Christliche Vergebung als Propagandawaffe – Deutschland startet Offensive an geistiger Front

Von Astrid Sigena

Nachdem bereits am vergangenen Montag mit dem Geschichtsprofessor Karl Schlögel ein ausgewiesener Russophober ("Russland ist der Feind") mit dem auf 100.000 Euro dotierten Gerda-Henkel-Preis geehrt wurde (RT DE berichtete), folgte am Tag darauf die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises (10.000 Euro Preisgeld) an die russische Exil-Journalistin Katerina Gordeeva. Dieser vom Börsenverein des deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e. V. und der bayerischen Landeshauptstadt München vergebene Preis wurde Frau Gordeeva für ihr Buch "Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg" zuerkannt, mit der Begründung, dass sie auch in literarisch eindrucksvoller Form dem Leid der einzelnen Menschen in der Ukraine Ausdruck verleihe.

Ihr Mitgefühl mit den ukrainischen Opfern des Krieges geht so weit, dass die BR24-Journalistin Christine Hamel ihr "Unsicherheit, Russisch zu sprechen, die Scham, Russin zu sein, die Irritation, für Russland verantwortlich gemacht zu werden" attestiert. In ihrer Dankesrede bittet Frau Gordeeva die Ukrainer um Vergebung:

"Heute habe ich dank des Geschwister-Scholl-Preises die Gelegenheit, diese Rede zu halten. Nochmals vielen Dank für diese Gelegenheit, die ich auch nutzen werde, um die Ukrainer zu bitten: Bitte vergebet uns eines fernen Tages, wann und wie ihr es könnt! Aber ich möchte auch, dass Sie wissen – und das halte ich für wichtig – dass es nicht mein ganzes Land ist, das sich diesem Wahnsinn ergeben hat. Es gibt Menschen, die Widerstand leisten. Ich kann bezeugen, dass sie einen sehr hohen Preis für ihren Widerstand zahlen, aber sie geben nicht auf und sie machen weiter."

Das "uns" in ihrer Rede lässt darauf schließen, dass sich Frau Gordeeva als Sprachrohr des gesamten russischen Volkes versteht.

Wem der nach Hans und Sophie Scholl benannte Preis verliehen wird, von dem geht man erst einmal aus, dass er in der Nachfolge dieser mutigen Widerstandskämpfer steht. Wie sieht es aber mit dem Russlandbild der Weißen Rose aus (denn die Geschwister Scholl waren ja Teil dieser Widerstandsgruppe)? Man kann der Weißen Rose generell ein positives Russlandbild zuschreiben. Merkwürdig, nicht? Obwohl doch damals Russland der "Feindstaat" war.

Als Spiritus Rector dieser Gruppe wird häufig Alexander Schmorell angesehen, dessen ursprünglich aus Ostpreußen stammende Familie während der Revolutionswirren um 1917 aus Russland fliehen musste. Seine früh verstorbene Mutter war orthodoxe Russin. Und dank der treuen Njanja, die die Familie Schmorell auch ins Münchner Exil begleitete, blieb der kleine Alexander in der russischen Kultur weiterhin verwurzelt und konnte seine Wertschätzung auch an seine deutschen Freunde weitergeben.

Drei Mitglieder der Weißen Rose (Willi Graf, Hans Scholl, Alexander Schmorell) waren als Teilnehmer des Russlandfeldzuges der Münchner Studentenkompanie im russischen Gschatsk stationiert (das heutige Gagarin im Gebiet Smolensk). Obwohl die ersten vier Flugblätter schon vor dem Russlandaufenthalt verfasst worden waren, ist das "Gschatsker Erlebnis" im Spätsommer/Herbst 1942 mit dem Kennenlernen der lebendigen russischen Kultur und den (eigentlich verbotenen) Kontakten mit russischen Gefangenen und Zivilisten für die Entwicklung der Weißen Rose zu noch entschlosserem Handeln keinesfalls zu unterschätzen. (Wer sich für die russischen Verbindungen der Weißen Rose interessiert, dem sei Igor Chramows "Die russische Seele der Weißen Rose" empfohlen). Insofern hat es schon ein seltsames Geschmäckle, diesen Preis ausgerechnet an eine Frau zu vergeben, die sich anscheinend für ihre Existenz als Russin schämt und der der Gebrauch der russischen Sprache peinlich ist.

Eine merkwürdige Koinzidenz zu Frau Gordeevas Bitte um Vergebung stellt der Brief des deutschen Auschwitz-Seelsorgers Manfred Deselaers dar. Dieser hat zusammen mit anderen Christen aus Deutschland, Polen und der Ukraine einen Brief an die russischen Glaubensbrüder verfasst. Darin bietet er ihnen Versöhnung und Vergebung an, knüpft daran aber die Bedingung der Umkehr des russischen Volkes und eines russischen Schuldbekenntnisses an. Eine sehr herablassende Form einer Friedensbotschaft!

Denn der Aufruf zur Umkehr und das Angebot der Versöhnung verkörpern ja immer auch ein Schuldgefälle: die eine Seite ist schuldig geworden, sie muss ihre Sünden bekennen und Buße tun, die andere Seite, an der der Täter schuldig geworden ist, bietet ihre Bereitschaft zu Vergebung an. Wer in Pfarrers Deselaers Weltsicht der Haupt-, wenn nicht Alleinschuldige ist, dürfte klar sein. Ein Zitat aus dem Interview mit katholisch.de genügt:

"Ohne die Dinge beim Namen zu nennen und ohne zu der eigenen Verantwortung zu stehen, gibt es keine echte Versöhnung. Das gilt auch für den Brief. Wir haben sehr direkt geschrieben, wie wir auf die Lage in der Ukraine schauen: Dieser Krieg wird von Russland geführt, um die Selbstständigkeit der Ukraine zu vernichten. Das wirkt für uns wie ein Völkermord, der täglich Leben kostet. Aber trotzdem wollen wir die Hand zu einer möglichen Versöhnung reichen."

Immerhin gesteht der in der Gedenkstätte Auschwitz tätige Priester den Russen huldreich zu, dass nicht alle Russen gleich schuldig seien.

Wer nach diesen Kostproben vermutet, dass das heutige, in der Ukraine Krieg führende Russland mit dem nationalsozialistischen Deutschland auf eine Stufe gesetzt werden soll, dürfte recht haben. Nicht allein, dass hier der Priester von Auschwitz (!) spricht, der katholische Gottesmann deutet es auch selbst an, indem er auf eine Form der Versöhnung hofft, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist:

"Und Menschen können sich verändern. Das geht nicht schnell und auch nicht einfach. Aber so ein Prozess ist möglich. Der Zweite Weltkrieg hat länger als drei Jahre gedauert. Dennoch hat die deutsch-polnische oder auch die christlich-jüdische Beziehung wieder eine neue Basis gefunden. Das erhoffe ich mir auch für die russisch-ukrainische Beziehung, die für uns in Europa von zentraler Bedeutung ist."

Der Text des eigentlichen Offenen Briefs sagt es noch radikaler, dass die Russen als Völkermörder zu betrachten seien:

"Der Zweck dieses Krieges besteht darin, dass Russland die Unabhängigkeit der Ukraine nicht anerkennt und sie zerstören will. Die Menschen in der Ukraine müssen sich in die russische Welt integrieren oder verschwinden. Das ist Völkermord. Warum tut Russland das? Warum lässt es die Ukrainer nicht ihr eigenes Land regieren? Warum werden ukrainische Kinder zur Umerziehung entführt, warum werden die besetzten Gebiete gewaltsam russifiziert? Warum denken Russen, dass sie keine Russen sein können, wenn sie nicht über die Ukraine herrschen? Warum dieser Hass auf Ukrainisches, warum diese Vernichtung?“

Und wenige Zeilen später wird sogar ein direkter Bezug zum Nationalsozialismus hergestellt:

"Im Zweiten Weltkrieg, dem Großen Vaterländischen Krieg, wollten die Deutschen andere Nationen versklaven und ausrotten. Dies geschah aufgrund einer rassistischen und antichristlichen Ideologie. Heute führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine, der mit christlichen Argumenten gerechtfertigt und ein heiliger Krieg genannt wird. Das ist ein schrecklicher Götzendienst, ein Verrat an Christus selbst. Warum baut Russland seine Kultur nicht auf christlichen Zeugnissen der Liebe und Barmherzigkeit, der unbedingten Achtung der Würde jedes Menschen?“

In dasselbe Horn stößt übrigens auch der FDP-Bundestagsabgeordnete (und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses) Marcus Faber, wenn er von der russischen Gesellschaft die Einsicht in die eigene Schuld und deren Aufarbeitung verlangt.

Ob diese doch recht heuchlerische Botschaft von Schuld und Vergebung im von nahezu allen Seiten bedrängten Russland Gehör finden wird? Die Verfasser des Offenen Briefs sagen es selbst: "Ohne Wahrheit ist das (gemeint ist wohl die Bekehrung und Heilung Russlands) jedoch nicht möglich. Wir können nicht so tun, als wäre nichts Schlimmes geschehen" –wohl ohne zu merken, dass bei diesem Fingerzeigen auf den Sünder Russland auch vier Finger wieder auf den Westen zurückweisen.

Denn wo ist da die Frage nach der Verantwortung des Westens (die verlogenen Minsker Abkommen, die Aufrüstung der Ukraine)? Wo die Frage nach der Verantwortung der ukrainischen Regierungen nach dem Putsch von 2014 (das mörderische "Barbecue" von Odessa, der Beschuss der sich dem Putsch entgegenstellenden Bevölkerung des Donbass, die Diskriminierung der Russischsprachigen in der nach Europa gewandten neuen Ukraine)? Lauter Fragen, die so im Westen nicht gestellt werden dürfen. Zumindest könnte eine aufrichtige Antwort gefährlich werden. Man mag Patriarch Kyrill die kompromisslose Unterstützung der Sonderoperation zum Vorwurf machen, seine Rede vom "heiligen Krieg" und vom "satanischen Westen" für unangebracht erachten. Aber wie ist dann dieser Missbrauch der christlichen Lehre von Versöhnung und Vergebung im Offenen Brief der westlichen Christen zu benennen?

Die Wahrheit wird euch frei machen, heißt es in der Bibel. Versöhnung und Vergebung wären wirklich dringend notwendig, in einem Krieg, der den beiden Völkern, den Russen und den Ukrainern, von Tag zu Tag schlimmeres Leid bringt. Aber dazu muss eben auch die Wahrheit auf den Tisch. Versöhnungsangebote ohne wahrhaftiges Bekenntnis sind nicht nur Heuchelei, sie sind auch eine Waffe im Propagandakrieg.

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