Wladimir Putin fordert Westen auf, seine alten Hegemonial- & Kolonial-Reflexe aufzugeben

Unsere Welt wird Zeuge der Zeitenwende: Die Globale Mehrheit hat die Zeichen der Zeit erkannt. Doch EU-Europa sollte sich auch aus Geiselhaft kolonialer Denkgewohnten als noch blinder Mitläufer der USA befreien.

Das Thema der Valdai-Veranstaltung in Sotchi lautete:

„Ein dauerhafter Frieden – auf welcher Grundlage? Universelle Sicherheit
und gleiche Entwicklungschancen im 21. Jahrhundert“.

Teil 1:
Wladimir Putin mit seiner Grundsatzrede an der 21. Jahrestagung des Valdai Clubs

F. Lukyanov: Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste, liebe Freunde, Teilnehmer des Treffens des Valdai-Clubs!

Wir beginnen die Plenarsitzung der XXI. Jahrestagung des Valdai International Discussion Club. Wir haben vier wunderbare und diskussionsreiche Tage hinter uns und möchten nun versuchen, einige der Ergebnisse zusammenzufassen. Ich bitte den Präsidenten der Russischen Föderation, Vladimir Vladimirovich Putin, ans Rednerpult.

Wladimir Putin: Ich danke Ihnen vielmals!

Guten Tag, verehrte Damen und Herren, liebe Freunde!

Ich freue mich sehr, Sie alle zu unserem traditionellen Treffen begrüßen zu dürfen. Vorab möchte ich Ihnen für Ihre Teilnahme an den scharfsinnigen und informativen Diskussionen des Valdai-Clubs danken.

Wir treffen uns am 7. November – einem bedeutendem Datum, welches sowohl für unser Land, wie auch die ganze Welt von Bedeutung ist. Die russische Revolution von 1917 war, wie die niederländische, englische und französische Revolution in jeder Hinsicht ein Meilenstein in der Entwicklung der Menschheit und hat den Lauf der Geschichte, das Wesen der Politik und Diplomatie und das der Wirtschaft und gesellschaftlichen Ordnung bestimmt.

Auch wir haben heute das Privileg, eine Ära radikaler, im Wesentlichen revolutionärer Veränderungen zu erleben und die hochkomplexen Prozesse im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts nicht nur zu verstehen, sondern auch direkt an ihnen teilzunehmen.

Der Valdai-Club – fast genauso alt wie unser Jahrhundert – besteht seit bereits 20 Jahren. Bei solchen Anlässen wird oft gesagt, dass die Zeit im Fluge verging, doch nicht in diesem Fall: Diese zwei Jahrzehnte waren nicht nur vollgepackt mit sehr wichtigen und teilweise dramatischen Ereignissen wahrhaft historischen Ausmaßes, sondern machten uns zu Zeugen bei der Entstehung einer völlig neuen Weltordnung, die sich in vielen Dingen davon unterscheidet, wie wir aus der Vergangenheit kennen, beispielsweise in Bezug auf das Westfälische – oder Jalta-System.

Neue Mächte sind im Entstehen. Völker werden sich ihrer Interessen, ihres Selbstwerts, ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses immer stärker bewusst und sind mehr und mehr entschlossen, die Ziele ihrer Entwicklung auf gerechte Weise zu verfolgen. Zugleich sehen sich die Gesellschaften einer wachsenden Zahl neuer Herausforderungen gegenüber: Von Aufsehen erregenden technologischen Veränderungen bis zu katastrophalen Naturkatastrophen, von skandalösen sozialen Spaltungen bis zu massiven Migrationswellen und akuten Wirtschaftskrisen.

Experten sprechen über Bedrohungen durch neue regionale Konflikte, globale Epidemien sowie komplexe, kontroverse ethische Aspekte in Wechselbeziehung zwischen Menschen und künstlicher Intelligenz, begleitet von Fragen zur Übereinstimmung von Tradition und Fortschritt.

Sie und ich haben einige dieser Probleme vorhergesehen, als wir uns zuvor schon trafen und diese sogar im Detail im Valdai-Club besprachen. Wir haben einiges instinktiv mit unserer Hoffnung fürs Beste, doch ohne den schlimmsten Fall auszuschließen, bereits kommen sehen.

Einiges hingegen kam für alle völlig überraschend. Die Dynamik war tatsächlich sehr stark. Die moderne Welt scheint in der Tat unberechenbar. Indem man 20 Jahre zurückblickt und sich das Ausmaß der Veränderungen vergegenwärtigt, um das auf die kommenden Jahre zu projizieren, so kann man davon ausgehen, dass die nächsten zwanzig Jahre sich nicht weniger, vielmehr noch komplexer gestalten werden. Der Umfang wird natürlich von einer Vielzahl verschiedener Faktoren abhängen. So, wie ich es verstehe, trifft man sich hier im Valdai-Club, um diese Entwicklungen zu analysieren und zu versuchen, eine Prognose abzugeben.

Auf solche Weise kommt es zur Stunde der Wahrheit: Die alte Weltordnung scheint unwiderruflich im Vergehen bzw. ist in Wahrheit schon dahingeschieden. Doch, sie ließ inzwischen einen ernsthaften und unversöhnlichen Kampf um die Bildung der neuen Weltordnung entstehen. Unversöhnlich vor allem deshalb, weil es sich nicht einmal um einen Kampf um Macht oder geopolitischen Einfluss handelt:

Es ist vielmehr ein Kampf um die Grundsätze, auf denen die Beziehungen zwischen den Ländern und Völkern in der nächsten historischen Etappe aufbauen werden.

Das Ergebnis wird darüber entscheiden, ob wir alle zusammen durch gemeinsame Anstrengungen in der Lage sein werden, ein Universum zu errichten, welches die Entwicklung aller ermöglicht und aufkommende Widersprüche auf Grundlage gegenseitiger Achtung vor Kulturen und Zivilisationen ohne Zwang und Gewaltanwendung löst. Und schließlich, ob die menschliche Gesellschaft ihre ethisch-humanistischen Grundsätzen bewahren und eine Person noch Mensch bleiben kann!

Auf den ersten Blick scheint es, dass es dazu keine Alternative gibt. Doch unglücklicherweise gibt es sie:

Das ist der Sturz der Menschheit in den Abgrund aggressiver Anarchie und innerer und äußerer Spaltung unter Verlust traditioneller Werte mit neuen Formen der Tyrannei inklusive Absage der klassischen Prinzipien von Demokratie entlang ihren Grundrechten und Freiheiten.

Immer häufiger wird Demokratie als Macht der Minderheit, doch nicht die der Mehrheit interpretiert. Selbst traditionelle Demokratie und die Macht des Volkes werden mit der Vorstellung einer abstrakten Freiheit gleichgesetzt, um derentwillen – wie manche meinen – demokratische Verfahren, Wahlen, Mehrheitsmeinungen, Redefreiheit und unvoreingenommene Medien, vernachlässigt oder geopfert werden sollen.

Die Bedrohung besteht durch Aufzwingen einer zur Norm erklärten totalitären Ideologien, wie der gegenwärtige Zustand des westlichen Liberalismus exemplarisch aufzeigt.

Heutiger westlicher Liberalismus ist meiner Meinung nach, zu extremer Intoleranz und Aggression gegenüber jeder Alternative, gegenüber jedem souveränen und unabhängigen Gedanken entartet. Das rechtfertigt inzwischen: Neo-Nazismus, Terrorismus, Rassismus und sogar massenhaften Genozid an Zivilisten!

Darüber geht es um internationale Konflikte und Konfrontationen, die mit der Gefahr gegenseitiger Vernichtung einher gehen. Waffen zu diesen Zwecken existieren, werden ständig verbessert und nehmen im Zuge technischer Entwicklung neue Formen an. Zugleich wächst der Kreis jener Länder, die solche Waffen besitzen. Niemand kann garantieren, dass sie in Folge des zunehmenden Anstiegs an Bedrohungen und letztlich Verfalls rechtlicher und moralischer Normen nicht auch eingesetzt würden.

Ich sagte zuvor, dass wir eine gefährliche Grenze erreicht haben: Die Forderungen des Westens nach einer strategischen Niederlage Russlands, des Landes, welches über das größte Atomwaffenarsenal verfügt, sind der Beweis für das unverschämte Abenteurertum gewisser westlicher Politiker.

Solch blinder Glaube in eigene Straffreiheit und ihren Exzeptionalismus könnte zu einer globalen Katastrophe führen.

Gleichzeitig sind die ehemaligen Hegemonen, welch seit der Kolonialzeit daran gewöhnt sind, die Welt zu beherrschen, zunehmend überrascht, dass man ihren Befehlen nicht mehr Folge leistet. Versuche, ihre schwindende Macht mit Gewalt aufrechtzuerhalten, führen zu allgemeiner Instabilität und wachsenden Spannungen, zu Opfern und Zerstörungen. Allerdings versagen diese Versuche, um das gewünschte Ergebnis zum Erhalt absoluter und unangefochtener Macht durchzusetzen. Denn, der Lauf der Geschichte lässt sich nicht aufhalten!

Anstatt die Vergeblichkeit ihrer Bestrebungen und die objektive Natur des Wandels anzuerkennen, scheinen gewisse westliche Eliten bereit, alles daran zu setzen, um das Entstehen eines neuen internationalen Systems, welches den Interessen der Globalen Mehrheit entspricht, zu durchkreuzen. In der Politik der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten hat sich in den letzten Jahren das Prinzip „Man soll niemanden angehören!“, oder „Wer nicht mit uns, ist gegen uns!“ immer stärker verbreitet. Mit erscheint eine solche Einstellung sehr gefährlich. Denn bei uns und in vielen Ländern der Welt gibt es das Sprichwort: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus!“

Chaos und eine Systemkrise wächst bereits in all jenen Ländern, welche versuchen, eine solche Politik durchzusetzen:

Das Streben nach Exklusivität, liberal-globalistischen Messianismus, ideologisches und militärisch-politisches Monopol erschöpft zunehmend jene Länder, die versuchen, einer solchen Politik nachzugehen

Sie treiben die Welt in den Abgrund: Das steht in klarem Widerspruch zu den wahren Interessen der Menschen – auch in den Vereinigten Staaten von Amerika und den EU-Ländern.

Ich bin zuversichtlich, dass die Menschen im Westen das früher oder später erkennen werden. Schließlich beruhten ihre früheren großen Errungenschaften stets auf einem pragmatischen, nüchternen Ansatz, der auf einer sehr harten, manchmal zynischen, aber rationalen Bewertung der Geschehnisse und ihrer eigenen Fähigkeiten beruhte.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen: Im Gegensatz zu unseren Gegenüber erachtet Russland die westliche Zivilisation nicht als Feind und stellt nicht die Frage: „Wir oder Sie!“ Ich wiederhole es noch einmal: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ – das sagen wir nie! Wir wollen niemanden belehren – wir wollen niemandem unsere Weltanschauung aufzwingen. Unsere Position ist offen, und sie lautet wie folgt:

Der Westen hat gewiss enorme menschliche, intellektuelle, kulturelle und materielle Ressourcen angesammelt, dank derer er sich erfolgreich entwickeln kann und eines der Schlüssel-Elemente des Weltsystems bleibt. Allerdings, ist der Westen eben „einer von“, gleichrangig mit anderen sich aktiv entwickelnden Staaten und Ländergruppen. Hegemonie findet in dem neuen internationalen Umfeld keine Berücksichtigung mehr.

Nachdem Washington und andere westliche Hauptstädte diese unwiderlegbaren, unumstößlichen Tatsachen begriffen und anerkannt haben werden, wird der Prozess des Aufbaus eines Weltsystems, das den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird, endlich in die Phase seiner wahren Entstehung eintreten. So Gott will, sollte dies so bald wie möglich geschehen. Das liegt im gemeinsamen Interesse, auch und vor allem in dem des Westens.

In der Zwischenzeit müssen wir – all jene, die an der Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens interessiert sind – zu viel an Energie aufwenden, um den destruktiven Aktivitäten unserer Gegner, die sich an ihr Monopol festklammern, zu widerstehen. Es ist offensichtlich, dass dies geschieht, jeder sieht es: Im Westen, im Osten, im Süden – überall. Sie versuchen, ihre Macht und ihr Monopol zu bewahren, was ganz offensichtlich ist.

Diese Anstrengungen könnten viel sinnvoller und effizienter zur Lösung gemeinsamer Probleme, die alle betreffen, verwandt werden: Von Demografie und sozialer Ungleichheit bis hin zu Klimawandel, Ernährungssicherheit, Medizin und neuen Technologien. Das ist es, worüber wir nachdenken sollten und das ist es, woran jeder arbeiten sollte.

***

Fortsetzung folgt

Übersetzung: UNSER-MITTELEUROPA

***

 



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