Barrierefreiheit: Wie ein Atlas in die Irre führt

Der „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ kommt zu dem Ergebnis, dass nahezu alle Online-Angebote der deutschen Kommunen erhebliche Mängel bei der digitalen Barrierefreiheit aufweisen. An der Auswertung waren erstmals auch Menschen mit Behinderung beteiligt. Das klingt fundiert recherchiert und dramatisch – allerdings nur auf den ersten Blick.

Ein Würfel mit einem labyrinth-ähnlichen Muster vor einer Wand mit einer ähnlichen Bemalung
Manche Studien sind nicht zielführend und verstellen die Sicht. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Clark Van Der Beken

Manchmal berichten Medien darüber, wie schlecht es um die digitale Barrierefreiheit bei deutschen Behörden bestellt ist. Dass Menschen mit Behinderung von vielen staatlichen Online-Angeboten ausgeschlossen sind, ist dabei längst keine Neuigkeit mehr.

Der neue „Atlas digitale Barrierefreiheit“ hat bei 97 Prozent der insgesamt 10.835 getesteten kommunalen Websites Mängel festgestellt. Das klingt zunächst schockierend hoch, deckt sich aber auf den ersten Blick weitgehend mit dem Bericht der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BFIT Bund) aus dem Jahr 2021. Er kam zu dem Schluss, dass keines der geprüften Digitalangebote alle Anforderungen erfüllen konnte. Insgesamt bewertete das BFIT jedoch 80 Prozent der Anforderungen als „erfüllt“.

Der „Atlas digitale Barrierefreiheit“ wird vom Verein „Inclusion Tech Lab e.V.“ herausgegeben. Nach Angaben des Vereins haben auch Menschen mit Behinderung daran mitgewirkt. Jede untersuchte Kommune konnte maximal fünf Punkte erreichen. Bestehende gesetzliche Vorgaben und Definitionen digitaler Barrierefreiheit wurden dabei allerdings nicht berücksichtigt. Stattdessen entwickelte der Verein gemeinsam mit behinderten Menschen ohne technische Vorkenntnisse eigene Testkriterien.

All dies erweckt den Anschein von direkter Betroffenheit, Authentizität und Glaubwürdigkeit. Tatsächlich weist die Studie aber grobe Schnitzer auf. Im Ergebnis könnte sie der Barrierefreiheit mehr schaden als nützen.

Keine qualitative Untersuchung

Die Untersuchung basiert auf den folgenden manuell geprüften Kriterien:

  1. Kann die Schriftgröße verändert werden?
  2. Gibt es eine Vorlesefunktion?
  3. Gibt es ein Angebot in Leichter Sprache?
  4. Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt?
  5. Kann man in wenigen Minuten herausfinden, wo man einen Termin zur Verlängerung des Personalausweises vereinbaren kann?

Die Kriterien 1 bis 4 ließen sich mit relativ geringem Aufwand auch automatisiert zuverlässig überprüfen. Dennoch hat sich der Verein für eine manuelle Prüfung entschieden. Ein Sprecher des Vereins bestätigte gegenüber netzpolitik.org, was auch auf der Internetseite des Projekts zu lesen ist: Eine technische Analyse habe nicht im Vordergrund gestanden. Vielmehr hätten sich behinderte Menschen dem Thema „aus ihrem eigenen Erleben heraus genähert“.

Die Prüfkriterien haben viel Kritik hervorgerufen, auch von behinderten Menschen. So sagte der Barrierefreiheitsexperte Dennis Westphal gegenüber netzpolitik.org:

Drei der fünf Kriterien sind aus meiner Sicht nicht nützlich, um Barrierefreiheit zu testen. Die Vorlesefunktion und die Schriftgrößenveränderung einerseits. Wer eine größere Schrift oder den Inhalt vorgelesen braucht, der braucht diese Funktionen systemweit und nicht auf jeder Internetseite erneut – und damit andersartig – implementiert. Ob das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt wird, ist zudem ein sehr merkwürdiges Kriterium. Schreibt eine Kommune also: „Barrierefreiheit ist uns komplett egal“ wäre dieses Kriterium erfüllt.

Darüber hinaus weisen die Daten der Erhebung gravierende Fehler auf oder sind veraltet. So erhielt die sächsische Landeshauptstadt Dresden keinen Punkt für ihr Angebot in „Leichter Sprache“, obwohl ein solches Angebot vorhanden ist. Gleichzeitig bekamen 38 Orte der rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinde Kirchberg (Hunsrück) die Höchstnote, obwohl ihre Seite offensichtlich keines der fünf Kriterien erfüllt.

Erfüllt ein Angebot die Kriterien 3 und 4 nicht, verstößt es gegen die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0). Behinderte Menschen haben dann die Möglichkeit, ein – oft langwieriges – Beschwerdeverfahren bei einer Durchsetzungsstelle einzuleiten. Jede behördliche Website muss mindestens eine „Erklärung zur Barrierefreiheit“ enthalten und grundlegende Informationen auch in Leichter Sprache anbieten. Die Kriterien 1, 2 und 5 werden von keiner Spezifikation in diesem Bereich abgedeckt.

Fragwürdiger Nutzen für die Inklusion

Auf Nachfrage von netzpolitik.org erklärte der Vereinssprecher zudem, dass aufgrund von Gemeindeverbänden in einigen Bundesländern statt der angekündigten 11.000 Links nur rund 7.000 verschiedene URLs überprüft worden seien. Also nur etwa zwei Drittel der Seiten, mit denen der Verein den Atlas bewirbt.

Die manuellen Überprüfungen führten Mitarbeitende der DasDies Service GmbH durch. Das Unternehmen ist eine Tochtergesellschaft der Arbeiterwohlfahrt und betreibt eine sogenannte Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM). Behindertenrechtsaktivist*innen wie Raùl Krauthausen fordern regelmäßig die Schließung dieser Betriebe, da die Beschäftigten dort in der Regel keinen Mindestlohn erhalten und die Vermittlungsquote an den sogenannten ersten Arbeitsmarkt bei unter einem Prozent liegt.

Die Überprüfung einer einzelnen Seite dauert schätzungsweise mehr oder weniger 15 Minuten. Legt man dabei den Mindestlohn zugrunde, kostet die Überprüfung von 7.000 URLs mehr als 26.000 Euro. Hinzu kommen Kosten für Marketing und die eigens entwickelte Projekt-Website. Die Aktion Mensch, die das Projekt finanziert hat, teilte gegenüber netzpolitik.org mit, dass die Förderung insgesamt 298.693 Euro betrug – mehr als das Elffache dessen also, was den mit Abstand größten Kostenpunkt des Projekts ausmachen sollte.

Unabhängig davon stellt sich die Frage, inwieweit es der Inklusion dient, wenn solche vermeintlich wichtigen Projekte ein grundsätzlich diskriminierendes System nutzen. Um das bloße Vorhandensein einzelner Funktionalitäten zu prüfen, spielt die Behinderung der Prüfenden keine Rolle.

Mehr Schaden als Nutzen

Akteure im Bereich der digitalen Barrierefreiheit befürchten, dass die Kommunen das Thema wegen der schlichten Prüfungskriterien auch weiterhin oberflächlich behandeln werden, anstatt für umfassende Barrierefreiheit und echte Teilhabemöglichkeiten zu sorgen.

Tatsächlich ist zu befürchten, dass die Behörden in Zukunft verstärkt auf automatisierte Lösungen wie „DigiAccess“ oder „EyeAble“ setzen werden, wie es beispielsweise auch die mit fünf von fünf Punkten bewertete Stadt Kiel tut. Diese sogenannten Overlays erweitern digitale Angebote zwar um eine Vorlesefunktion und können die Darstellung einzelner Webseiten individuell anpassen, garantieren aber noch keine Barrierefreiheit, wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und das European Disability Forum kritisieren.

In der Diskussion um Barrierefreiheit spielt auch die sogenannte Künstliche Intelligenz eine immer größere Rolle. Die Neue Rhein Zeitung zitiert den Vorstandsvorsitzenden vom Inclusion Techn Lab e.V., Dr. Raimund Schmolze-Krahn, in einem Artikel über den „Atlas“: „So könnte sich das Argument, dass zu teuer sind, bald erledigt haben“. Dass das einen großen Einschnitt in die Selbstbestimmung und die Freiheit von Menschen mit Behinderung bedeuten könnte, findet dabei keine Erwähnung.

Eric Eggert befürchtet, dass der Atlas in dieser Hinsicht mehr schadet als nützt. Eggert ist Experte für digitale Barrierefreiheit und ehemaliges Mitglied des World Wide Web Consortium. Auf Mastodon schreibt er über den „Atlas digitale Barrierefreiheit“:

Die ganze Aktion ist amateurhaft – was ok ist, wenn man die Sache entsprechend qualifiziert. Es gibt nämlich oft eine Dissonanz zwischen dem, was Menschen (mit Behinderungen ganz speziell) benötigen und was technisches Testen nicht abbilden kann. Diese Lücke schließen wir aber nicht mit Marketing-Kampangen, die nur dazu führen, dass Gemeinden Overlays auf ihre Seiten werfen, sondern mit guter, fundierter Barrierefreiheitsarbeit.

Eggert stellte fest, dass die Kampagnen-Website selbst einige Probleme mit der Barrierefreiheit aufweist.

Es gibt fundiertere Analysen

Der „Atlas digitale Barrierefreiheit“ enthält keine relevanten neuen Erkenntnisse. Neu sind vor allem der vermeintlich selbstbestimmte Anstrich und der regionale Bezug. Menschen mit Behinderungen könnten einen wesentlich wertvolleren Beitrag zur Verbesserung ihrer Teilhabemöglichkeiten leisten als mit einer solchen Analyse. Sie wissen aus eigener Erfahrung oft sehr gut, wie Probleme der Barrierefreiheit gelöst werden können. In vielen Fällen reichen die gesetzlichen Anforderungen aus, um diese Probleme aufzudecken.

Die BFIT Bund wird in diesem Jahr einen neuen Bericht für die Europäische Union vorlegen – mit wahrscheinlich ähnlich niederschmetternden Ergebnissen wie der Atlas. Allerdings ist der Bericht des BFIT Bund fundierter als dieser. Denn er stütz sich auf zahlreiche Fachgutachten, die die Überwachungsstelle in den vergangenen Jahren eingeholt hat.

Mit den Erkenntnissen aus diesen Gutachten können die Behörden an die Arbeit machen. Und sie können Expert*innen mit Behinderung einladen, die die Erkenntnisse des Berichts bewerten und gemeinsam mit den Behörden die angeführten Probleme beheben. Zielstrebig und ohne viele Irrwege.

Update, 1. Juli, 20:00 Uhr: Wir haben den Beitrag um Informationen von Aktion Mensch ergänzt.

Casey Kreer ist Software-Entwicklerin und arbeitet freiberuflich als Consultant für digitale Barrierefreiheit. Sie ist Aktivistin für die Rechte von Menschen mit Behinderung, insbesondere bei der Verwaltungsdigitalisierung. Casey engagiert sich für einen selbstbestimmten Zugang zu staatlichen Informationen und einen reflektierten Einsatz von künstlicher Intelligenz.


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