Der Sieg von Le Pens Partei wird in Frankreich nichts ändern

Von Dr. Natalija Rutkewitsch

Die erste Runde der vorgezogenen Wahlen zur französischen Nationalversammlung hat die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament von Anfang Juni bestätigt. Nach diesem Ergebnis hoffte Emmanuel Macron, mit seiner Auflösung des Parlaments den Aufstieg der Opposition bremsen zu können. Das hat aber nicht funktioniert.

Beide Abstimmungen waren nicht nur ein Schlag ins Gesicht für die Regierungspartei und für Macron selbst, der zusammen mit seinem Gefolge mittlerweile eine Abneigung hervorruft, deren Ausmaß er offensichtlich unterschätzt. Sie waren nicht nur ein Protest gegen seine Politik – seien es die Rentenreform, die Privatisierung der nationalen Industrie, der Abbau vieler öffentlicher Dienstleistungen, die Fördermittel für große internationale Unternehmen oder seine inkonsistente und unüberlegte Außenpolitik.

Die Ergebnisse können auch als eine Art Rache für das umstrittene Referendum im Jahr 2005 interpretiert werden: Zum ersten Mal errangen die extreme Rechte und die extreme Linke (die Erben jener Parteien, die vor knapp zwanzig Jahren zum Votum gegen den damaligen "Vertrag über eine Verfassung für Europa" aufriefen) gemeinsam eine absolute Mehrheit. Damals stimmten die Franzosen mit überwältigender Mehrheit gegen diesen Entwurf einer "Europäischen Verfassung". Dennoch wurde diese Verfassung einige Jahre später in einer Abstimmung des EU-Parlaments mit geringfügigen Änderungen angenommen (wenn auch nicht als Verfassung, sondern als "Vertrag von Lissabon", ursprünglich auch EU-Grundlagenvertrag genannt, worüber vorsichtshalber nicht mehr abgestimmt wurde und der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat). Seitdem hat es in Frankreich keine Volksabstimmungen mehr gegeben.

Eine solche offene Missachtung der Willensäußerung des Volkes war der erste schwere Schlag gegen die "europäischen" Ideale. Viele begannen darüber nachzudenken, ob die Worte "Mehr Europa bedeutet mehr Demokratie" der Realität entsprechen. Das trug auch zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung bei: Warum wählen gehen, wenn so wenig von der Wahl abhängt? Die Ernüchterung über die Versprechen eines "sozialen Europas", eines "demokratischen Europas" und eines "strategisch unabhängigen Europas" schwappte im Jahr 2018 auf die "Gelbwesten"-Bewegung über. Eine ihrer Hauptforderungen war die Wiederherstellung der Möglichkeiten zur Einflussnahme auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in Haushalts-, Finanz- und Sozialfragen, die das Leben der Franzosen direkt betreffen. Und diese Dinge sind in Frankreich heute noch nicht erreicht.

Nach Ansicht einiger Soziologen könnten die Wahlen am 30. Juni und 7. Juli zur Rache der "Gelbwesten" werden, nämlich einer monatelangen sozialen Revolte des sogenannten "peripheren Frankreichs" der Bewohner kleiner Städte und Dörfer, die von den Prozessen der Globalisierung und der europäischen Integration betroffen sind.

Dieses "periphere" Frankreich wählt zunehmend die Partei Rassemblement Nationale, also die Nationale Sammlungsbewegung. Aber auch in anderen Bevölkerungsschichten – also bei wohlhabenderen Bürgern, Rentnern, auch Bewohnern von Überseegebieten – ist ein stetiger Anstieg der Unterstützung dieser Partei zu beobachten, die seit vielen Jahren von Marine Le Pen geführt wird. Ursprünglich galt der "Front National" (wie die Partei früher hieß) als Partei der Kleinbürger, kleinen Geschäftsleute und Ladenbesitzer. In jüngster Zeit hat sie ihre Slogans und ihr Programm an ihre neue Wählerschaft angepasst – an diejenigen, die "auf der Strecke geblieben" sind, und diejenigen, die Wert auf Soziales, auf den Gaullismus und seine Errungenschaften legen: soziale Sicherheit, Stabilität und Frankreichs internationales Ansehen. 

Nach Ansicht des Soziologen Luc Rouban lässt sich das Anwachsen der Popularität des Rassemblement Nationale nicht durch "heftige Wutausbrüche", "Rassismus" oder "den Wunsch nach einem autoritären Führer" erklären. Ein gravierender Wandel im Image der Partei zeigt sich daran, dass Serge Klarsfeld als einer der angesehensten Vertreter der französischen Juden und ein Verteidiger der Erinnerung an die Opfer der Nazi-Konzentrationslager sagte, wenn man zwischen den Ultralinken und den Ultrarechten wählen müsste, würde er nicht zögern, für Letztere zu stimmen, da sie "weder antisemitisch noch rassistisch" seien.

Durch  ihre Namensänderung und das Ablegen des Etiketts "antisemitisch" (das mit zweifelhaften Äußerungen des Gründers des Front Nationale Jean-Marie Le Pen verbunden war), nutzt das Rassemblement Nationale erfolgreich die seit langem wachsende Unzufriedenheit derjenigen Schichten aus, die alle die negativen Auswirkungen der Globalisierung zu spüren bekommen.

Der Nationalismus dieser Partei ist eher defensiver als aggressiver Natur. Dieser Nationalismus wird verursacht durch die Sorgen über den Zustrom von Einwanderern, der sich auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen auswirkt und der das Gesicht einer Gesellschaft rasch verändert, die noch vor vierzig Jahren kulturell und ethnisch weitgehend homogen war. Diese Sammlungsbewegung macht sich all diese Ängste zunutze, und ihre wachsende Popularität ist nur natürlich.

Darüber hinaus weigerte sich die Linke, auf diese Probleme einzugehen, und verwandelte sich stattdessen von einer Arbeiterbewegung in eine Bewegung zum Schutz von Minderheiten, sei es in ethnischer, sexueller oder anderer Art. Natürlich findet man in ihren Programmen immer noch Slogans zur Verteidigung der Armen, auch in dem der nun eilig gegründeten "Neuen Volksfront", zu der das "unbezwingbare Frankreich", Die Grünen, die Sozialisten und die Kommunisten gehören. Aber wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, sind alle diese Linken weit weniger sensibel für das Problem der sozialen Ungleichheit als für Themen wie Ökologie, Abtreibung, Euthanasie, gleichgeschlechtliche Ehe und Rassentoleranz.

Heute wäre es unmöglich, sich vorzustellen, dass irgendjemand der extremen Linken die Worte des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Frankreichs Georges Marchais im Jahr 1980 wiederholen würde:

"Sowohl die illegale als auch die legale Einwanderung müssen gestoppt werden. Es ist völlig inakzeptabel, immer mehr Arbeitsmigranten nach Frankreich zu lassen, wenn es in unserem Land bereits 2 Millionen Arbeitslose gibt – Franzosen und Einwanderer, die sich bereits in unserem Land niedergelassen haben."

Heute liegt die Zahl der Arbeitslosen bei fast 5,5 Millionen, und die Zahl der legalen und illegalen Einwanderer hat sich verzehnfacht, doch linke Bewegungen sehen darin kein Problem und widmen sich vor allem dem Kampf gegen "jegliche Diskriminierung". Die Sozialisten diskreditierten ernsthaft während der Regierungszeit von François Hollande, der sich zwar als "Feind der internationalen Finanzwelt" darstellte, aber sehr wenig zum Schutz der Armen getan hat und das Gesetz zur "Gleichstellung der Ehe" als seine wichtigste Errungenschaft präsentierte.

Die jüngste Einbeziehung von Hollande in den Wahlkampf der "Neuen Volksfront" sowie die Verlagerung zur linken Mitte entwerten alle Versprechen einer alternativen Politik der extremen Linken. Die immer wiederkehrenden Worte über ein "soziales, demokratisches und strategisches Europa" in ihrem Programm überzeugen nur wenige Menschen, und die Übereinstimmung ihrer Position zum Ukraine-Konflikt mit der Position Macrons dürfte bei den Wählern, die diese Position des Präsidenten mit seinen militanten Initiativen größtenteils nicht unterstützen, kaum Anklang finden.

Hatten Beobachter im Jahr 2019 noch Hoffnung auf ein Zusammenrücken der Proteste der extremen Linken und der extremen Rechten, auf die Entstehung eines landesweiten Protestblocks, so ist heute klar, dass diese Konvergenz nicht stattgefunden hat. Eine der Aktivistinnen der französischen Bewegung zur Entkolonialisierung, die skandalumwitterte Houria Bouteldja, vergleicht in ihrem jüngsten Buch "Beaufs et barbares: Le pari du nous" verarmte Weiße mit Einwanderern aus ehemaligen Kolonien, den Barbaren und reflektiert auch über deren Fähigkeit, sich gemeinsam gegen den Macronismus aufzulehnen.

In einer multikulturellen Gesellschaft ist das Einkommensniveau jedoch nicht das einzige Kriterium für Klassenzugehörigkeit und politische Identität. Das rasante Anwachsen der ethnisch-kulturellen Vielfalt und die Ablehnung der Politik einer Assimilation zugunsten des Multikulturalismus durch die herrschenden Kreise führten zur Zersplitterung der Nation in Minderheiten und zur Entstehung dessen, was der bekannte Soziologe Jérôme Fourquet als das "Archipel Frankreich" anstelle einer einzigen und unteilbaren Französischen Republik bezeichnet.

Die Landkarte mit den Wahlergebnissen spiegelt diese Vielfalt perfekt wider. Die Nationale Sammlungsbewegung gewinnt in den Kleinstädten und in ländlichen Gebieten (bei den Bedauernswerten). In den mittelgroßen Städten wird die Mehrheit der Stimmen wahrscheinlich an sozialistische Kandidaten gehen (die idealistischen Kleinbürger, die sich für die Umwelt einsetzt und den Kampf gegen den "Faschismus" zu ihrem Lebenssinn erklärt haben).

In den großen Vorstädten von Paris, Marseille und Lyon werden Abgeordnete des "Rebellischen Frankreich", (der Partei "La France insoumise", die sich an die eingewanderte Bevölkerung wendet) gewählt. Die zentralen Bezirke von Paris und Lyon werden zu den letzten Bastionen des Macronismus sein (mit der gut an die Globalisierung angepassten Oberschicht). In Marseille schließlich, wo Macrons Wählerbasis äußerst klein ist, wird sich "La France insoumise" dem "Rassemblement Nationale", der Nationalen Sammlungsbewegung, gegenüberstellen, die "Bedauernswerten" gegen die "Barbaren". Nach den Ergebnissen der ersten Runde zeichnet sich eine Spaltung des Landes und des Parlaments in drei große Blöcke ab.

Die höchste Wahlbeteiligung seit vierzig Jahren zeigt den Wunsch und die Hoffnung der Wähler auf ein qualitativ anderes Kabinett, das die aktuelle Politik radikal verändern wird. Unabhängig davon, wie die gewählte Mehrheit ausfällt, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass diese Erwartungen erfüllt werden.

Die Opposition kann in ihren Worten noch so radikal sein, wenn es um Taten geht, kann sie keine echte Alternative zur Politik ihrer Vorgänger bieten. Dies lässt sich auch in anderen europäischen Ländern beobachten, in denen "Extremisten" an die Macht gekommen sind. Die französische extreme Rechte und extreme Linke haben ihre Kritik an Brüssel sehr abgeschwächt, und sollten sie an die Macht kommen, ist ihre relativ reibungslose Integration in die gesamteuropäischen Strukturen wahrscheinlicher als ein Versuch von Paris aus, radikale Reformen durchzuführen (wie sie die Vertreter der Nationalen Sammlungsbewegung und auch von La France insoumise kürzlich noch forderten). Die Erklärungen und Aktionen der Opposition können lautstark und demonstrativ sein, sie können Unruhen und Proteste auslösen, sie können zu innerem Chaos führen. Sie werden den allgemeinen Entwicklungstrend aber höchstwahrscheinlich nicht umkehren können.

Kürzlich stellte der Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Farah fest: "In den letzten Jahrzehnten haben wir wiederholt erklärt, dass sie unabhängig von der Mehrheit an der Macht ungefähr die gleichen Maßnahmen umsetzen, was zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und einer stabilen Beschäftigung, zum Abbau der öffentlichen Dienstleistungen, zu mehr Armut, zur Verringerung der industriellen Basis des Landes, zu strategischer Verwundbarkeit und zum Aufstieg des Populismus führt." Die Ergebnisse des 7. Juli kann man also wohl mit den Worten begrüßen: "Der Macronismus ist tot, es lebe der Macronismus!"

Die Autorin Dr. Natalija Rutkewitsch ist Journalistin und Expertin zum Thema Modernes Frankreich.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Russisch bei Russia in Global Affairs am 1. Juli 2024.

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