Rücktritt in Neubrandenburg – Provinzposse um eine Regenbogenfahne

Nach neun Jahren im Amt tritt nun der Bürgermeister von Neubrandenburg, Silvio Witt, zurück. Als Grund wird eine Regenbogenfahne vermutet, beziehungsweise die Tatsache, dass sie nicht mehr gehisst werden soll.

Vergangene Woche hatte dies die Stadtverordnetenversammlung beschlossen. In der Berichterstattung wird nun mehrheitlich erklärt, dieser Beschluss sei ein Zeichen der Intoleranz. Als Beispiel mag die Erklärung der SPD-Kreisvorsitzenden Nadine Julitz genügen:

"Die Tatsache, dass die Stadtvertretung der drittgrößten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns, dem industriellen Herz unseres Landes, der Stadt verbietet, sich weltoffen und tolerant zu zeigen, schockiert. Nicht weniger betroffen sind wir in diesem Zusammenhang über den Rücktritt von Oberbürgermeister Silvio Witt."

Nun ist öffentliche Beflaggung rechtlich geregelt. Die entsprechende Bestimmung ist in diesem Fall die Landesverordnung über die Beflaggung öffentlicher Gebäude, §4: Nicht hoheitliche Flaggen. An diesem Punkt wurden, nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, in letzter Zeit die Vorschriften deutlich gelockert ‒ über Jahrzehnte hinweg war eine Beflaggung überhaupt nur zu bestimmten Tagen zulässig, und dann auch nur mit hoheitlichen Flaggen, angefangen mit der Bundesflagge über die Landesflagge bis zu entsprechenden kommunalen Flaggen. Flaggen ausländischer Staaten durften nur zu besonderen Anlässen, wie Staatsbesuchen, überhaupt gehisst werden.

Die Aufweichung dieser Bestimmungen erfolgte im Zusammenhang mit der Manie, deutsche Fahnenmasten mit ukrainischen Fahnen zu behängen. Eine Beflaggung mit einer Regenbogenfahne ist nach der gegenwärtigen Rechtslage in Mecklenburg-Vorpommern zulässig, liegt aber in der Entscheidung der Kommune, also eben der Stadtverordnetenversammlung. Die dementsprechend nicht nur das Recht hat, sie an ihren Fahnenmasten zu platzieren, sondern, wenn sich die politischen Kräfteverhältnisse ändern, sie auch wieder abzunehmen.

Wobei es selbst in der aktuellen Version der Beflaggungsordnung einen Punkt gibt, der in diesem Zusammenhang Relevanz besitzt. Das "Setzen einer nicht hoheitlichen Flagge ist unzulässig, wenn 2. die Beflaggung sich als Unterstützung der Ziele einzelner politischer Parteien darstellt."

Was heißt, je kontroverser das Thema ist, zu dem mit einer Flagge Stellung bezogen wird, desto näher rückt der Punkt, an dem die entsprechende Flagge schon gar nicht mehr gesetzt werden dürfte. Und die unbestrittene Tatsache, dass die Regenbogenfahne bereits mehrfach attackiert wurde, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich genau um eine solche "Unterstützung der Ziele einzelner politischer Parteien" handelt.

Die Aussage der SPD-Kreisvorsitzenden, diese Flagge stehe für Weltoffenheit und Toleranz, dürfte inzwischen von vielen bestritten werden ‒ schließlich ist selbst im Bundestag die Aussage, es gebe zwei menschliche Geschlechter, inzwischen Grundlage für Ordnungsrufe, und es ist Grundlage von Strafverfahren, wenn man Markus "Tessa" Ganserer einen Mann nennt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat sich die Bedeutung dieser Fahne in der Wahrnehmung vieler geradezu umgekehrt und steht mittlerweile für vielfältige Intoleranz gegenüber all jenen, die Transsexualität zumindest für problematisch halten.

Gleichzeitig würde sich rechtlich durchaus die Frage stellen, nach welchen Kriterien Symbole einer Minderheit eine größere Bedeutung besitzen als die einer anderen Minderheit, ob also nicht die Fahne der örtlichen Metzgerinnung oder des Fußballvereins mindestens den gleichen Anspruch auf Sichtbarkeit besäße wie besagte Regenbogenfahne. Tatsächlich wird der festgelegte Satz der hoheitlichen Flaggen in der Praxis nur durch zwei weitere ergänzt, die ukrainische und die Regenbogenfahne.

Die Stadtverordneten für Neubrandenburg wurden im Juli neu gewählt, seitdem stellt die AfD dort die stärkste Fraktion. Der Antrag darauf, die Regenbogenfahne abzunehmen, wurde allerdings gar nicht aus den Reihen der AfD gestellt, sondern durch einen Ratsherrn der Wählergemeinschaft "Stabile Bürger für Neubrandenburg". Dieser wurde daraufhin als "mutmaßlich rechtsradikal" bezeichnet (Welt). Bürgermeister Witt wiederum hat im Sommer vergangenen Jahres, so berichtet die FAZ, ausführlich auf der Seite der Stadt für die Regenbogenflagge argumentiert. Sie war im Zuge der Auseinandersetzung auch durch Nazi-Symbolik ersetzt worden, wobei sich dann natürlich nicht erkennen lässt, ob diejenigen, die die Flagge austauschten, damit ihre Sympathie für diese Symbolik ausdrücken oder die Regenbogenfahne dadurch als Zeichen einer Haltung kritisieren wollten, die sie als faschistisch empfinden.

Übrigens wurde bereits zuvor in Neubrandenburg eine Fahne durch Nazi-Symbolik ersetzt: Im Juli 2022 wurde eben am Neubrandenburger Bahnhofsvorplatz die Fahne des Bundeslandes von Unbekannten durch eine Fahne der ukrainischen Nazi-Einheit "Misanthropische Division" ersetzt. Schon im April 2022 war das sowjetische Ehrenmal in Neubrandenburg in Blau-Gelb mit dem ukrainischen Faschistengruß "Slawa Ukraini" beschmiert worden. In der Neubrandenburger Außenstelle des Frauen-KZ Ravensbrück wurde die Gedenktafel ebenfalls in Blau-Gelb beschmiert, Hakenkreuz eingeschlossen. Was damals die Stadt Neubrandenburg nicht daran hinderte, die ukrainische Fahne vor dem Rathaus zu hissen. Unter Verantwortung von Bürgermeister Witt.

Wenn Witt also, bezogen auf den Tausch der Regenbogenfahne, von Tabubruch spricht und ausgerechnet die Kriegsgefangenen, die in Lagern um Neubrandenburg starben, anführt, ist das nicht ganz glaubwürdig. "Schon seit längerer Zeit nutzen Feinde der Demokratie die Möglichkeiten der Demokratie aus", schrieb er damals. Zum früheren Vorfall der ausgetauschten Landesfahne ließ sich von ihm keine Aussage finden ‒ ebenso wenig zu den Schmierereien offenkundig ukrainischer Nazis an den Gedenkstätten.

Witt ist jedenfalls für die aktuelle Berichterstattung ein Held. In seiner Einlassung zur Regenbogenfahne schrieb er laut FAZ, er habe "seine erste Regenbogenfahne in Form eines Pins als Fünfzehnjähriger geschenkt bekommen. Das seien bewegende Zeiten gewesen damals, als homosexuelle Handlungen unter Männern noch verfolgt und geahndet werden konnten."

Witt wurde 1978 geboren, in Neustrelitz. In der DDR war der berüchtigte Paragraf 175 Strafgesetzbuch, auf den er sich in dieser Aussage bezieht, bereits seit 1968 abgeschafft. Selbst im Westen wurde er 1989 nicht mehr umgesetzt. Weil es im Annexionsgebiet nicht durchsetzbar gewesen wäre, zu diesem von den Nazis verschärften Paragrafen zurückzukehren, wurde er 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Witt jedenfalls hatte nie Teil an den Auseinandersetzungen, die rund um diesen Paragrafen geführt wurden, und war in keiner Hinsicht durch eine darauf beruhende Verfolgung bedroht. So viel zu seiner persönlichen Ehrlichkeit.

Mittlerweile gibt es eine Online-Petition, die die Stadtvertretung auffordert, die Regenbogenflagge wieder zuzulassen. Ein unlauteres Spiel: Auch Mecklenburg-Vorpommern kennt die Möglichkeit des Bürgerentscheids, der zu dieser Frage jederzeit möglich wäre. Allerdings könnten an einem Bürgerentscheid, im Gegensatz zu einer offenen Online-Petition, nur Einwohner Neubrandenburgs teilnehmen, und es ist eher nicht zu erwarten, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Einwohnerschaft wesentlich von jenen der gerade erst erfolgten Kommunalwahlen abweichen. Was der Grund dafür sein dürfte, warum eben nicht auf den Straßen Neubrandenburgs Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt werden, sondern eine Online-Petition ins Netz gestellt wird.

Die Berichte über Witt und Neubrandenburg quellen über vor Verständnis, und der Grundtenor lautet, Witt stünde für Demokratie und Toleranz, und die Stadtverordneten, die gegen die Regenbogenfahne entschieden, stünden für das Gegenteil. Allerdings steht deren Entscheidung über der des Oberbürgermeisters, und er ist verpflichtet, das auszuführen, was die Gemeindevertreter entscheiden ‒ so funktioniert Demokratie auf kommunaler Ebene. Aber nicht nur das.

Im Grunde belegt Witt mit seinem Rücktritt, dass er das Amt des Bürgermeisters nicht wirklich verstanden hat. Denn er kann gern seine persönliche Geschichte erzählen, aber als Privatperson Silvio Witt. Als Bürgermeister ist er jedoch für alle Bürger der Gemeinde zuständig, nicht nur für die homosexuellen oder jene, die all seine Überzeugungen teilen. Wenn er sich beleidigt zurückzieht, weil die Stadt beschlossen hat, ein Symbol, das ihm persönlich ‒ privat ‒ etwas bedeutet, nicht mehr mit dem gleichen Rang wie die Landesfahne und die Stadtflagge zu versehen, zeigt das, dass er seine Position als Bürgermeister nicht als demokratischen Auftrag versteht (den ihm nur die Stadtverordneten erteilen können), sondern als eine Art persönlicher Spielwiese, die ihm als Provinzfürsten zur Verfügung steht.

Das Rätsel an der ganzen Geschichte ist jedoch, warum Witt zwar zurücktritt, aber erst zum 1. Mai des kommenden Jahres. Es sind zwar Fristen einzuhalten, die belaufen sich jedoch nicht auf sieben Monate. Wahlvorschläge für das Amt des Bürgermeisters müssen beispielsweise 75 Tage vor dem Wahltag eingereicht werden ‒ ein realistischer Zeitraum für die Ansetzung von Bürgermeisterwahlen sind also etwa 105 Tage oder 3,5 Monate.

Der Bürgermeister von Neubrandenburg ist hauptamtlich, nicht ehrenamtlich. Der Pensionsanspruch ist es jedenfalls nicht ‒ nach einer Gesetzesänderung vom Mai dieses Jahres können hauptamtliche Bürgermeister "in MV künftig schon nach einer Amtsperiode Pension erhalten, wenn sie das 45. Lebensjahr erreicht haben". Vor dieser Änderung waren dafür zwei Amtsperioden erforderlich. Witt ist gerade 45 und hat 2022 die zweite Amtsperiode begonnen. Damals wurde er noch mit großer Mehrheit wiedergewählt.

Vielleicht ist ja trotz der Vehemenz, mit der sich die deutschen Medienvertreter schützend vor die Regenbogenfahne werfen, irgendjemandem noch möglich, dieses Detail zu klären. Durchaus denkbar, dass sich darin eine weitere Information verbirgt, die Frage betreffend, wer in Neubrandenburg auf welche Weise tatsächlich für Demokratie steht. Die Vermutung, Witt trete aus persönlicher Betroffenheit ab, weil seine Fahne nicht mehr gehisst wird, wird jedenfalls durch die Vorlaufzeit bis zu seinem tatsächlichen Rücktritt sehr infrage gestellt.

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