Von Armin Schmitt
Es war eine der erstaunlichsten Wendungen in dem fast 14 Jahre andauernden Syrien-Konflikt, als islamistische Milizen in den vergangenen Tagen in einer Blitzoffensive Damaskus eingenommen hatten. Mit dem Sturz des Präsidenten Baschar Assad durch die Miliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) wurde eine neue Ära im Nahen Osten eingeläutet, die gravierende Folgen für die Region und die Weltpolitik haben wird. Assad hatte in den vergangenen Jahren im Zuge des Syrien-Konflikts mithilfe Russlands, Irans und der Hisbollah zwei Drittel des Staatsgebiets von islamistischen Rebellen zurückerobert. In nur wenigen Tagen überrannten Islamisten nun die durch die syrische Regierung kontrollierten Gebiete, ohne auch nur einmal auf Widerstand vonseiten der syrischen Armee zu stoßen.
Der Sturz Assads dürfte zu einem erheblichen Einflussgewinn für die Türkei in der Region führen. Zwar steht nur ein Teil der siegreichen Islamisten unter ihrer direkten Kontrolle. Doch auch zu der islamistischen Gruppe HTS bestehen seit Langem über den Geheimdienst Verbindungen. Ein islamistisch grundiertes Regime in Damaskus wäre ideologisch in Erdoğans Sinne. Ankara will sich zum Amtsantritt des gewählten US-Präsidenten Trump als unverzichtbarer Gesprächspartner für die USA in der Region etablieren. Die Türkei dürfte nun darauf drängen, dass der quasi-autonome Status der kurdisch dominierten Gebiete im Nordosten Syriens revidiert wird.
Die Türkei pflegte im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 enge Kontakte zur Muslimbruderschaft, während die ultrakonservativen arabischen Staaten auf dem Status quo in der Region beharrten. Nun will Ankara in das Vakuum vorstoßen, das die Iraner in der Levante hinterlassen haben. Die Türkei will die Muslimbruderschaft in der Region wiederbeleben und damit faktisch die von Iran angeführte Achse des Widerstands schwächen. Das Wiedererstarken der Muslimbruderschaft in der Levante beobachten die reichen Golfstaaten bereits mit Sorge.
Hauptgewinner des Assad-Endes ist Israel. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu wirft Baschar Assad in seiner jüngsten Rede zum Waffenstillstand mit der Hisbollah vor, mit dem Feuer zu spielen. Nach dem Einmarsch der Islamisten in Damaskus prahlte Netanjahu damit, dass Assads Sturz ein direktes Ergebnis der Schläge sei, "die wir dem Iran und der Hisbollah versetzt haben". Dies habe eine "Kettenreaktion" in Nahost ausgelöst.
Es wird nun erwartet, dass Israel die Pufferzone zwischen beiden Staaten auf den Golanhöhen erweitert und damit faktisch weitere syrische Gebiete besetzt. Derzeit befinden sich IDF-Truppen auf dem Einmarsch in Richtung Damaskus. Viel spricht längst dafür, dass Israel mit Gewaltanwendung bereit ist sich Gebiete seiner Nachbarländer einzuverleiben, ohne sich Gedanken über das Völkerrecht zu machen. Zugleich bombardiert Israel seit dem Sturz Assads ununterbrochen Waffenlager in Syrien. Netanjahu befahl bereits die fast restlose Zerstörung der militärischen Fähigkeiten des Nachbarlandes. Laut der israelischen Armee wurden mehr als 480 Ziele in Syrien bombardiert. Die Marine des Nachbarlandes wurde laut Israels Verteidigungsminister Israel Katz praktisch komplett versenkt. Der US-Verbündete Israel griff Forschungszentren, Waffenlager, Marine-Schiffe, Flughäfen und Luftflotten in Syrien an. Damit warf Israel Syrien verteidigungstechnisch Jahrzehnte zurück.
Syrien droht nun ins Chaos zu stürzen. Es bleibt erstmal völlig unklar, ob die Islamisten unter der Führung der HTS in der Lage wären, regierungsfähig zu agieren. Sie würden in einem Zusammenspiel mit dem türkischen Geheimdienst in kurdische Gebiete in Nordostsyrien einmarschieren, um dort die autonome Regierung zu zerschlagen. Kurden würden sich wohl dagegen wehren. Die Assad-Gegner im islamistischen Lager sind untereinander zerstritten. Die Brigaden, die aus der Südprovinz Daraa in Richtung Damaskus marschierten, haben wenig für die Islamistenmilizen aus dem Norden übrig. Die Islamisten und Rebellen in Südsyrien scheinen sich der Herrschaft der HTS nicht zu unterwerfen und ihren eigenen Weg gehen zu wollen. Das Chaos in Syrien wird das Sicherheitsbedenken der Türkei verstärken. Ein militärisch neutralisiertes Syrien würde jedoch die Macht Israels im Nahen Osten weiter drastisch erhöhen.
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