Von Michail Katkow
Alter neuer Plan
Andrej Jermak, der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, stellte klar: Ein Beitritt des Landes zur NATO sei Teil des "Siegesplans". Und er rief die westlichen Partner auf, die Warnungen Russlands nicht zu berücksichtigen. Selenskij selbst ist zuversichtlich, dass die Umsetzung seines Programms ermöglichen wird, die Feindseligkeiten in absehbarer Zeit ohne jegliche Zugeständnisse an oder Verhandlungen mit Moskau zu beenden.
Dmitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sieht in Kiews Haltung keinerlei rationalen Kern:
"Aus meiner Sicht ist eine solche Position ein fataler Fehler, ein systemischer Fehler. Das ist ein überaus gravierender Irrtum, der natürlich unweigerlich Konsequenzen für das Kiewer Regime haben wird."
Wie ein US-amerikanischer Beamter feststellte, gebe es in Selenskijs Plan "keine wirklichen Überraschungen, keine größeren Änderungen an den Spielregeln".
Die US-Nachrichtenagentur Bloomberg kommentiert: Eine derart "düstere Einschätzung" des Dokuments weise mit zunehmender Dauer des militärischen Konflikts auf ein zunehmendes Gefühl des Pessimismus innerhalb der NATO hin.
Das Wall Street Journal zitiert derweil einen weiteren Beamten:
"Ich bin nicht beeindruckt, da gibt es nichts Neues."
Dabei, so das Blatt, habe Selenskij doch hinter den Kulissen der UN-Generalversammlung den Vertretern der Vereinigten Staaten und der EU durchaus "maximalistische Vorschläge unterbreitet". Doch statt Zustimmung seien diese mit Betretenheit quittiert worden.
Insbesondere wartet Kiew auf internationale Finanzhilfe zur Wiederherstellung seiner Wirtschaft. Auch erwarte man entweder Sicherheitsgarantien, wie sie für NATO-Staaten gelten, oder gleich eine vollwertige Mitgliedschaft im Nordatlantischen Bündnis. Und außerdem viele moderne westliche Waffen, um tief in Russland zuzuschlagen und weiter ins Gebiet Kursk vorzudringen.
Westliche Medien ziehen Folgerungen in etwa im gleichen Tenor: Selenskijs "Siegesplan" sei nur ein Vorwand für einen neuen Versuch, zusätzliche finanzielle und militärische Unterstützung für Kiew herauszuschlagen. Und eine Methode, Biden in der Frage der Langstrecken-Lenkflugkörper unter Druck zu setzen.
Partnerschaftliche Beziehungen
Joe Biden zeigte sich über alles Obige nicht besonders begeistert und Selenskij begann, sich Sorgen zu machen. Falls Washington Nein sage, so der ukrainische Staatschef, würde das bedeuten, dass die USA jede mögliche Beilegung der Feindseligkeiten ablehnen, die Russland um den Sieg bringen würde. Selenskij wörtlich:
"Wir würden dann einen sehr langen Krieg bekommen – eine unmögliche, zermürbende Situation, die eine riesige Zahl von Menschen das Leben kosten würde."
Irgendeinen Ersatzplan, räumte der Chef des Kiewer Regimes ein, gebe es nicht. Wenn Biden nicht in diesen Plan einwillige, würden die Ukrainer mit dem weiterkämpfen müssen, was sie jetzt hätten – allerdings würde dies dazu führen, dass Russland die Ukraine "zu Grabe trägt".
Dennoch erinnerte Selenskij an einen möglichen "zweiten Friedensgipfel", zu dem Vertreter Moskaus eingeladen werden sollen. Dies kommentierte er mit den Worten:
"Aber damit das passiert, müssen wir den Plan ohne die Russen vorbereiten – denn leider scheinen sie zu denken, eine Art Rote Karte zu haben wie im Fußball, mit der sie alles anhalten und blockieren können. Unser Plan ist jedoch in der Entwicklungsphase."
Nach Angaben der Washington Post gibt es bisher keine Anzeichen für eine Änderung der Haltung Washingtons bezüglich des Einsatzes seiner Langstreckenwaffen gegen Russland. So meldeten Quellen des Blattes im Weißen Haus und im Pentagon, dass sie aus Kiew keine überzeugenden Erklärungen gehört hätten, warum denn nun Angriffe auf Ziele tief in Russlands Landesinnerem die Ukraine dem Sieg näherbringen würden – während eine Eskalation in diesem Fall garantiert sei.
Dabei weigern sich die Vereinigten Staaten bereits jetzt, Angriffe der ukrainischen Streitkräfte auf russische Energieanlagen, darunter Öllager, zu koordinieren, machte die Zeitung aufmerksam. Allerdings gibt es in Washington gerade hierzu sehr unterschiedliche Meinungen. Beispielsweise ist Verteidigungsminister Lloyd Austin dagegen, Kiew eine grundsätzliche Blankoscheck-Erlaubnis zum Einsatz von ATACMS-Gefechtsfeldraketen aus US-Fertigung gegen alle möglichen Ziele auszustellen – wohingegen der Chef des US-Außenministeriums Antony Blinken bereit ist, Vorschläge aus Kiew an Biden weiterzuleiten.
"Lame Duck" Biden
Laut des Politikwissenschaftlers Rostislaw Ischtschenko in einem Interview an RIA Nowosti untertreibe Selenskij noch:
"Selenskij hat Recht, wenn er über die Beerdigung der Ukraine spricht. Denn selbst wenn sein Plan genehmigt wird, wird vom Land kaum etwas übrig bleiben."
Ischtschenko ist der Ansicht, die ukrainischen Behörden hätten erkannt, dass Kiews Militär Russland nicht alleine besiegen könne. Deshalb hätten sie nicht vor allem darauf gesetzt, dass die westlichen Hilfen erhöhten würden, sondern darauf, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union in die Feindseligkeiten hineinzuziehen. Der Experte betont:
"Eine direkte Konfrontation zwischen Russland und dem Westen gibt Selenskij die Chance, dass Washington und Moskau beschließen, sich nicht gegenseitig mit Atomraketen beschießen, sondern sich ans Verhandeln zu machen."
Der ukrainische Politikwissenschaftler Konstantin Bondarenko hingegen lässt in einem Interview an eines der Medienhäuser des Landes die Möglichkeit theoretisch zu, dass Biden der Aufnahme Kiews in die NATO oder dem Einsatz von ATACMS gegen Ziele tief im Landesinneren Russlands zustimmen könnte. Nur werde es aber in der Praxis zu nichts führen, weil Biden ein scheidender Präsident sei. Das nächste US-Staatsoberhaupt, wer auch immer dies werden mag, wird eine solche Verantwortung wahrscheinlich nicht übernehmen. Der Analyst argumentiert:
"Die US-Amerikaner verfolgen ihre eigenen nationalen Interessen und schulden niemandem etwas. Sie können jederzeit erklären, dass Kiews Karte geschlagen ist. Und überhaupt, wie man schön sagt, dass die Probleme der Indianer den Sheriff nicht mehr interessieren."
Außerdem sei möglich, dass Seleskij die Präsentation seines "Siegesplans" als Anlass für seinen eigenen Rücktritt nutzen werde. "Er habe ja Russland besiegen wollen, aber der Westen habe ihm dies nicht vergönnt, also geht er. Und dann soll sein Nachfolger die angehäuften Probleme lösen."
Denn – und hier ist sich der Politikwissenschaftler sicher:
"Das meiste jedenfalls, was in der heutigen Sache von Selenskij kam, waren Versuche, eine große Rolle zu spielen und die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen."
Für Russland und die NATO-Staaten existiere der Ukraine-Konflikt auch gar nicht als eine separate Angelegenheit, fügt Bondarenko hinzu. Stattdessen gebe es eine ganze Reihe zusammenhängender Schwierigkeiten in den internationalen Beziehungen. Einschließlich Rüstungskontrolle betreffende Atomwaffen sowie Kurz- und Mittelstreckenraketen, aber auch die Verteilung von Einflusssphären. Und das alles werde man irgendwie noch lösen müssen.
Schneller geht es nicht – aber schlimmer für Kiew
Ruslan Bortnik, der Direktor des Ukrainischen Instituts für Politik, betont in einem Kommentar an Politeka: Wenn die US-Amerikaner Selenskij nicht geben, was er verlangt, wird sich die Front bis zum 1. Dezember 2024 ins Gebiet Dnjepropetrowsk verlagert haben. Er macht aufmerksam:
"Um dies zu verhindern, benötigen die ukrainischen Streitkräfte nicht nur die Erlaubnis zum Einsatz von Langstreckenraketen gegen Ziele in Russland, sondern auch weitere Waffenlieferungen. Die Ukraine hat 14 unbewaffnete Brigaden, von denen sich eine seit ihrer Gründung im Jahr 2022 in diesem Zustand befindet."
Aber auf jeden Fall werde der Konflikt nicht so schnell enden – laut Bortniks frühestens nach zwei Jahren. Und bis dahin werde die Frontlinie sich noch länger ausgedehnt haben. Insbesondere legte der Politologe Bewohnern der Städte Kriwoj Rog und Dnjepropetrowsk nahe, über einen Umzug nachzudenken.
Übersetzt aus dem Russischen. Ersterscheinung am 27. September 2024 bei RIA Nowosti.
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