Von Wladimir Kornilow
Es gibt kaum einen öffentlichkeitswirksameren Fall als die (angebliche) Vergiftung des russischen Überläufers Sergei Skripal und seiner Tochter Julia in der englischen Stadt Salisbury im März 2018. Wir alle erinnern uns an die lautstarken Anschuldigungen gegen Russland, die Ausweisung unserer Diplomaten aus verschiedenen Ländern, die Verhängung von Sanktionen und die Forderungen, den mysteriösen Vorfall zu untersuchen und die Täter hart zu bestrafen.
Mehr als sechs Jahre später findet in Großbritannien ein Prozess zu diesem Fall statt. Aber irgendwie läuft er eher im Stillen ab, ohne Aufregung, ohne Lärm, sogar ohne angemessene Berichterstattung in der lokalen Presse. Nicht nur das, offiziell ist es nicht einmal ein Prozess in Sachen der Skripals. Allen Unterlagen zufolge wird in London jetzt der Fall der Vergiftung von Dawn Sturgess verhandelt, dem offiziell einzigen Todesopfer der mysteriösen Substanz, die von London "Nowitschok" genannt wird. Zur Erinnerung: Die 44-jährige Sturgess starb im Juli 2018 in der Stadt Amesbury, elf Kilometer vom Wohnort des Überläufers Skripal entfernt.
In all diesen Jahren war es Russland, das am nachdrücklichsten eine umfassende Untersuchung des Falls gefordert hat. Für den Westen stand der Schuldige ohne jede Ermittlung vom ersten Tag an fest. Unsere Diplomaten waren es, die unermüdlich verlangten, dass ihnen zumindest ein wie auch immer gearteter Kontakt zu den Skripals gewährt wird, russischen Staatsbürgern, die irgendwo in den Tiefen des britischen Geheimdienstes spurlos verschwunden sind. Sind sie am Leben oder nicht? Was wird mit ihnen gemacht? Werden sie gefoltert? Alle Fragen der russischen Botschaft blieben unbeantwortet. Man kann sich nur vorstellen, welche Aufregung in der medialen Welt herrschen würde, wenn Bürger der Vereinigten Staaten oder Großbritanniens in Russland auf ähnliche Weise spurlos verschwinden würden. "Sie wollen nicht mit ihren Botschaften kommunizieren", erklärten uns die Briten. "Einem Gentleman glaubt man aufs Wort."
Es gab Hoffnungen, dass die Skripals wenigstens bei der Gerichtsverhandlung erscheinen oder zumindest über eine Videoverbindung sprechen würden – dies wäre ein Beweis dafür, dass sie am Leben sind. Doch am Vorabend des Prozesses wurde bekannt gegeben, dass dem Gericht nur schriftliche Erklärungen der beiden vorgelegt werden würden. Niemand interessiert sich dafür, unter welchen Umständen diese seltsamen Aussagen zustande gekommen sind.
Es gibt eine Menge seltsamer und offensichtlicher Ungereimtheiten in diesen schriftlichen Erklärungen. Der größte Teil der Aussage von Sergei Skripal ist der Widerlegung eigener früherer Äußerungen gewidmet, die er vor sechs Jahren nach der Wiedererlangung des Bewusstseins abgegeben hatte ("ich wurde missverstanden") und der Geschichten, die er seinen Nachbarn über sich erzählt hatte ("wenn ich das gesagt habe, war es übertrieben"). Insbesondere bestreitet er heute kategorisch, dass er ihnen jemals von seinen Geschäften in Spanien und Malta erzählt hat. Inzwischen stellen die Nachbarn eine berechtigte Frage: Was hat Skripal all die Jahre gemacht und woher hat er Geld? Diese Frage sollte ihm vor einem Gericht gestellt werden. Aber wie wir wissen, wird den Richtern diese Möglichkeit vorenthalten.
Ein wichtiger Satz hat sich in die Aussage eingeschlichen, den die britischen Medien lieber nicht hervorheben:
"Ich habe nie gedacht, dass das russische Regime versuchen würde, mich im Vereinigten Königreich zu töten. Wenn sie es gewollt hätten, hätten sie mich leicht töten können, als ich im Gefängnis war."
Eine vernünftige Annahme, wenn man versucht, ein einziges Motiv für die Aktionen der "verräterischen Russen" zu finden, um die offizielle Version der Ereignisse zu stützen! Warum sollte Moskau eine solche Jagd auf jemanden veranstalten, der zuvor lang genug in seiner Reichweite war? Aber niemand scheint sich die Frage nach dem Motiv zu stellen.
Besonders gespannt war man auf die Aussage eines weiteren wichtigen Zeugen, der "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" war. Die Rede ist von Colonel Alison McCourt, der Oberschwester der britischen Armee, auf deren verdächtige Anwesenheit am Tatort die russische Botschaft in Großbritannien ausdrücklich hingewiesen hatte. Aber auch sie erschien nicht vor Gericht und gab stattdessen eine schriftliche Erklärung ab.
Die Erklärung von McCourt (inzwischen im Ruhestand) für ihre Abwesenheit im Gerichtssaal ist ebenfalls überraschend: Es stellt sich heraus, dass sie immer noch wegen der Folgen einer Vergiftung behandelt wird. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, nach dem Vorfall in Salisbury noch vier Jahre lang weiter zu dienen und den Rang eines Brigadiers zu erlangen. Ihr Auftauchen in der Nähe des Vergifteten erklärte sie mit dem "Zufall": Sie war an diesem Tag mit ihren Kindern im Schnellrestaurant "Nandos" gewesen. Und in Salisbury war das nächstgelegene Restaurant dieser Kette, am nächsten zum Wohnort der Frau, die – noch so ein Zufall – auf die Bekämpfung tödlicher Viren spezialisiert war. Man hätte fragen können, ob der besagte Wohnort – rein zufällig – das geheime Militärlabor Porton Down war, das nur sechs Kilometer von dem Ort entfernt ist, an dem die Skripals vergiftet wurden. Aber die wertvolle Zeugin ist nicht im Gerichtssaal erschienen – es gibt also keine "unnötigen" Fragen.
Das heißt, statt Antworten auf die Fragen, die unser Staat immer wieder stellt, gab es neue Fragen und weitere Erklärungen zu den erstaunlichsten Zufällen. Zufällig erschien der Chefspezialist der britischen Armee für solche Vergiftungen blitzschnell bei den auf einer Parkbank liegenden Skripals. Zufällig verwechselte der Sanitäter, der nach dem Notruf eintraf, das Medikament und injizierte versehentlich genau dasjenige, das Skripal schließlich das Leben rettete und als einziges retten konnte. Niemand wusste angeblich, womit er vergiftet worden war oder wie man ihn behandeln sollte. Auch ist es reiner Zufall, dass das Labor in Porton Down genau in der Mitte zwischen den Vergiftungsorten der Skripals und dem von Sturgess liegt. Alles absolut zufällig, nicht der Rede wert! Nur das Auftauchen der beiden russischen Staatsbürger Petrow und Boschirow irgendwo in der Nähe ist kein Zufall und ein unwiderlegbarer Beweis!
Wenn es sich um einen ehrlichen, fairen und ergebnisoffenen Prozess handeln würde, hätten all diese Fragen über die zahlreichen "Zufälle" den Prozessbeteiligten gestellt werden müssen. Aber der "Schuldige" ist ja längst benannt und mit diversen Sanktionen und der Ausweisung von Diplomaten bestraft worden! Deshalb braucht niemand mehr einen echten Prozess, er kann durch eine inszenierte Justizfarce ersetzt werden. Genau das tun die Briten nun.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 1. November 2024 auf ria.ru erschienen.
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