Der NATO-Gipfel in Washington: Ein Test sowohl für Biden als auch für die USA

Von Geworg Mirsajan

In Washington fand ein NATO-Gipfel statt. Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als wäre das Hauptthema die Ukraine. Das Kiewer Regime fordert von der NATO Waffen und einen klaren Plan für den Beitritt zum Bündnis. Der Westen hat der Ukraine in der Tat etwas geholfen – er versprach Luftabwehrsysteme sowie die Lieferung von einigen Dutzend F-16-Flugzeugen in naher Zukunft.

Der Hauptdarsteller auf der Bühne war dieses Mal jedoch nicht Selenskij. Wie CNN schrieb, sollte der NATO-Gipfel zu einem "öffentlichen Test der Gesundheit und der kognitiven Fähigkeiten des 81-jährigen Joe Biden" werden. Laut CNN wird "jede seiner Bewegungen, jede Geste, jedes Wort unter die Lupe genommen werden – vor allem, nachdem das Bild eines alternden und gelegentlich unartikulierten Oberbefehlshabers bei der Debatte in Atlanta im letzten Monat 50 Millionen Zuschauern eingebläut wurde".

Genau das ist geschehen, und es gab mindestens zwei Gruppen von Prüfern. Zur ersten gehören die US-Amerikaner selbst – die Elite der Demokratischen Partei sowie die normalen Wähler, die in weniger als drei Monaten den Namen des nächsten US-Präsidenten bestimmen müssen.

Die Demokratische Partei ist gespalten. Einige versichern, dass Biden dringend ausgewechselt werden muss, da sein Gesundheitszustand es ihm nicht erlauben wird, einen Wahlkampf zu führen und mit dem republikanischen Kandidaten Donald Trump zu konkurrieren. Andere sagen, dass Biden beibehalten werden sollte, und sei es nur, weil die Demokraten keine passable Alternative haben und Biden selbst nicht gehen will.

Man ging davon aus, dass im Falle eines miserablen Abschneidens des US-Präsidenten auf dem Gipfel alle Parteibosse geschlossen zu ihm kommen und ihn mit der Tatsache konfrontieren würden, dass er in Würde abtreten solle – auch unter der Drohung, sich auf Artikel 25 der Verfassung zu berufen, der mit Zustimmung des Kongresses eine vorzeitige Beendigung der Befugnisse des Präsidenten und einen unwürdigen Abgang erlaubt. Und eines der Argumente wird sein, dass die Zustimmung des Präsidenten bei den US-Amerikanern, die einmal mehr von seiner Unfähigkeit überzeugt sind, weiter sinken wird.

Biden hat diese erste Prüfung, die auf dem NATO-Gipfel stattfand, nicht bestanden. In seinen Reden wirkte der US-Präsident nicht überzeugend und wurde zum Helden neuer peinlicher Situationen – insbesondere als er über die Frau von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach, formulierte er die Worte in einer Art und Weise, dass es so klang, als hätte er ein intimes Verhältnis mit ihr.

Es überrascht nicht, dass unmittelbar nach dem Gipfel die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsieges des amtierenden Präsidenten bei den Buchmachern um fast ein Viertel sank (von 20 Prozent auf 15 Prozent) und die Spenden für seine Kampagne drastisch zurückgingen. Eine Reihe von gesponserten Spendenveranstaltungen wurde ganz abgesagt.

Andererseits weigert sich Biden weiterhin, aus dem Wahlkampf auszusteigen und greift sogar seine Kritiker an. In seinem Brief an die Kongressabgeordneten vom 8. August, der den US-Medien zugespielt wurde, erpresste Biden sie sogar mit der Wählerschaft. Er erklärte, dass die Vorwahlen vorbei seien, dass diejenigen, die versucht hätten, ihn in diesen Vorwahlen herauszufordern, verloren hätten und er genügend Stimmen habe, um auf dem Parteitag der Demokraten automatisch gewählt zu werden.

In den kommenden Tagen müssen die Demokraten entscheiden, ob sie den Druck auf den Präsidenten erhöhen und versuchen, eine passable Alternative zu finden, die es bislang nicht gibt, oder ob sie seine Nominierung akzeptieren. Und es bleibt keine Zeit zum Zögern – in der ersten Augusthälfte laufen in einer Reihe von US-Bundesstaaten alle möglichen Fristen für die Registrierung von Kandidaten ab.

Die zweite Gruppe von Bidens Prüfern waren Verbündete. Nach Angaben des ehemaligen US-Botschafters bei der NATO, Kurt Volker, kamen die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten nach Washington, um sich zu vergewissern, dass die USA bereit sind, die Organisation weiterhin zu führen. Und zwar nicht nur Bidens persönliche Bereitschaft, an dessen Wahlsieg immer weniger westliche Führer glauben, sondern auch die der Vereinigten Staaten selbst. Die Zeitung Christian Science Monitor schreibt:

"Die zweifelhaften politischen Aussichten des Präsidenten haben die Befürchtungen der Mitgliedsstaaten des Bündnisses über die Rückkehr des spalterischen Donald Trump ins Weiße Haus und darüber, was diese Rückkehr für das Bündnis und die gesamten transatlantischen Beziehungen bedeuten wird, noch verstärkt."

Diese Befürchtungen sind nicht überraschend: Unter Biden floriert die NATO. Das Nachrichtenmagazin Slate schreibt seinerseits:

"Biden hat viel getan, um das Nordatlantische Bündnis nach der abschätzigen und feindseligen Behandlung der NATO während der vierjährigen Präsidentschaft von Donald Trump wiederzubeleben … Biden sah in Bündnissen ein Schlüsselinstrument seiner Außenpolitik und proklamierte die NATO als das zentrale dieser Bündnisse, ohne die US-amerikanische Interessen und Werte in einer turbulenten Welt nicht lange überleben könnten."

Darüber hinaus vertritt die EU in Bezug auf die Ereignisse in der Ukraine inzwischen eine weitaus härtere Linie als die Biden-Regierung selbst. Und diese Haltung wird nur dann von Vorteil sein, wenn nach den US-Präsidentschaftswahlen ein Präsident und/oder ein Team im Weißen Haus sitzen, die bereit sind, bis zum letzten Ukrainer in den Krieg gegen Russland zu ziehen – die mit Europa ein gemeinsames "Kreuzritter"-Konzept gegenüber Moskau verfolgen werden.

Sollte jedoch mit Trump ein Pragmatiker ins Weiße Haus einziehen, der wiederholt seine Bereitschaft zu Verhandlungen mit Moskau erklärt hat, könnte sich Europa sowohl in dem Konflikt als auch im Verhandlungsprozess am Rande wiederfinden.

Weiterhin befürchtet die EU, dass Trump Europa ausschließlich als Rohstofflieferant anstelle von China benötigt und schätzt und dass er Europa mit Russland allein lassen wird, und sei es nur, weil Amerika in dieser Angelegenheit nicht mehr gebraucht wird. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Stephen Walt schreibt:

"Als die NATO 1949 gegründet wurde, erholten sich die europäischen Staaten gerade vom Zweiten Weltkrieg, und die UdSSR stellte eine Bedrohung dar, der Europa ohne die Vereinigten Staaten nicht gewachsen war. Europa selbst war ein wichtiges Zentrum der industriellen Entwicklung und daher ein wichtiger strategischer Gewinn. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die UdSSR und der Warschauer Pakt existieren nicht mehr, und Russland hat nicht die Fähigkeit, den europäischen Kontinent zu erobern und zu unterwerfen."

Europa ist immer noch ein Gewinn, aber die USA bekommen ihn auf eine andere Art und Weise – indem sie Ressourcen aus den europäischen Volkswirtschaften abziehen.

Warum also sollten die USA die Kosten für die Existenz der NATO tragen? Nach Ansicht von Experten wird Trump diese Frage stellen – und einen Großteil der NATO-Finanzierung auf andere Bündnisländer verlagern. Trump wird Europa dazu zwingen, sich selbst zu verteidigen, woran die europäischen Staats- und Regierungschefs schon lange nicht mehr gewöhnt sind. Das endgültige Ergebnis dieser Prüfung wird sich im Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen zeigen.

Ja, einige Medien, unter anderem der Economist, weisen darauf hin, dass eine der Optionen zum "Schutz der NATO vor Trump" darin bestünde, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Dies könnte zu einem hohen Konfliktniveau in der Region führen und Donald Trump daran hindern, sich mit Moskau zu einigen. Wie der NATO-Gipfel jedoch gezeigt hat, ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Aufnahme vor den US-Wahlen nahezu gleich null. Sie erfordert einen Konsens unter den NATO-Ländern, und im Moment sind die meisten Mitglieder des Bündnisses überhaupt nicht bereit, eine direkte militärische Auseinandersetzung mit Russland zu riskieren. Das gilt auch für die Vereinigten Staaten selbst.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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