Die Jugend ist immer noch links: Der Mythos vom Rechtsruck

Zugespitzte Schlagzeilen zum „Rechtsruck“ gab es in den letzten Monaten viele: „Jung, cool, rechts“, „Warum die Kids zur AfD rücken“, „Stimmungstief und Rechtsruck bei junger Generation“ oder noch kürzer im Spiegel „Jung, rechts, extrem“ (zum Beispiel hier, hier, hier, hier oder hier).

Die Wirklichkeit ist wohl eine andere. Die meisten wissenschaftlichen Studien zeigten bislang eher das Gegenteil: Dass Jugendliche und junge Erwachsene politisch eher links sind, dass sie „Ausländerfeindlichkeit“ fürchten und Maßnahmen gegen den Klimawandel befürworten. Und dass sie besonders stark gegen die AfD sind.

Shell-Jugendstudie widerspricht “Rechtsruck”

Hat sich an den Einstellungen von Jugendlichen grundlegend etwas geändert dieses Jahr? Ist etwas „ins Rutschen gekommen“? Nein, sagen Jugendforscher. „Auch in 2024 haben wir keine Veränderungen feststellen können, die auf einen ‚Rechtsruck‘ hindeuten“, sagt zum Beispiel die renommierte Shell-Jugendstudie.

Und sie warnen: Der vermeintliche „Rechtsruck“ ist eher eine Momentaufnahme und wird nicht von verlässlichen Daten getragen. Politische Einstellungen von Jugendlichen sind komplexer. Vereinfachungen und Labels helfen da nicht weiter. Im schlimmsten Fall verstärken sie die Abneigung von Jugendlichen gegenüber Politik.

Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Es gibt eine leichte Zunahme neurechter und demokratiegefährdender Einstellungen in der gesamten Gesellschaft (auch laut der ganz neuen Leipziger Autoritarismus-Studie). Das ist ein wichtiges Thema, auch für die Medien. Aber diesen Trend auf Jugendliche zu verengen, ist falsch und lenkt von den wirklichen Problemen ab.

„Rechtsruck“ bei Jugendlichen? – die wichtigsten Behauptungen im Faktencheck

These 1: „Jugendliche wählen stärker rechts als früher“

Stimmt teilweise. Der Hauptauslöser für viele Artikel zum „Rechtsruck“ waren die Wahlergebnisse vom Sommer. Bei der Europawahl im Juni legte die AfD zu (+4,9%) und lag bei Jugendlichen auf Platz 2. Der Trend schien eindeutig: „Die Jugend ist plötzlich nicht mehr links“, schrieb die Bild.

Der Trend war geboren. Aber so schnell geht es nicht, warnen Fachleute. „Die Wahlergebnisse waren nur eine Momentaufnahme“, sagt Politikwissenschaftlerin Nina Kolleck von der Uni Potsdam. „Man kann von der Europawahl nicht verallgemeinern.“ Zum einen, weil es bei dieser Wahl keine 5-Prozent-Hürde gibt, weshalb viel mehr Menschen kleineren Parteien ihre Stimme geben. Zum anderen gebe es viel mehr Nichtwähler, besonders bei Jüngeren. Beides mache das scheinbar eindeutige Ergebnis weniger eindeutig. Außerdem hätten junge Wählende gar nicht häufiger die AfD gewählt als die Gesamtbevölkerung (16 Prozent). Also doch kein Trend?

Screenshot tagesschau.de

Das nächste Großereignis waren die Landtagswahlen. Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September kam die teils rechtsextreme AfD auf 30 Prozent oder mehr. Bei den jungen Wählenden sogar auf noch etwas mehr, zwischen 32 und 37 Prozent.

Wie bewerten das die Forschenden?

„Die Wahlergebnisse im Osten sind erschreckend“, sagt Mathias Albert, Jugendforscher von der Uni Bielefeld und Mit-Autor der Shell-Jugendstudie. „Es gibt bei den jungen Menschen im Osten einen erheblichen Anteil, der rechtsextreme Positionen einfach unterstützt.“ Aber dieser Anteil sei noch nicht so gefestigt, wie es aussehe. „Darunter sind immer noch viele Protestwähler. Die können auch schnell wieder weg sein, zum Beispiel zum BSW.“

Die Wahlergebnisse der letzten Monate erschienen zwar als „Rechtsruck“, sagt Jugendforscher Albert, „aber langfristig muss das nicht so sein.“ Die Volatilität, also die Wechselbereitschaft zwischen den Parteien, sei in den letzten Jahren enorm gestiegen. Und bei Jugendlichen sei sie ohnehin größer.

„Das ist kein Versuch, das kleinzureden. Aber dieser Anteil ist noch lange nicht so gefestigt, wie das in einzelnen Wahlergebnissen zum Ausdruck kommt“, so Albert Bei der letzten Bundestagswahl hätten noch sehr viele Jugendliche links-grün gewählt.

Was sagen Studien zur Rechtsruck-These?

Was den Osten angeht, gibt es nur wenige aktuelle Jugend-Befragungen, die repräsentative Ergebnisse geben können. Bei einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zu ganz Deutschland vom letzten Jahr, bevorzugten 15 Prozent der Jugendlichen ab 16 Jahre die AfD – etwa so viel wie auch in der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig lehnten zwei Drittel sie stark ab. So viel wie bei keiner anderen Partei. Eine Forsa-Umfrage unter jungen Wählern von Mitte 2024 sah die AfD bei 14 Prozent. Die Grünen lagen zum Beispiel bei 21.

These 2: „Jugendliche haben häufiger rechte Einstellungen“

Stimmt nicht. Auch wenn Online-Umfragen das behaupten. Neben den Wahlergebnissen vom Sommer war es eine Online-Umfrage im April, die eine deutliche Zunahme von rechten Einstellungen bei Jugendlichen feststellte. Die Jugend sei „so pessimistisch wie noch nie“ und „man könne von einem deutlichen Rechtsruck sprechen“, berichtete die Tagesschau über die „Trendstudie Jugend in Deutschland“. Die AfD profitiere davon am meisten und sei die beliebteste Partei bei Jugendlichen.

„AfD-Anhänger in meisten Online-Umfragen überrepräsentiert“

Viele Medien griffen die Ergebnisse der Online-Befragung auf. Dabei genügte die Studie kaum den Mindeststandards von Forschung. Fachleute nennen sie einen „Schnellschuss“ eines privaten Jugendforschers . Statistiker kritisierten die Methode.

Nachdem viele über die Ergebnisse berichtet hatten, gab es auch in den Medien Kritik an der Methodik: Die Ergebnisse seien verkürzt dargestellt worden. Außerdem seien in den meisten Online-Umfragen AfD-Anhänger „deutlich überrepräsentiert“, warnte das Meinungsforschungsinstitut Forsa in seinem Newsletter, wie Medien berichten.

Online-Umfragen sind zwar billig, aber sie haben einen großen Nachteil: Die Teilnehmenden werden nicht über ein Zufallsprinzip ausgewählt, sondern rekrutieren sich gewissermaßen selbst, indem sie auf die Online-Umfrage klicken. AfD-Anhänger sind aktiver im Internet, seien deshalb „generell überrepräsentiert“ und würden die Ergebnisse verzerren. Medien sollten bei solchen Umfragen deshalb besonders vorsichtig sein.

Was sagen die Studien?

„Wir sehen keinen Rechtsruck in den langfristigen Daten“, sagt Jugendforscher Albert. Er arbeitet mit an der renommierten und repräsentativen Shell-Jugendstudie, die seit Jahrzehnten durchgeführt wird. Ein Rechtsruck wäre es nur, wenn sich viel mehr Jugendliche als früher in der Umfrage rechts positionieren würden. Die politische Positionierung sei aber im Schnitt stabil. 46 Prozent sehen sich als „links“ oder eher „links“, zur „Mitte“ zählen sich 26 Prozent, 18 Prozent sehen sich als „rechts“ oder „eher rechts“. Vergleicht man die Zahlen der letzten Jahre, dann sieht man, dass sich Jugendliche aktuell bestenfalls wieder dem Schnitt annäherten.

„Wir sehen nur, dass diejenigen Jugendlichen, die sich rechts positionieren, das viel drastischer als früher ausdrücken.“ Das könne auch daran liegen, dass eine in Teilen rechtsextreme Partei wie die AfD solche Positionen inzwischen auch im Bundestag vertrete.

Die seriösen Jugendstudien sehen keinen „Rechtsruck“. Nur 4 Prozent bezeichnen sich laut Shell-Jugendstudie von diesem Jahr als „rechts“, 14 Prozent als „eher rechts“.  Die aktuelle Sinus-Studie spricht von einer „awaren“ Jugend, für die „Diversität selbstverständlich“ sei und Gender-Gerechtigkeit wichtig. Für die Kollekt-Studie von diesem Jahr waren die Befragten „im Durchschnitt leicht links der Mitte“. Nur 9 Prozent sehen sich als „rechts“.

Wie ordnen das die Forscher ein?

„Die politische Selbstverortung der Jugendlichen ist im Schnitt stabil geblieben“, ordnet Jugendforscher Albert ein. Junge Männer verorten sich etwas weiter rechts. Junge Frauen dafür eher weiter links. Aber: Neurechte und demokratiefeindliche Einstellungen seien in der Gesamtgesellschaft in den letzten Jahren leicht angestiegen. Das zeigen sowohl die Mitte-Studie, als auch die aktuelle Autoritarismus-Studie. „Jugendliche sind hier keine Ausnahme, sondern ein Abbild der Gesellschaft“, sagt Jugendforscher Albert.

These 3: „Jugendliche sind offener für Verschwörungstheorien“

Stimmt. Tatsächlich sind Jugendlichen etwas offener geworden für autoritäre Positionen und Verschwörungstheorien. Das muss nicht immer mit rechten Einstellungen einhergehen. Jugendliche folgen damit einem gesamtgesellschaftlichen Trend: So zeigt die Mitte-Studie von 2023 einen deutlichen Anstieg von Verschwörungstheorien und populistischen Positionen um rund ein Drittel im Vergleich zu 2021.

Wie ordnen das die Forscher ein?

„Jugendliche sind etwas empfänglicher geworden für populistische Positionen“, sagt Forscher Albert. Auch die Shell-Studie zeige, dass etwa die Hälfte populistische Positionen befürworte. „Die Bereitschaft autoritäre Positionen zu teilen, ist gestiegen“, sagt auch Forscherin Kolleck. Dabei spiele die Mediennutzung eine wichtige Rolle.

Es sei plausibel anzunehmen, dass Tiktok inzwischen das „Leitmedium“ sei, aus dem sich Jugendliche über politische Inhalte informieren. In der Corona-Pandemie habe die Bildschirmzeit im Schnitt deutlich zugenommen. Die AfD habe das früher erkannt und stärker bedient als andere Parteien, so Kolleck. Aber Jugendliche reagierten auch „extrem sensibel“ darauf, wenn sie merken, dass sie manipuliert werden sollen. Das sei ein Ansatzpunkt für politische Bildung, um sie bei der Auseinandersetzung mit solchen Inhalten zu stärken.

Was sagen die Studien?

Laut der Shell-Jugendstudie befürworten rund die Hälfte der Jugendlichen Aussagen wie: „»Eine starke Hand müsste mal wieder Ordnung in unseren Staat bringen“. Die Kollekt-Studie aus diesem Jahr sieht einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Beides sei während der Corona-Pandemie deutlich häufiger geworden – und zwar besonders bei Jugendlichen. Dabei seien die Kategorien links oder rechts weniger relevant. So gehe etwa die „Zustimmung zu eher linksliberalen, progressiven Werten“ einher mit der autoritären Forderung, Kriminalität härter zu bestrafen.“

Ein paar weiter Beispiele, wo die Einstellungen von Jugendlichen widersprüchlich scheinen: Einerseits stimmt rund die Hälfte der Aussage zu, dass der Staat sich „mehr um Flüchtlinge kümmere als um hilfsbedürftige Deutsche“. Gleichzeitig bleiben aber die meisten solidarisch mit Geflüchteten: Mehr als die Hälfte befürwortet die Aufnahme von Flüchtlingen (57 %). Ein Drittel hat Angst vor weiterer Zuwanderung – aber viel größer ist die Angst vor einem wachsenden Rassismus (58%).

Fazit

Politische Einstellungen von Jugendlichen sind stark im Wandel und teils widersprüchlich. Wissenschaftliche Studien können bisher keinen „Rechtsruck“ unter Jugendlichen feststellen. Die Wahlergebnisse vom Sommer seien vor allem eine „Momentaufnahme“. Stärker rechts positionierten sich vor allem junge Männer in Ostdeutschland. Allgemeine Befunde lassen sich daraus nicht ableiten.

Soziologen warnen in diesem Zusammenhang vor „Generationen-Labels“. Die führten oft in die Irre, und lenken davon ab, dass politische Forderungen von Jugendlichen oft nicht umgesetzt werden, sie „keine Stimme haben“, so die Sinus-Studie. Und die Mitte-Studie sagt es so:

 „Vielmehr frustriert viele Jugendliche das undemokratische Verhalten der Erwachsenen, wenn ihnen das Wahlrecht ab 16 oder Klimaschutzforderungen mit Verweis auf mangelnde Kompetenz verwehrt werden.“

Artikelbild: Screenshots wdr.de/freitag.de/welt.de / canva.com

The post Die Jugend ist immer noch links: Der Mythos vom Rechtsruck appeared first on Volksverpetzer.

Es gibt neue Nachrichten auf friedliche-loesungen.org
:

Nur wer angemeldet ist, geniesst alle Vorteile:

  • Eigene Nachrichten-Merkliste
  • Eigener Nachrichtenstrom aus bevorzugten Quellen
  • Eigene Events in den Veranstaltungskalender stellen
M D M D F S S
 
 
 
 
 
 
1
 
2
 
3
 
4
 
5
 
6
 
7
 
8
 
9
 
10
 
11
 
12
 
13
 
14
 
15
 
16
 
17
 
18
 
19
 
20
 
21
 
22
 
23
 
24
 
25
 
26
 
27
 
28
 
29
 
30
 
31