Elektronische Patientenakte: „Das widerspricht der informationellen Selbstbestimmung“

Die Fachärztin Silke Lüder glaubt nicht an die Versprechen der elektronischen Patientenakte für alle. Stattdessen sorgt sie sich um die Folgen schlechter Aufklärung, das Ende der ärztlichen Schweigepflicht und Forschungsmüll.

Elektronische Gesundheitskarte für Versicherte der Krankenkassen
Stecken Versicherte ihre Gesundheitskarte in das Lesegerät einer Apotheke, dürfen die drei Tage lang auf die ePA zugreifen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / imagebroker

Im Februar 2025 kommt die elektronische Patientenakte für alle, die ihr nicht widersprechen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wirbt intensiv für das Vorhaben. Sein Versprechen: Alle wichtigen Gesundheitsdaten und damit die gesamte Krankengeschichte einer Person sind fortan an einem Ort einsehbar. Das mache Behandlungen effizienter und verbessere unterm Strich die Gesundheitsversorgung. Und Versicherte könnten genau nachvollziehen, welche Diagnosen gestellt und welche Leistungen für sie abgerechnet wurden.

Silke Lüder
Silke Lüder (Foto: Privat)

Wir haben mit Silke Lüder über die elektronische Patientenakte für alle (ePA) gesprochen. Sie ist Fachärztin für Allgemeinmedizin in Hamburg und kann auf ihre langjährige Erfahrung als Hausärztin zurückblicken. Sie ist außerdem Delegierte auf den Deutschen Ärztetagen und seit 2012 stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Ärzteschaft e. V. Mehrfach stand sie als Sachverständige dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages Rede und Antwort.

netzpolitik.org: Frau Lüder, die elektronische Patientenakte klingt nach einer Win-win-Situation für alle Beteiligten, oder?

Silke Lüder: Im Augenblick hat man eher das Gefühl, dass die Win-Situation sehr einseitig verteilt ist. Das Projekt läuft jetzt seit zwanzig Jahren. Und es war eher eines aus der Kategorie „Pleiten, Pech und Pannen“ mit Milliardenkosten, die niemand genau beziffern kann. Profitiert haben bisher die beteiligten Firmen, vor allem aus dem Bereich der Praxisverwaltungssysteme. Sie haben ihre Umsätze deutlich erhöhen können. In der medizinischen Behandlung sind die Vorteile bisher nicht angekommen.

netzpolitik.org: Kann die ePA denn keine der vielen Beschwerden im Gesundheitswesen lindern?

Silke Lüder: Seit zwei Jahrzehnten sehen wir, dass die Gesundheitsversorgung in Deutschland sich stetig verschlechtert. Im Jahr 2003 führte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Fallpauschalen-System in den Kliniken ein. Unterstützt wurde sie damals übrigens vom heutigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Die Folgen waren dramatisch. Es kam zu sprichwörtlichen „blutigen Entlassungen“. Patienten mussten vorzeitig die Kliniken verlassen. Und in den Krankenhäusern fehlt schon seit langem Zeit für individuelle Behandlung.

Ähnliches spielt sich im ambulanten Sektor unter den Bedingungen der Pauschalierung ab. Auch hier ist Zeitmangel für den einzelnen Patienten ein großes Problem. Das wird sich mit der geplanten „ePA für alle“ mit doppelter Datenverwaltung und zeitraubendem Suchen in einer unvollständigen PDF-Sammlung nicht verbessern, befürchte ich. Ganz im Gegenteil.

netzpolitik.org: Nach einem Testlauf in verschiedenen Modellregionen soll die ePA spätestens Mitte Februar bundesweit ausgerollt werden. Sind die Praxen ausreichend fit dafür?

Silke Lüder: Die Praxen werden zum großen Teil „fit“ sein. Sie werden ja massiv mit finanziellen Strafen dazu genötigt, jede Art teurer Software für den Start der ePA anzuschaffen.

Bisher ist die Industrie allerdings noch nicht in der Lage, die dafür notwendigen Tools zu liefern. Bisher hatten die Firmen noch keine Zulassung. Und ihre Programme konnten sie auch noch nicht in einer realen Testumgebung testen. Der bundesweite Rollout wird sich daher wohl auch noch verschieben, vermutlich bis in den April, wie man in den Testregionen hört.

Die Folgen schlechter Aufklärung

netzpolitik.org: Wie bewerten Sie, dass Versicherte einer ePA widersprechen müssen, um sie nicht zu erhalten?

Silke Lüder: Bei der Entscheidung über die Organspende hat der Bundestag jüngst die Freiwilligkeitslösung beibehalten. Also das Opt-in. Die Begründung ist interessant: Schweigen ist demnach keine Zustimmung.

Bei der ePA gelten andere Regeln, obwohl den meisten gesetzlich Versicherten vermutlich nicht einmal richtig klar ist, was die digitale Akte für sie bedeutet. Daran konnte auch die völlig unzutreffende Werbekampagne des Bundesgesundheitsministeriums wenig ändern. Denn sie informiert nicht darüber, dass die Daten der Versicherten künftig zentral gespeichert werden. Und dass Pharma- und Tech-Konzerne grundsätzlich damit forschen dürfen. Informationelle Selbstbestimmung hat Grundrechtsstatus in Deutschland. Dieses Recht ist nicht gesichert mit der jetzigen Widerspruchslösung.

Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein?

netzpolitik.org: Der Verbraucherzentrale Bundesverband kritisierte in der vergangenen Woche, dass die Krankenkassen den Versicherten eine informierte Entscheidung zur ePA erschweren. Was ist Ihr Eindruck?

Silke Lüder: Das ist eine völlig berechtigte Kritik. Viele unserer Patienten befürchten augenblicklich zwei Dinge, wenn sie der ePA widersprechen: Dass sie weniger Leistungen bekommen und dass ihre Behandlung schlechter wird, wenn sie die zentrale Datenspeicherung ablehnen. Das ist beides nicht der Fall, aber dieser Eindruck ist Folge der schlechten Aufklärung.

netzpolitik.org: Insgesamt gibt es verschiedene Widerspruchsmöglichkeiten für die Versicherten, unter anderem gegen die ePA selbst, aber auch gegen die Medikationsliste oder gegen die Nutzung der Daten zu Forschungszwecken. Behalten Sie da noch den Überblick?

Silke Lüder: Jedem auch noch so gut informierten Menschen fällt es schwer, die verschiedenen Widerspruchsmöglichkeiten zu überblicken. Und ihre Daten können Versicherte ja nur dann verwalten, wenn sie ein recht aktuelles Handy besitzen mit einer NFC-Funktion. Dann müssen sie sich die ePA-App ihrer Krankenversicherung holen. Und sie brauchen die PIN-Nummer, die sie mit Hilfe von Postident oder ihrem elektronischen Personalausweis bekommen. Insgesamt wird das nur ein kleiner Teil der Versicherten machen. Und damit ist die informationelle Selbstbestimmung aus meiner Sicht ebenfalls eingeschränkt.

„Die ärztliche Schweigepflicht besteht nicht mehr“

netzpolitik.org: Versicherte können in der ePA bestimmte Dokumente ausblenden und einzelnen Ärzt:innen oder Institutionen den Zugriff komplett verwehren. Wie können Ärzt:innen da noch sicher sein, die richtigen Diagnosen zu treffen?

Silke Lüder: Die ePA in der geplanten Form hat für Ärztinnen und Ärzte jede medizinische und juristische Verbindlichkeit verloren. Gleichzeitig muss klar sein, dass die jetzigen Kommunikationswege in der Medizin weiterlaufen wie bisher. Die werden durch die ePA nicht ersetzt. Auch in Zukunft bekommt jeder Hausarzt von den Fachärzten oder der Klinik einen Bericht, wenn er einen Patienten dahin überwiesen hat. Die Verpflichtung bleibt bestehen. Und auch wir haben unseren Patienten immer alle Berichte wieder mitgegeben, nachdem wir sie eingescannt haben. Die haben dann selbst den Überblick über ihre Daten. Dezentral und buchstäblich in ihrer Hand. Das finde ich deutlich sinnvoller.

netzpolitik.org: Praxen und Krankenhäuser sollen dabei helfen, dass Dokumente in die ePA gelangen. Außerdem sollen sie die Versicherten ausführlich über die digitale Patientenakte aufklären. Welcher Zusatzaufwand kommt auf die Behandelnden und ihre Mitarbeitenden zu?

Silke Lüder: Fehlende Behandlungszeit ist ein Hauptproblem im Gesundheitswesen. Natürlich wird es nicht möglich sein, dass Praxen und Kliniken die Aufklärungspflicht der Krankenkassen übernehmen.

netzpolitik.org: Apotheken sollen standardmäßig drei Tage lang die ePA einsehen können, wenn Versicherte ein Rezept einlösen. Verstößt das nicht gegen die ärztliche Schweigepflicht?

Silke Lüder: Die ärztliche Schweigepflicht gibt es seit rund 2.500 Jahren. Bei den neuen Zugriffsregelungen für die sensibelsten Arztbriefe besteht die in Zukunft nicht mehr. Alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen können erstmal auf sämtliche Daten zugreifen, die bisher der Schweigepflicht unterlagen. Dafür reicht es, wenn die Versicherten ihre Gesundheitskarte in das Kartenlesegerät stecken.

Und nicht nur die Apotheken können dann die Daten einsehen, sondern auch alle anderen Einrichtungen. Masseure, Pflegemitarbeiter, medizinische Fußpfleger und viele mehr. Als Betroffener kann man nicht erkennen, welche Mitarbeiter die Daten zu Gesicht bekommen. Und überhaupt registriert man den Zugriff nur, wenn man sich eingehend mit der ePA-App vertraut macht. Wer rechnet aber schon damit, dass die Apothekenmitarbeiterin nach Einlösen eines e-Rezeptes drei Tage lang einsehen kann, was die Frauenärztin oder der Psychiater in der ePA hinterlegt hat?

„Mit ePA-Daten entsteht eher Forschungsmüll“

netzpolitik.org: Die in der ePA abgelegten Daten werden auch der Forschung zur Verfügung gestellt. Karl Lauterbach sieht hier große Chancen im Einsatz von KI.

Silke Lüder: Die Einschätzung des Gesundheitsministers zum KI-Training teilt er möglicherweise nur selbst. Und es ist schlichtweg skandalös, dass Lauterbach offenbar auch mit US-Konzernen wie Meta, Open AI und Google spricht, die ihre KI-Systeme mit den Gesundheitsdaten von zig Millionen Versicherten trainieren wollen.

netzpolitik.org: Ist die Losung „So viele Daten wie möglich in einen Topf“ aus Ihrer Sicht der richtige Ansatz für eine bessere Gesundheitsversorgung?

Silke Lüder: Daten heilen nicht, auch wenn der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn und der derzeitige Minister Lauterbach sich da augenscheinlich einig sind. Führende Forschungsexperten wie Jürgen Windeler, der kürzlich auf dem Kongress der Freien Ärzteschaft in Berlin vorgetragen kann, bestreiten das. Gute medizinische Forschung ist auf sinnvolle Fragestellungen, gute Daten und vergleichende Forschungsansätze angewiesen. Bei Forschung mit den ePA-Daten entsteht eher Forschungsmüll.

netzpolitik.org: Wie sollte die ePA aus Ihrer Sicht aussehen, damit sie sowohl den Bedürfnissen der Behandelnden als auch denen der Versicherten gerecht wird?

Silke Lüder: Es gibt Methoden, Daten dezentral zu speichern und auszuwerten. Das wird sowohl den Bedürfnissen der Behandelnden als auch der Patienten gerecht. Solche Ansätze werden aber nicht weiterverfolgt. Man will einfach den großen Datenpool haben. Die Krankheitsdaten von 84 Millionen Bürgerinnen und Bürgern können aber auf Dauer nicht geschützt werden. Es ist daher wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis es hier zu einem größeren Sicherheitsvorfall kommt.


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