Gelsenkirchens Fußballclub Schalke 04 ist wichtig für die Stadt und seine Fans. Dabei gibt es reichlich Auseinandersetzungen mit der Polizei, die das für öffentlichkeitswirksame Maßnahmen nutzt – ob Fotofahndung oder harsche Pressemitteilungen.
In Gelsenkirchen ist seit Januar Tim Frommeyer Polizeipräsident. Er steht dabei vor komplexen Herausforderungen: Neben der Bekämpfung von Kriminalität, die Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul häufig als „Clankriminalität“ bezeichnet, prägen Spannungen mit der organisierten Fanszene des FC Schalke 04 seinen Arbeitsalltag. Eine Entspannung in diesem Konflikt ist bisher nicht in Sicht.
Schalke 04 ist wichtig in Gelsenkirchen, der Verein hat auch im deutschen Fußball und eine besondere Bedeutung. Mit einem Zuschauerschnitt von über 61.000 Fans pro Heimspiel bleibt der Verein eine zentrale Kraft, auch in der 2. Bundesliga. Im europäischen Vergleich belegte Schalke 04 in dieser Saison den 14. Platz im UEFA-Ranking der absoluten Zuschauerzahlen und war damit der einzige Zweitligist unter den Top 16.
Mit Fußball-Maßnahmen wird Politik gemacht
Frommeyer nutzt das Thema und die Auseinandersetzungen darum offenbar: Mit gezielter Medienpräsenz, umstrittenen Entscheidungen, digitaler Fotofahndung nach verdächtigen Fans und der Empfehlung an die UEFA zu Spielverlegungen sorgt Frommeyer für heftige Diskussionen. Dadurch spielt die Polizei in der ärmsten Stadt Deutschlands nicht nur die Rolle des Ordnungshüters, sondern zunehmend auch die einer politischen Kraft.
Während Frommeyer die Aufmerksamkeit durch das Thema nutzt, zeigte er bei seiner traditionellen Vorstellung im Stadtrat stellenweise wenig Verständnis für kritische Fragen. Besonders zeigte sich das bei der Diskussion um einen möglichen Ausschluss Gelsenkirchens von Champions-League-Spielen.
Nachdem es beim Spiel zwischen Schachtjor Donezk und Atalanta Bergamo auf Schalke zu Auseinandersetzungen zwischen den Fans kam, kündigte Frommeyer an: „Eine mögliche Konsequenz der Vorfälle könnte eine Empfehlung an die UEFA sein, in Zukunft keine ‚Gastspiele‘ fremder Vereine mehr auf Schalke durchzuführen“ – ein Schritt, der finanzielle Verluste für Schalke und einen Imageschaden für die Stadt bedeuten würde. Die Forderung wurde direkt nach dem Spiel über die Pressestelle der Polizei veröffentlicht.
Was die Polizei sagt, stimmt?
Das Verhalten der „sogenannten Fans“ bezeichnete Frommeyer als „asozial“ – ein Begriff, der aufgrund seiner historischen Konnotationen umstritten ist. Der Duden ordnet das Adjektiv als diskriminierend ein. Der Autor Matthias Heine schreibt in seiner Veröffentlichung „Verbrannte Wörter“ : „Wer das Wort asozial leichtfertig benutzt, offenbart Gedankenlosigkeit und mangelhafte Geschichtskenntnisse“.
Von der Lokalredaktion der WAZ wurde die Pressemeldung der Polizei ungeachtet dessen inhaltlich übernommen. Es erfolgte keine kritische Bewertung, journalistische Einordnung oder abweichende Einschätzung.
Beim Antrittsbesuch des Polizeipräsidenten im Stadtrat kritisierte der sportpolitische Sprecher der SPD Daniel Siebel sowohl die einseitige Berichterstattung der Lokalzeitung über den Vorfall als auch die Wortwahl der Polizei: „Statt dem Aufruf des Deutschen Journalistenverbandes zu folgen, nämlich Polizeiberichte als eine von mehreren möglichen Quellen zu nutzen und nicht als alleinige, hätte die WAZ das gemacht, dann wäre die Headline vielleicht nicht ‚gewaltorientierte Schalker griffen friedliche Atalanta-Fans an‘, sondern hätte man vielleicht erfahren, dass auf beiden Seiten gewaltorientierte Fans sind.“
Nach dem zunächst freundlichen Empfang des Polizeipräsidenten im Stadtrat zeigte er sich sichtlich irritiert von der Kritik: „Wenn wir in jeder Situation erst mal hinterfragt werden, ob denn das eventuell auch stimmen sollte, was die Polizei da geäußert hat, finde ich das eine etwas verquere Herangehensweise“, sagte Tim Frommeyer. „Das muss ich auch klar sagen. Also ich gehe schon davon aus, dass der Großteil der Menschen in dieser Stadt und darüber hinaus davon ausgeht, dass wenn die Polizei etwas äußert, das auch genau so passiert“.
Die Debatte um Stadionkultur
Doch der Konflikt zwischen organisierten Fangruppen und der Polizei eskaliert nicht nur medial immer wieder. Seit August 2023 wurden Choreografien in der Nordkurve verboten – eine Reaktion der Polizei auf Verstöße gegen Absprachen zur Nutzung von Pyrotechnik. Dabei ist die Nordkurve seit Jahrzehnten ein zentraler Ort der Fankultur.
Am Rande der Nordkurve befindet sich auch die Leitstelle von Polizei und Feuerwehr. Seit der Eröffnung der Arena 2001 war es über 20 Jahre möglich, die ganze Breite der Nordkurve für Choreografien zu nutzen. Jetzt besteht die Polizei auf die Rundumsicht aus der Leitstelle, die bei Choreografien zeitweise verhängt wurde, obwohl das gesamte Stadion mit hochauflösenden Kameras überwacht wird.
Durch diese Kameras entstehen viele Aufnahmen. Das zeigt etwa ein Ereignis aus dem Mai 2023 – als noch Choreografien genehmigt wurden. Nach der Bundesliga-Partie zwischen dem FC Schalke 04 und Eintracht Frankfurt kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Fans. Es gab mehrere Verletzte. Im Anschluss arbeitete eine Ermittlungskommission über ein Jahr an der Suche nach Verdächtigen, bevor im April 2024 die Fotos von 69 verdächtigen Personen im Internet veröffentlicht wurden. Die „Bild“ druckte nach der Veröffentlichung der Fahndung durch die Polizei zahlreiche Fotos der gesuchten Personen auf einer kompletten Zeitungsseite ab.
Fotofahndung und die Erzählung vom gefährlichen Fußballstadion
Diese Fotofahndung hat heftige Kritik ausgelöst. Verschiedene Fangruppen und die Ultras haben das Vorgehen im Stadion mit Sprüchen auf Transparenten kritisiert. Kritiker bemängeln, dass die Veröffentlichung von Bildern unbeteiligter Personen Persönlichkeitsrechte verletzen könnte. Darunter auch die Königsblaue Hilfe, ein Fanhile-Verein, der bei Problemen mit Polizei und Justiz unterstützt: „Diese Massenfahndung aufgrund des schnell konstruierten Vorwurfs des Landfriedensbruch stellt für uns eine neue Qualität polizeilicher Repression dar, die Schrauben werden angesichts der EM im Sommer enger gedreht. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme darf zumindest stark angezweifelt werden!“
Die Polizei argumentiert, dass die Fotofahndung ein notwendiges Instrument zur Aufklärung von Straftaten sei. Fans halten dagegen, Menschen seien bei vergangenen Fotofahndungen fälschlich an den Pranger gestellt worden. Die Debatte um Datenschutz und Rechte der Betroffenen bleibt bestehen.
Sie zeigt sich auch in der Diskussion um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Oktober. Darin erklärte das Gericht Teile des BKA-Gesetzes für verfassungswidrig. Fans begrüßten das Urteil, da es Grundlagen der umstrittenen „Gewalttäter Sport“-Datei infrage stellt. Diese ermöglicht es, Fans aufgrund bloßer Verdachtsmomente zu erfassen – selbst wenn Verfahren später eingestellt werden. Die Konsequenzen reichen von polizeilichen Befragungen bis zu Reisebeschränkungen oder Stadionverboten.
Die Polizeiführung in Gelsenkirchen zeigt sich bisher unbeeindruckt von der Gerichtsentscheidung, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stärkt und bestimmte Datensammlungen als verfassungswidrig erklärt. Der Polizeipräsident Tim Frommeyer will nach seinen Äußerungen im Stadtrat offenbar weiter an dem bestehenden Verfahren festhalten.
Sicherheitsgipfel ohne Fans
Beim jüngsten Sicherheitsgipfel mit Vertretern von Politik und Sport wurde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kaum thematisiert. Stattdessen beschloss man die Einführung einer zentralen Stadionverbotskommission und bestätigte das Verbot von Pyrotechnik – einem anderen Dauerkonflikt.
Während die Polizei in Gelsenkirchen strikt gegen Pyrotechnik vorgeht, zeigen sich Vertreter der Feuerwehr offener für Vereinbarungen mit den Fans. Öffentlich äußern wollen sie sich dazu aber nicht. Ein kontrolliertes Abbrennen im Stadion, wie es in Dänemark oder Norwegen praktiziert wird, bleibt unrealistisch.
Vertreter der Fanszene waren bei dem Sicherheitsgipfel nicht eingeladen. Sie kritisieren, dass Fußballspiele als besonders gefährliche Ereignisse dargestellt werden. „Es gibt keine Statistik, auch keine Polizeistatistik, die darauf hindeuten würde, dass das Stadionerlebnis in Deutschland unsicher sei. Selbst Polizeizahlen belegen, dass Fußballstadien zu den sichersten Orten des Landes gehören, anders als vergleichbare Massenveranstaltungen, wie Volksfeste oder zuletzt das Oktoberfest“ kritisiert Thomas Kessen von der bundesweiten Fanorganisation „Unsere Kurve“. Im Vergleich zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, auf Volksfesten wie dem Oktoberfest höher ist als in deutschen Fußballstadien.
Kessen wünscht sich einen Dialog: „Wann definieren wir ‚Hochrisikospiele‘ endlich gemeinsam und erarbeiten auch die entsprechenden Vorgehensweisen und Lösungen endlich gemeinsam mit allen Beteiligten? Die in vielen Bundesländern bereits praktizierten ‚Stadionallianzen‘ zeigen deutlich, was durch den Einbezug weiterer Beteiligter erreicht werden kann. Wer an einer belastbaren Lösung interessiert ist, der sollte nicht auf Schlagzeilen und dumpfen Populismus setzen,“ fordert Kessen.
Stadionallianzen wurden erstmals in der Saison 2017/18 in Baden-Württemberg eingeführt. Seitdem haben sich weitere Bundesländer diesem Ansatz angeschlossen. Aktuell bestehen Stadionallianzen in sieben Bundesländern, darunter Niedersachsen, Bayern, Hessen und Sachsen. Beispielsweise führte Sachsen im Juni 2023 eine Tagung im Rudolf-Harbig-Stadion in Dresden durch, um die Einführung des Modells der Stadionallianzen an den sächsischen Vereinsstandorten der ersten bis vierten Liga voranzutreiben. In Gelsenkirchen gibt es solche Initiativen bisher nicht. Die Polizei setzt hier augenscheinlich auf einseitige Kommunikation ihrer Botschaften.
Gelsenkirchen hat andere Probleme
Wie seine Vorgängerin Britta Zur nutzt Frommeyer die sozialen Medien geschickt zur Selbstdarstellung und politischen Einflussnahme. Zunächst fällt die Inszenierung der Verantwortlichen bei der Veröffentlichung der Behördenfotos auf. Ein ehemaliger Pressefotograf der Funke Mediengruppe ist dafür zuständig. Unter Zurs Leitung nutzte die Polizei Gelsenkirchen Plattformen wie Twitter, Instagram und Facebook, um über Einsätze zu informieren und eigene Positionen in die Öffentlichkeit zu bringen.
Ein Beispiel für diese Strategie ist ein Tweet der Polizei Gelsenkirchen nach Zurs Amtseinführung: „Unsere Präsidentin schießt scharf mit Worten, wenn es sein muss. Dafür braucht sie keine Waffe.“ Das folgt dem Ansatz, polizeiliche Themen zu kommunizieren, bevor es andere tun.
Britta Zur nutzte Gelsenkirchen als Sprungbrett. Sie wurde erst Ordnungsdezernentin in Düsseldorf und ist inzwischen zur Bahntochter DB Sicherheit gewechselt. Maßnahmen gegen Fußballfans scheinen eine bewährte Strategie für Aufmerksamkeit zu sein. Doch während solcher Aktionen mediale Resonanz finden, bleibt die Bekämpfung organisierter und Jugendkriminalität eine deutlich größere Herausforderung.
Michael Voregger, Jahrgang 1961, ist freiberuflicher Medientrainer, Autor, Podcaster, Sozialwissenschaftler und Journalist. Er lebt und arbeitet in Gelsenkirchen. Als Journalist liefert er Beiträge zu den Themenschwerpunkten Internet, Digitalisierung und Medien (WDR, Deutschlandradio, die taz, etc.). Er führt Workshops zu Medienthemen online und in Präsenz für Stiftungen, Verbände und Landesmedienanstalten durch. Er ist anerkannter Projektleiter bei der Landesanstalt für Medien NRW und hat die Sendelizenz für den Bürgerfunk.
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