Warum die Bezeichnung „populistisch“ nicht verharmlosend ist

“Populistisch” zu sein, bedeutet nicht, einfach Dinge zu sagen, die die Leute hören wollen. Populismus ist weder harmlos noch besonders demokratisch. Eine Analyse von Politikwissenschaftler Dr. Marcel Lewandowsky.

Gastbeitrag Von Marcel Lewandowsky

Rechtspopulisten sind immer für Skandale und Auffälligkeiten gut. Aus dem Rahmen zu fallen ist Teil ihres Appeals. Eine Episode geht so: 2016 gab Matteo Salvini, der damalige italienische Innenminister und Vorsitzende der Lega, dem illiberalen russischen Philosophen Aleksandr Dugin ein Interview. Darin argumentierte Dugin, dass „Globalisten und Liberale“ das Label „Populist“ als Anwurf verwendeten, es aber eigentlich etwas Positives sei. Immerhin bedeute es ja, auf der Seite des Volkes zu stehen. Salvini gab zu, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin Populist“ zu besitzen. „Das ist eine Art freiwillige Kapitulation, aber ich bin stolz auf so einen ‚Fehler‘.“

Eine solche Koketterie wäre sicher undenkbar gewesen, hätte Salvini ein Kleidungsstück mit dem Text „Ich bin Faschist“ oder „Ich bin rechtsextrem“ getragen – er hätte ein solches T-Shirt gar nicht erst gewählt. Aber mit dem Populismus-Begriff spielen die Populisten inzwischen selbst, um zu provozieren und sich über die Kritik der „Globalisten und Liberalen“ lustig zu machen.

Populist ist ein Vorwurf, aber kein Stigma

Das ist möglich, weil „Populist“ in den Ohren der meisten Menschen recht harmlos klingt. Populisten stellt man sich als unseriöse Rattenfänger vor, volkstümlich; Dampfplauderer, die vorgeben, für die Mehrheit zu sprechen. Im politischen Kontext ist „Populist“ ein Vorwurf, aber kein Stigma. Der Faschist ist ein Dämon, der Populist ist ein Clown. Deshalb kann der bayrische Ministerpräsident Markus Söder im Diskurs ebenso gefahrlos als Populist tituliert werden wie Bernie Sanders oder manch Vertreter der AfD, als diese noch euroskeptisch und nicht rechtsradikal auftrat.

Aber je deutlicher die rechtsradikale Ideologie der AfD oder Donald Trumps hervortritt, desto mehr wird Bezeichnung „Populist“ für diese Akteure hinterfragt und kritisiert. Dahinter steckt ein Denken, das politische Ideologien auf einem Kontinuum von „demokratisch“ bis „totalitär“ anordnet. Der Populismus liegt dann irgendwo dazwischen. Jemand wie Söder tritt für manche „schon“ populistisch auf, während die AfD „nicht mehr“ populistisch sei: Sie ist demnach „bereits“ faschistisch, das sehe man an Björn Höcke und der Tatsache, dass mehrere ihrer Landesverbände durch die Verfassungsschutzbehörden als gesichert rechtsextrem eingestuft werden. Man solle, so etwa der Journalist Hanno Hauenstein, ganz davon absehen, die AfD als „populistisch“ zu bezeichnen. Denn das verschleiere ihre wahre Ideologie und verniedliche, was sie wirklich ist – eine in weiten Teilen demokratiefeindliche Partei.

Populismus ist weder harmlos noch besonders demokratisch

Nur ist Populismus weder harmlos noch besonders demokratisch, zumindest nicht im Sinne unserer liberalen, pluralistischen Demokratien. Populismus, so der Konsens in der Forschung, ist eine Ideologie, die den Willen des „wahren Volkes“ in den Mittelpunkt stellt und das „gute“ Volk gegen die vermeintlich korrupten, unfähigen, egoistischen politischen Eliten abgrenzt. Populismus ist genau genommen nicht anti-demokratisch, sondern illiberal. Er will eine Art „totale Souveränität“ für diejenigen, die er für die „schweigende Mehrheit“ hält. Damit schließt er an ein Scheinkonsens-Denken an, das Menschen, die Populisten wählen, tatsächlich haben. Sie glauben: So wie sie selbst denken die meisten, aber sie trauen sich nicht mehr, es zu sagen. Und die Populisten antworten: Wenn „die da oben“ endlich weg sind, habt ihr wieder das Sagen. Das illiberale Demokratieversprechen der Populisten muss man ernstnehmen, weil ihre Wähler es glauben.

Diese Haltung ist übrigens bei allen Populisten im Wesentlichen gleich – rechten wie linken. Aber Populismus tritt nicht allein auf, sondern wird von einer anderen Ideologie „huckepack“ genommen. Deutlicher wird das, wenn wir uns vor Augen führen, dass „rechtspopulistisch“ im Englischen meist als „populist radical right“ übersetzt wird. Eine Partei wie die AfD kombiniert also Populismus mit einer Ideologie aus Ungleichheit, Nationalismus und kulturellem Chauvinismus.

Man kann Populistisch und Rechtsextrem gleichzeitig sein

Weil diese Ideologie in den Aussagen der AfD im Vordergrund steht, liegt die Versuchung nahe, sich mit Bezeichnungen wie Rechtsradikalismus oder – für die offen demokratiefeindlichen Anteile der Partei – Rechtsextremismus zu begnügen. Wer aber den Begriff „Populismus“ ganz vermeidet, blendet weite Teile des Erfolgsmodells der AfD (und der FPÖ, Donald Trumps usw.) aus. Denn ganz gleich, wie leicht es von der Hand geht, sich damit zufrieden zu geben, dass die Wähler der AfD rechtsextrem sein müssen, weil sie eine rechtsextreme Partei wählen – er bildet die Motivationen und Einstellungen ihrer Wähler nur ungenau ab. Und das wiederum ist keine gute Voraussetzung für die Entwicklung von Gegenstrategien.

Bei einer Partei wie der AfD, die sich demokratischer gibt, als sie ist, ist es normal, dass Fachwelt und Öffentlichkeit darüber streiten, wie sie zu bezeichnen sei. In ihrer Anfangszeit galt sie den einen als neoliberal und euroskeptisch, den anderen bereits als populistisch und rechtsradikal. In der Retrospektive zeigt sich: die AfD war immer beides. Im elften Jahr ihres Bestehens ist sie nicht weniger feindlich gegenüber der EU als 2013 – eher im Gegenteil.

Der “Volkswille” war von Anfang an Teil der AfD

Aber das Thema spielt im Vergleich zu Asyl, Migration und anderen gesellschaftspolitischen Fragen für sie eine viel geringere Rolle. Überraschend kommt das nicht. Schon zu den ersten Wahlen in Bund, Ländern und Europa, zu denen sie antrat, wiesen ihre Unterstützer rechte Orientierungen in der Migrations- und Integrationspolitik auf – und nicht zuletzt genau jene populistische Vorstellung von Demokratie, für die die Partei steht. Und das von Beginn an. Selbst der verhältnismäßig moderat auftretende Bernd Lucke, die ersten beiden Jahre das Gesicht der Partei, sprach vom „Volkswillen“ und davon, dass die Opposition in Deutschland aufgehoben sei.

Ob euroskeptisch oder rechtsradikal: Populismus war immer das Bindeglied zwischen den Wählern und ihrer Partei. Und man kann nicht genug betonen, dass Populismus nicht dasselbe ist wie Demagogie, Volkstümlichkeit oder Opportunismus. Populismus mag vage sein, aber er verkörpert eine Vorstellung davon, wer „wir“ sind, wer „die da oben“ sind und wie Demokratie zu sein hat. Menschen mit populistischen Einstellungen teilen die Welt ein in Gut und Böse, fühlen sich unterdrückt und benachteiligt von einer vermeintlich abgehobenen politischen Klasse.

Toleranz von politischer Gewalt

Und: Mehr als andere tolerieren sie oder befürworten gar politische Gewalt. Und zwar nicht einfach aus purer Bosheit, sondern weil sie sich oftmals in einer Art Diktatur wähnen, gegen die sie Widerstand leisten müssen. Am Sturm auf das US-Capitol am 6. Januar 2021 beteiligten sich viele Menschen, die genau das glaubten. Und dass er die Demokratie wiederherstellen wolle, verspricht ihnen Donald Trump auch noch im Jahr 2024. Die „Rückkehr der echten Demokratie“ beschwor der FPÖ-Spitzenkandidat Herbert Kickl beim FPÖ-Neujahrstreffen.

Es versteht sich von selbst, dass sich das Demokratieverständnis der populistischen Wähler von der liberalen Demokratie mit ihrem Pluralismus und ihrer Gewaltenteilung unterscheidet. Aber wir wissen auch, dass Menschen mit populistischen Einstellungen nicht automatisch durch und durch rechtsextrem sind. Schon für die Bundestagswahl 2021 zeigte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: Der größte Teil der AfD-Wähler (73%) ist populistisch eingestellt – sie halten sich für die „schweigende Mehrheit“, haben tiefes Misstrauen gegenüber den etablierten Politikern und wünschen sich eine Demokratie, in der der Wille des „wahren“ Volkes (dem sie selbst angehören) verwirklicht wird.

56% haben ein rechtsextremes Weltbild. Die Überschneidungen sind groß – aber eben nicht deckungsgleich. 50% befürworten zumindest latent eine Diktatur – zum Vergleich: unter CDU/CSU-Wählern sind es nur 22%. Das ist ein äußerst hoher Wert. Aber für die andere Hälfte der AfD-Wählerschaft kann eine solche Haltung eben nicht nachgewiesen werden. Ähnliches haben mein Kollege Michael Jankowski und ich in einer anderen Studie nachweisen können. Populistische und autoritäre Einstellungen hängen nicht systematisch zusammen. Manche Menschen sind populistisch eingestellt, andere autoritär, viele beides. Alle drei Gruppen neigen der AfD zu. Eine unsichtbare Wählerkoalition.

Die AfD dämonisieren und ihre Inhalte imitieren

Solche Befunde scheinen allerdings bei den demokratischen Parteien nicht anzukommen. Ihre Strategie im Umgang mit der AfD lautet: Die Partei dämonisieren, ihre Inhalte imitieren. Besonders in der Migrationspolitik setzen sie darauf, ihren Wählern in diesem Thema gewissermaßen auf halbem Weg entgegenzukommen. Das bedeutet nicht nur eine restriktive Grenz- und Asylpolitik, sondern auch eine Sprache, die den Einlassungen der AfD ähnelt. Dazu gehört, wenn Friedrich Merz Jungen mit Migrationsgeschichte als „kleine Paschas“ tituliert, aber auch, wenn der Bundeskanzler sich auf dem Titelblatt des „Spiegel“ mit den Worten zitieren lässt, man müsse „endlich im großen Stil abschieben“.

Eine solche Strategie ist zwar darauf angelegt, AfD-Wähler zurückzugewinnen. Aber besonders aussichtsreich ist das nicht. Wenn überhaupt, dann erhalten die Rechtspopulisten sogar noch mehr Zulauf – ganz abgesehen davon, dass man sich fragen muss, ob es einer liberalen Demokratie wirklich zuträglich ist, wenn die Talking Points der äußersten Rechten von den anderen Parteien kopiert und im Diskurs verfestigt werden.

Denn davon ab übersehen die Parteistrategen, wie bedeutsam der Populismus selbst für die Unterstützung der AfD ist. Die Bereitschaft der AfD-Wähler, für eine andere Partei zu stimmen, ist sehr gering. Populistische Einstellungen – also das illiberale Demokratieverständnis, für das die AfD steht – spielen dabei eine zentrale Rolle. Dass „die da oben“ eine Gesinnungsdiktatur errichtet haben, gegen die sich allein die AfD stelle – dieser Glaube ist in deren Wählermilieu keine Seltenheit, sondern der Mainstream.

Strengere Asylpolitik wird keine AfD-Wähler überzeugen

Selbst eine Senkung der Asylzahlen – und sie sinken seit Monaten – und eine rigide Grenzpolitik dürften als Gegenstrategien von wenig Erfolg gekrönt sein. Denn den Wählern der AfD geht es nicht nur um materielle Politik, sondern um das, was sie als Wahrheit empfinden. Jede Gewalttat durch einen Asylbewerber oder einen Menschen mit Migrationsgeschichte wird sie darin bestätigen, dass „die da oben“ noch immer nicht genug getan haben. Und die AfD wird diesen Glauben befeuern. Indem die anderen Parteien sich den Positionen der AfD in der Asyl- und Migrationspolitik annähern, lassen sie sich auf ein Rennen ein, das sie nicht gewinnen können. Wie im bekannten Märchen ist der „Igel“ AfD immer schon da, während die Hasen noch laufen.

Und das wird so bleiben, wenn wir dabeibleiben, den Populismus als „Verharmlosung“ abzutun. Aber wenn wir seine zentrale Rolle für die Strategie der AfD und die Motivationen ihrer Unterstützer erkennen, können Gegenstrategien entwickelt werden, die über halbherzige Nachahmung hinausgehen. Davon sind wir zur Stunde weit entfernt.

Dr. Marcel Lewandowsky ist Politikwissenschaftler und Autor. Sein Buch „Was Populisten wollen“ ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Artikelbild: Uli Deck/dpa (Lucke), Peter Kneffel/dpa (Söder), Alessia Pierdomenico (Salvini).

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