Die Chatkontrolle-Achterbahn fährt in die nächste Schleife: Weil mehrere Länder weiterhin eine Sperrminorität bilden, wird das Thema beim EU-Ministertreffen am Donnerstag nur am Rande behandelt. Über den Verordnungstext, der eine gefährliche Massenüberwachung bringen würde, besteht weiter keine Einigkeit.
Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich erneut nicht auf einen gemeinsamen Entwurf zur Chatkontrolle einigen. Entgegen vorheriger Planungen ist das Thema nun auch von der Tagesordnung der Sitzung der Justiz- und Innenminister:innen am Donnerstag geflogen. Auf der Tagesordnung steht nun nur noch ein „Fortschrittsbericht“. Das bestätigte auch ein Sprecher des EU-Rats gegenüber netzpolitik.org.
Schon in der letzten Woche war die Chatkontrolle bei der Sitzung der Ständigen Vertreter im EU-Rat von der Agenda genommen worden, nachdem die Niederlande angekündigt hatten, sich zu enthalten.
Dadurch steht eine hauchdünne Sperrminorität im Rat gegen die Chatkontrolle. Sie wird gebildet unter anderem von Österreich, Belgien, Tschechien, Deutschland, Polen und den Niederlanden. Diese Länder repräsentieren mehr als 35 Prozent aller EU-Einwohner:innen. Stimmen sie dem Verordnungstext nicht zu, kann dieser nicht angenommen werden. Die Verhandlungen um den Text gehen deshalb weiter, bis weitere Länder zustimmen.
Kein echter Kompromissvorschlag
Verhandelt wird derzeit der Verordnungstext vom 24. September (PDF), den das Medium „Contexte“ zuerst veröffentlicht hatte. Obwohl Ungarn den Text schon verändert hatte, bleiben die Grundprobleme der Chatkontrolle auch bei diesem Vorschlag bestehen: anlasslose Massenüberwachung, falsche Verdächtigungen, das Ende von zuverlässiger Verschlüsselung und Probleme mit der IT-Sicherheit.
Elina Eickstädt, Sprecherin des Chaos Computer Clubs, kommentiert: „Ungarn scheint weiter auf Zeit zu spielen, um Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben.“ Es sei jetzt wichtig, dass die Mitgliedstaaten, die sich bisher gegen die Chatkontrolle ausgesprochen haben, bei ihrer Position bleiben, so Eickstädt weiter. „Wir sollten nicht vergessen, dass Ungarn noch bis Mitte Dezember Zeit hat, um eine Ratsposition zu verabschieden. Wir dürfen uns nicht von dem ständigen Hin und Her abschrecken lassen, sondern müssen weiterhin wachsam bleiben.“
Was ist die Chatkontrolle?
Die EU-Kommission will mit der sogenannten CSA-Verordnung gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder vorgehen. Sie möchte dafür Internetdienste per Anordnung verpflichten, die Inhalte ihrer Nutzer:innen automatisiert auf Straftaten zu durchsuchen und bei Verdacht an Behörden zu melden. Das EU-Parlament bezeichnet das seit fast einem Jahr als Massenüberwachung und fordert, nur unverschlüsselte Inhalte von Verdächtigen zu scannen.
Die EU-Staaten können sich bisher nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Mehrere Ratspräsidentschaften sind daran gescheitert, eine Einigung zu erzielen.
Jetzt versucht es Ungarn, das im zweiten Halbjahr 2024 die Ratspräsidentschaft innehat. Zuletzt hatte es vorgeschlagen, dass Dienste-Anbieter zunächst nur nach bekannten Straftaten suchen müssen – also nach Bildern und Videos, die bereits aufgefallen sind. Neues Material und Grooming sollen erst später verpflichtend werden, wenn die Technik gut genug ist.
Die Grundprobleme der Chatkontrolle bleiben bei dem Vorschlag der Ungarn bestehen: anlasslose Massenüberwachung, falsche Verdächtigungen, das Ende von zuverlässiger Verschlüsselung und Probleme mit der IT-Sicherheit.
Immer mehr scharfe Kritik
Das Vorhaben der EU-Kommission steht deswegen weithin in der Kritik – nicht nur von Digital- und Grundrechteorganisationen. Jüngst hatten mehr als 300 Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt vor der Verordnung gewarnt– auch in der ungarischen Version.
Scharfe Kritik übt auch die Gesellschaft für Informatik (GI): Der GI-Arbeitskreis Datenschutz und IT-Sicherheit warnt vor dem neuen Anlauf der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft. Zudem hat sich auch die internationale Dachorganisation der Informatik-Gesellschaften Council of European Informatics Societies (CEPIS) explizit dem offenen Brief gegen die geplante Verordnung angeschlossen.
Kürzlich hat sich auch das Forschungszentrum Informatik (FZI), eine Gründung des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums und der Uni Karlsruhe, in einem Positionspapier gegen die Chatkontrolle (PDF) gestellt.
Als ein weiterer erklärter Gegner der Chatkontrolle hat sich auch der niederländische Geheimdienst AIVD bekannt: Die geplanten Anordnungen für Anbieter von Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation seien ein zu großes Sicherheitsrisiko.
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