Streitkräfte offensichtlich wurde, gaben die Kämpfer jegliche Taktik auf. Was nützt das, wenn der Feind keinen Widerstand leistet."

Der Gesrächspartner  unterstreicht:

"Das heißt, die Anhänger der HTS sind einfach in die neuen Städte der Republik gestürmt und haben sie innerhalb weniger Stunden unter ihre Kontrolle gebracht. Die Bevölkerung unterstützte die 'Befreier' weitgehend. Tatsächlich gelang es ihnen, mit einer solchen 'Lawine' die Hauptstadt der Republik zu erreichen."

"Was die Zukunft der russischen Stützpunkte in Syrien betrifft, so ist es durchaus möglich, dass sie erhalten bleiben können. Die HTS haben keine Ansprüche an Moskau gestellt, und die Bürger des Staates behandeln uns größtenteils mit Respekt. Ich denke, wenn eine Entscheidung über die Notwendigkeit der Beibehaltung der Präsenz getroffen wird, kann die Kontrolle über die geschaffene Infrastruktur beibehalten werden."

Die Spekulationen westlicher Medien über Russlands Versagen im Nahen Osten sind grundlegend falsch, so der Politologe Kirill Semjonow. Er meint:

"Moskau hat in dieser Situation die einzig richtige Position eingenommen. Bereits 2015 sagte Wladimir Putin, dass wir nicht mehr Syrer sein werden als die Syrer selbst.

Es liegt an den Bürgern der Republik, ihre eigene Regierung zu verteidigen.

Russland hat sich immer für die Aufnahme eines Dialogs zwischen den verschiedenen Kräften im Land eingesetzt, und wir haben auch auf möglichst fruchtbare Verhandlungen über verschiedene internationale Kanäle zur Lösung dieser Krise gedrängt. Aber Moskau ist nicht in der Lage, die Haltung der Bevölkerung gegenüber Baschar al-Assad zu ändern."

Als Begründung führt er an:

"Die Menschen haben für einen Regierungswechsel gestimmt, indem sie sich weigerten, die Regierungstruppen zu unterstützen. Die Armee hat sich geweigert, ihre Pflichten zu erfüllen, die Zivilbevölkerung hat keine Milizen gebildet. Es war ihre Entscheidung, sie waren der Meinung, dass ein solches Ergebnis das Beste für ihr Heimatland wäre. Man kann sich nur wünschen, dass sich der Wille des Volkes in der historischen Perspektive als richtig erweisen wird."

Abschließend erklärt Semjonow:

"Jeder Versuch Russlands, irgendwie in diese Situation einzugreifen, würde zu nichts Gutem führen. Ausländische Unterstützung für Assad wäre so, als würde man ein Glas Wasser auf eine Flamme gießen, um sie zu löschen. Darüber hinaus ist Moskau in einen schweren Konflikt in der Ukraine verwickelt. Es ist klar, dass alle notwendigen Kräfte in erster Linie dort eingesetzt werden sollten."

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 8. Dezember 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.

Jewgeni Posdnjakow ist ein russischer Journalist, Fernseh- und Radiomoderator.

Mehr zum Thema - Syrische Rebellen nähern sich russischen Stützpunkten in Tartus und Hmeimim

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