Von wegen Künstliche Intelligenz: Indische Arbeitskräfte steckten hinter Amazons smarten Supermarktkassen

Mit einem angeblich KI-basierten Bezahlsystem wollte Amazon das Einkaufen revolutionieren. Jetzt beendet der Konzern das Experiment „Just Walk Out“ in seinen Supermärkten, einem Bericht zufolge soll es bis heute nicht richtig funktionieren. Amazon widerspricht, doch der Fall verrät viel über die globale Arbeitsteilung hinter KI.

Foto von der Außenseite eines modern aussehenden Supermarktes mit dem Schriftzug "Amazon Fresh" in grünen Leuchtbuchstaben
Eröffnung eines Amazon Fresh Stores in Washington DC CC-BY-SA 2.0 Ted Eytan via Flickr, Zuschnitt: netzpolitik.org

Amazon beendet in seinen Fresh-Supermärkten den Einsatz des Bezahlsystems „Just Walk Out“. Darüber berichtete zuerst das US-Medium The Information und beruft sich dabei auf interne Dokumente von Amazon. Das angeblich KI-basierte Abrechnungssystem sei bis zuletzt stark von der manuellen Überprüfung der Einkäufe durch mehr als 1.000 Arbeiter:innen abhängig und so teuer gewesen, dass es sich nicht lohne.

Ein „reibungsloser Checkout“, das ist Amazons Versprechen für Just Walk Out. Der Name – auf Deutsch etwa „einfach Rausgehen“ – soll für die Kund:innen von Amazon-Fresh-Supermärkten Programm sein: Statt an der Kasse anzustehen und die Artikel händisch zu scannen oder scannen zu lassen, soll das System dank Videoüberwachung und RFID-Chips die Einkäufe automatisch erfassen und den Preis eigenständig abbuchen. Laut dem US-Magazin Gizmodo war die Technik in mehr als der Hälfte der über 40 Amazon-Fresh-Geschäfte in den USA und dem Vereinigten Königreich als Ergänzung zu klassischen Supermarktkassen im Einsatz.

Den Medienberichten zufolge erlebten Kund:innen allerdings häufig kein reibungsloses Einkaufserlebnis. Schon länger gab es Streit um die Rechte an der Nutzung der biometrischen Videoaufnahmen; oft hätten Kund:innen zudem ihre Rechnungen für die Einkäufe erst Stunden später erhalten. The Information schreibt nun, dass die Technik weniger weit entwickelt ist, als Amazon behauptet hatte. Ziel sei es eigentlich gewesen, dass der Konzern lediglich fünf Prozent aller Just-Walk-Out-Einkäufe händisch überprüfen lassen müsse. Im Jahr 2022 hätten jedoch volle 70 Prozent manuell überprüft werden müssen, so The Information.

Gegenüber Gizmodo widersprach der Konzern der Darstellung von The Information und betonte, dass die Arbeitskräfte nur „eine kleine Minderheit“ der Einkäufe hätten überprüfen müssen. Die vorrangige Rolle der Arbeiter:innen sei es gewesen, Videoaufnahmen mit den passenden Metadaten zu labeln, um das Machine-Learning-Modell hinter Just Walk Out zu verbessern.

Auf Anfrage von netzpolitik.org bittet die Amazon-Pressestelle darum, lediglich mit einem allgemeinen Statement zitiert zu werden, das Eigenlob über die verbesserte Einkaufserfahrung enthält. Der Konzern präsentiert darin auch einen anderen Grund für die Abkehr von Just Walk Out: Demnach sei der Wunsch von Kund:innen gewesen, „ihren Kassenbon während des Einkaufs zu sehen“.

Mehr als 1.000 indische Arbeitskräfte

Unbestritten bleibt die Aussage von The Information, dass die angeblich mehr als 1.000 Arbeitskräfte, die die Datenarbeit hinter Just Walk Out erledigt haben, bei einem Outsourcing-Unternehmen in Indien beschäftigt waren. Der Fall ist somit ein weiteres Beispiel für die verborgene menschliche Arbeitskraft hinter dem, was Tech-Unternehmen gerne als „Künstliche Intelligenz“ verkaufen.

2019 sorgte etwa eine Bloomberg-Recherche für Schlagzeilen, die aufdeckte, dass Amazon mehr 30.000 Arbeiter:innen in den USA, Costa Rica, Indien und Rumänien beschäftigte, um die sprachgesteuerte „KI“ Alexa auf Amazons Smart-Speaker Echo zu trainieren. Zu diesem Zweck hörten die outgesourcten Arbeitskräfte die Aufnahmen von Echo an, ohne dass die Nutzer:innen davon wussten. Auch die Videoaufnahmen von Amazons angeblich smarter Überwachungskamera Ring werden von regelmäßig von Arbeiter:innen händisch durchgeschaut. Ähnliche Berichte gibt es über den „intelligenten“ Sprachassistenten von Google.

Auch wenn Unternehmen ihre Dienste gerne als „Künstliche Intelligenz“ vermarkten, kommen viele von ihnen nicht ohne permanente menschliche Unterstützung aus. „Hinter den Anwendungen stehen Millionen von Menschen, die Inhalte moderieren und Trainingsdaten etikettieren“, berichtete 2023 die KI-Forscherin Milagros Micelli im Interview mit netzpolitik.org. „Sie helfen auch dabei, die Daten überhaupt zu generieren, indem sie Bilder hochladen und Worte einsprechen. Es gibt sogar Mitarbeiter:innen, die sich gegenüber Nutzer:innen als KI ausgeben.“

Die Anthropologin Mary L. Gray und der Informatiker Siddharth Suri nennen das „Geisterarbeit“: Die unsichtbare Tätigkeit von Millionen Menschen, die das Funktionieren moderner Technologie überhaupt erst ermöglicht. Kritiker:innen weisen darauf hin, dass dieses System der Arbeitsteilung hinter KI an koloniale Ausbeutung erinnert: Während die Tech-Konzerne überwiegend in den USA sitzen und mit ihren Diensten Milliardenumsätze machen, stammen die meisten Geisterarbeiter:innen aus Ländern des Globalen Südens, schuften unter problematischen Bedingungen und erhalten oft nicht mehr als einen Hungerlohn.

Wir haben Amazon nach dem Beschäftigungsstatus und dem Gehalt der indischen Arbeitskräfte hinter Just Walk Out gefragt und darauf keine Antwort erhalten.

„Panoptischer“ Supermarkt wird auch in Berlin getestet

Amazon Fresh ist der Versuch des mächtigen US-Konzerns, mit der Lebensmittelversorgung einen weiteren Markt für sich zu erobern. 2007 als Lebensmittel-Lieferdienst gestartet, eröffnete Amazon Fresh seit 2020 zahlreiche klassische vor-Ort-Supermärkte. 2017 übernahm Amazon die Supermarktkette Whole Foods, die in Nordamerika und dem Vereinigten Königreich hunderte Geschäfte betreibt. Erste eigene vor-Ort-Geschäfte betreibt der als Onlinehändler groß gewordene Konzern zudem bereits seit 2018 unter dem Namen Amazon Go. In diesen kleineren Läden bleibt Just Walk Out offenbar weiter im Einsatz. Gleiches gilt für Geschäfte von Dritten, die die Technik implementiert haben, etwa einige Souvenirläden, Freizeitparks und Krankenhäuser.

Bis heute wird Amazons Vorstoß in das Supermarktgeschäft vom Versprechen begleitet, das Einkaufserlebnis dank technischer Innovation grundlegend zu verbessern. In den Fresh-Geschäften wird Just Walk Out nun mit der nächsten angeblich bahnbrechenden Einkaufsinnovation ersetzt: „Wir führen Amazon Dash Cart ein, unseren smarten Einkaufswagen“, schreibt uns ein Amazon-Sprecher. Dash Carts sind Einkaufswägen mit Scanner und Bildschirm, bei denen die Kund:innen ihre Einkäufe während des Einkaufs scannen. Außerdem soll es in Amazon-Fresh-Läden ab sofort ganz normale Selbstbedienungskassen geben, wie sie auch in Supermärkten in Deutschland seit einigen Jahren im Einsatz sind.

In Deutschland betreibt Amazon keine Supermärkte. Doch auch hier experimentieren andere Ketten mit neuen Kassensystemen. Im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg etwa testet Rewe einen Supermarkt, der flächendeckend Bewegungen im Geschäft aufzeichnet und die Rechnung automatisiert zusammenstellt. Verschiedene Kund:innen sollen dabei unter anderem mithilfe der schematischen Darstellung ihres Knochenbaus auseinandergehalten werden – in unserem Bericht nannten wir es deshalb einen „panoptischen“ Supermarkt. In einer Testphase, so hieß es von Rewe, brauche auch dieses System noch menschliche Überprüfung.


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