Israel: Die IStGH-Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant bringen die Bundesregierung

Die IStGH-Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant bringen die Bundesregierung in eine heikle Lage. Erstmals könnten enge Verbündete des Westens verurteilt werden – trotz einer massiven Geheimdienstkampagne gegen den IStGH.

Die am Donnerstag erlassenen Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag gegen führende israelische Politiker bringen die Bundesregierung in eine heikle Lage. Die IStGH-Haftbefehle betreffen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sowie seinen Ex-Verteidigungsminister Joaw Gallant.

Dass Berlin Regierungspolitiker eines eng verbündeten Staates nach Den Haag ausliefern würde, kann als ausgeschlossen gelten. Allerdings haben sich deutsche Regierungssprecher und Minister regelmäßig offen dazu bekannt, Entscheidungen der internationalen Justiz anzuerkennen und umzusetzen. Wie Berlin beides miteinander vereinbaren will, ist unklar. Konservative Oppositionspolitiker legen nahe, die Haftbefehle und damit den IStGH zu ignorieren.

Die Ausstellung der Haftbefehle ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil der IStGH laut Recherchen britischer und israelischer Medien Ziel einer jahrelangen massiven Geheimdienstkampagne Israels war.

Gelingt es ihm, den Prozess gegen Netanjahu und Gallant erfolgreich zu Ende zu bringen, verurteilte er zum ersten Mal enge Verbündete des Westens. Dessen globale Parteigänger könnten nicht mehr prinzipiell auf Straflosigkeit hoffen. (Das Biden-Harris-Regime hat Israels Angriffsplan gegen den Iran geleakt)

Hunger als Waffe

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat, wie er am gestrigen Donnerstag bekanntgab, Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sowie gegen den kürzlich aus dem Amt entlassenen Ex-Verteidigungsminister Joaw Gallant ausgestellt. Zur Begründung erläutert der IStGH, beide trügen „strafrechtliche Verantwortung“ für sogenannte crimes against humanity.

Dabei gehe es zum einen um das Verbrechen, „Aushungern als Methode der Kriegsführung“ einzusetzen. Es lägen ausreichend Beweise dafür vor, dass Netanjahu und Gallant die Bevölkerung im Gazastreifen „absichtsvoll und bewusst“ diverser Dinge beraubt hätten, die für ihr Überleben unentbehrlich seien, darunter Nahrung, Wasser, Medikamente und andere medizinische Materialien sowie Treibstoff und Elektrizität.

Darüber hinaus habe der IStGH hinlänglich Grund zu der Annahme, dass Israels Premierminister und sein einstiger Verteidigungsminister sich der Verbrechen des Mordes, anderer grausamer Handlungen und der Verfolgung der Zivilbevölkerung auf der Basis rein nationaler Kriterien schuldig gemacht hätten.

Der IStGH bezieht dies etwa darauf, dass palästinensische Kinder an Unterernährung sterben, sowie darauf, dass Operationen und Amputationen ohne Narkose vorgenommen werden müssen: Israel verhindert die Lieferung auch von Anästhetika.

Recht und Gesetz

Die Haftbefehle gegen Gallant und vor allem gegen Netanjahu bringen die Bundesregierung in eine heikle Lage. Deutschland brüstet sich gewöhnlich wie kaum ein anderer Staat, dem internationalen Recht und der internationalen Gerichtsbarkeit verpflichtet zu sein. Nachdem der Chefankläger am IStGH, Karim Khan, am 20. Mai Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant beantragt hatte, erklärte ein Regierungssprecher in Berlin: „Grundsätzlich sind wir Unterstützer des Internationalen Strafgerichtshofs, und dabei bleibt es auch“.

Befragt, ob die Bundesregierung künftigen Entscheidungen des Gerichts Folge leisten werde, bestätigte der Sprecher: „Natürlich. Ja, wir halten uns an Recht und Gesetz.“ Außenministerin Annalena Baerbock betonte, man „schätze die Unabhängigkeit“ der Justiz; das gelte auch „für alle internationalen Gerichte“. „Wir können uns doch nicht aussuchen“, stellte Baerbock fest: „Heute gefällt uns mal ein Gericht und morgen nicht“.

Gleichzeitig ist kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung bereit wäre, die jetzt gegen Netanjahu und Gallant erlassenen Haftbefehle zu vollstrecken, sollte einer der beiden künftig einmal nach Deutschland reisen – zumal Berlin sich nun in der unangenehmen Lage befindet, mit einem Premierminister, der weltweit von der Justiz gesucht wird, aufs Engste zu kooperieren.

Das Gericht im Visier

Hält die Bundesregierung – stets bereit, feindliche Staaten im Handumdrehen aufs Schärfste zu verurteilen – sich bislang mit Reaktionen zurück, so liegen längst erste Stellungnahmen der konservativen Opposition vor. Bereits im Mai hatte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz geäußert, „schon die Beantragung“ der Haftbefehle sei, weil diese sich sowohl gegen israelische Regierungspolitiker wie auch gegen führende Funktionäre der Hamas richteten, „eine absurde Täter-Opfer-Umkehr“.

Der Vorwurf läuft mittlerweile ins Leere, denn Israel hat laut Eigenangaben alle drei Hamas-Vertreter, die der IStGH ebenfalls in Haft bringen wollte, inzwischen umgebracht.

Am gestrigen Donnerstag erklärte nun der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, für ihn sei es völlig „unvorstellbar“, dass etwa Netanjahu „auf deutschem Boden festgenommen“ werde.

Die Haftbefehle zeugten von „vollkommen ausbleibende Fingerspitzengefühl der Spitze“ des IStGH. Wadephul kritisierte, dass Baerbock für einen Richterposten am IStGH eine letztlich erfolglose Kandidatin nominiert habe und die Bundesrepublik seit März keinen IStGH-Richter mehr stelle; daher habe Deutschland in dem Verfahren nicht „Fürsprecher für das Recht auf Selbstverteidigung Israels sein“ können.

Wie Wadephul diese Aussage mit der von Berlin stets gelobten Unabhängigkeit der Justiz in Einklang bringen will, ist unklar.

  

„Wir wissen, wo Sie wohnen“

Der IStGH hat die Haftbefehle erlassen, obwohl er seit Jahren im Zentrum einer massiven israelischen Kampagne steht. Dies belegen umfassende Recherchen, die im Mai der britische Guardian und zwei israelische Medien – das +972 Magazine und Local Call – gemeinsam vorgelegt haben. Sie beruhen auf Interviews mit einer Vielzahl aktiver und ehemaliger israelischer Geheimdienst- und Regierungsmitarbeiter, mit Diplomaten, Anwälten und IStGH-Personal.

Demnach begann Israels Kampagne, nachdem Palästina im Jahr 2015 dem IStGH beigetreten war und dieser sich nun mit Israels Verbrechen auf palästinensischem Territorium befasste.

Einer der ersten Kampagnenschritte bestand darin, dass zwei Männer anonym an der Haustür der damaligen IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda klingelten und ihr einen Umschlag mit Bargeld und einer israelischen Telefonnummer übergaben – wohl ein israelischer Hinweis, hält der Guardian fest, „man wisse, wo sie wohne“.

In den folgenden Jahren hätten israelische Dienste Telefongespräche, Textnachrichten und E-Mails von Bensouda und ihrem Nachfolger Karim Khan abgehört, Schmutzkampagnen gestartet, Druck ausgeübt und angeblich auch Drohungen ausgesprochen.

Vor allem gegenüber der Gambierin Bensouda habe man keine Hemmungen gekannt: „Sie ist schwarz und Afrikanerin“, sagte eine Quelle dem Guardian, „wer interessiert sich für sie?“

„Wir nehmen dich aufs Korn“

Israels Geheimdienstkampagne gegen Bensouda verschärfte sich laut den Recherchen des Guardian, des +972 Magazine und von Local Call, als sich abzeichnete, der IStGH könne ein Verfahren gegen Israel eröffnen – und zwar schon lange vor dem 7. Oktober 2023.

Demnach begann der damalige Mossad-Chef (2016 bis 2021) Yossi Cohen, ein enger Verbündeter Netanjahus, Bensouda ungefragt aufzusuchen und anzurufen, um sie für israelische Anliegen einzunehmen. Als dies nicht gelang, habe er „Kommentare über Bensoudas Sicherheit“ und über ihre Karriereaussichten gemacht; Bensouda habe dies einigen Kollegen beim IStGH mitgeteilt, heißt es unter Berufung auf Insider. Der Versuch israelischer Dienste, Bensouda per Verleumdungskampagne aus dem Weg zu räumen, sei gescheitert.

Als ihr Nachfolger Karim Khan, ein Brite, begonnen habe, sich nach Beginn des Gaza-Kriegs mit mutmaßlichen israelischen Kriegsverbrechen zu befassen, sei er gleichfalls aufs Schärfste attackiert worden, schreibt der Guardian. In einem geheimdienstlich abgefangenen Schreiben berichtete Khan, er stehe unter „gewaltigem Druck seitens der Vereinigten Staaten“.

Der Guardian zitiert aus einem Brief einer Gruppe einflussreicher US-Republikaner: „Nimm Israel aufs Korn, und wir nehmen dich aufs Korn.“

„Für Afrika und Ganoven wie Putin“

Dass weder die israelischen Geheimdienstoperationen noch immenser Druck aus den USA die Haftbefehle gegen Netanjahu und gegen Gallant verhindern konnten, hat Folgen, die weit über den aktuellen Fall hinausreichen.

Jahrelang hatte der IStGH, der am 1. Juli 2002 seine Tätigkeit aufgenommen hatte, ausschließlich als Instrument des Westens gegen missliebige Politiker aus dem Globalen Süden gedient.

Da zunächst ausschließlich afrikanische Politiker angeklagt wurden, wurde er auf dem Kontinent als „Afrika-Gerichtshof“ verspottet. Auch als der IStGH sein Tätigkeitsfeld auf nichtafrikanische Länder ausweitete, nahm er nur Vertreter von Staaten ins Visier, die mit dem Westen in Konflikt geraten waren, zuletzt insbesondere Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Einen Versuch von Bensouda, US-Verbrechen in Afghanistan zu ahnden, beendete Washington mit Sanktionen gegen die Chefanklägerin. Karim Khan hat berichtet, ein führender westlicher Politiker habe ihm gegenüber erklärt, der IStGH sei explizit „für Afrika und Ganoven wie Putin“ errichtet worden.

Mit Netanjahu und Gallant hat der IStGH nun erstmals führende Repräsentanten eines engen Verbündeten der transatlantischen Mächte ins Visier genommen.

Gelingt es, das Verfahren gegen sie zu Ende zu bringen und eventuell gar eine Verurteilung zu erreichen, dann könnten Verbündete des Westens und perspektivisch womöglich auch westliche Staaten selbst nicht mehr zuverlässig damit rechnen, vor der internationalen Justiz straflos zu bleiben.

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Quellen: PublicDomain/german-foreign-policy.com am 27.11.2024

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