Ukraine provoziert bewusst ein neues Tschernobyl

Von Sergei Sawtschuk

Die Ukraine zieht stabil die Aufmerksamkeit der Welt auf sich, und zwar gleich in mehreren Bereichen. Während der militärische Fokus auf den Nahen Osten verlagert war, verkündete das ukrainische Energieministerium vor Freude strahlend, dass die Vorbereitungen zum Bau des fünften und des sechsten Reaktorblocks am Kernkraftwerk von Chmelnizki begonnen hätten. Anwesend am Ort der Grundsteinlegung waren laut Angaben der Quelle der zuständige ukrainische Minister, German Galuschtschenko, die Botschafterin der USA, Bridget Brink, und der Vertreter des erst kürzlich gegründeten Betreibers "Energoatom", Petr Kotin.

Die Liste der Teilnehmer ist wichtig, der Grund dafür wird nachfolgend erläutert.

Galuschtschenko bemerkte unter anderem während der Pressegespräche, dass mit dem Bau das US-Unternehmen Westinghouse beauftragt worden sei. Laut dem Vertrag habe es sich verpflichtet, zwei Reaktorblöcke mit Reaktoren des Typs AP1000 zu bauen und an das nationale Stromnetz anzuschließen. Der Minister vergaß nicht, Russland einen Seitenhieb zu verpassen, als er sagte, dass die US-amerikanischen AP1000 gewählt wurden, weil Russlands Streitkräfte massive Angriffe auf Objekte der Stromerzeugung ausführten, hauptsächlich auf Kohle- und Gaskraftwerke. Dabei könne der AP1000 im Gegensatz zu ähnlichen Modellen seine Leistung ändern. Dies würde erlauben, die Folgen eines kaskadenförmigen Zusammenbruchs des ukrainischen Energiesystems abzumildern, denn Russland vermeide Angriffe auf solch gefährliche Objekte.

Selbstverständlich unterliegen die Bedingungen der Vereinbarung dem Geschäftsgeheimnis, daher werden nachfolgend lediglich offen zugängliche Informationen angeführt.

Vor genau einem Jahr hatte Kiew auf eine direkte Anordnung des US-Finanzministeriums eine Privatisierung von drei tragenden Säulen des ukrainischen Energiesektors begonnen. In privates Besitz gingen aus dem staatlichen Eigentum der Öl- und Gaskonzern "Naftogas", der Betreiber des ukrainischen Gastransportsystems "OGTSU" und "Energoatom" über. Dass die ersten beiden Unternehmen, die für den Kauf von Erdgas und dessen Umleiten nach Westen zuständig sind, auf dieser Liste landeten, war zu erwarten.

Die Forderung, den staatlichen Monopolisten und größten Stromerzeuger des Landes zu privatisieren, kam allerdings vergleichsweise überraschend. Freilich kümmerte sich Washington darum gar nicht und stellte ein Ultimatum auf: Die Privatisierung hatte bis spätestens 1. Oktober 2023 zu erfolgen, was Kiew gehorsam tat. Dies war ein Zeugnis eben jener Unabhängigkeit, über die in der Ukraine Lieder und Legenden gedichtet werden.

Nach Angaben des neuen Aufsichtsrats befinden sich weiterhin hundert Prozent der Anteile von "Energoatom" im staatlichen Besitz. Dabei wurde in den Aufsichtsrat des neu gegründeten Unternehmens der professionelle Energietechniker Hartmut Jacob eingeführt, der in der neuen Struktur für Finanzfragen und die Anwerbung von Investitionen verantwortlich ist.

Was den eigentlichen Bau des fünften und sechsten Reaktorblocks am Kraftwerk im Städtchen Neteschin angeht, ist dessen Chronologie extrem schleierhaft, verworren und widersprüchlich.

Ursprünglich war das Kernkraftwerk von Chmelnizki entwickelt und gebaut worden, um den Energiebedarf der Zentralukraine, wo sich die Stadt Chmelnizki befindet, sowie des westlichen Landesteils zu decken. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwanden große Industriebetriebe aus diesen Gebieten fast vollständig, wodurch das AKW energetisch redundant wurde. Kiew beschloss logischerweise, Energieüberschüsse zu exportieren. Die leistungsstarke, in das polnische Rzeszów führende Stromleitung von 750 Kilovolt wurde noch parallel zum ersten Kraftwerkblock gebaut, doch die größte Belastung erfuhr sie gerade in den Jahren der Unabhängigkeit.

Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der UdSSR funktionierte am AKW Chmelnizki nur der erste Kraftwerkblock. Der zweite wurde im Jahr 2005 in Betrieb genommen, wobei der Großteil der Arbeiten von russischen Fachleuten verrichtet wurde. Die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew waren damals friedlich, und niemand störte sich daran. Die ukrainische Seite lernte die Vorteile der Reaktoren vom Typ WWER-1000 schnell zu schätzen, und im Jahr 2010 wurde ein bilaterales Abkommen über den Bau des dritten und des vierten Kraftwerkblocks unterzeichnet. Diese Pläne kamen nicht zustande. Nach dem Staatsstreich im Jahr 2014 kühlten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern schnell ab, und Präsident Petro Poroschenko verbot per Dekret jegliche Zusammenarbeit mit Russland im Bereich der Kernenergie.

Kiew war bewusst, dass es von der Sowjetunion einen wahren Schatz geerbt hatte. Vier Kernkraftwerke, die es zum damaligen Zeitpunkt kontrollierte, erzeugten über die Hälfte der gesamten Elektroenergie im Land und ermöglichten unter den Bedingungen der schleichenden Deindustrialisierung, den Export zu steigern. Um die Maßstäbe zu verdeutlichen: Im Jahr 2014 verbrauchte die Ukraine für den eigenen Bedarf etwa 320 Milliarden Kilowattstunden, und zum Jahr 2021 fiel dieser Wert auf 150 Milliarden Kilowattstunden. Die Erzeugerkapazitäten blieben dabei gleich.

Nach dem Start der russischen Militäroperation unternahm Wladimir Selenskij große Anstrengungen, um den Bau des dritten und des vierten Blocks am AKW Chmelnizki zu beenden, obwohl das Energiesystem der Ukraine damals zuverlässig funktionierte. Als aussichtsreichste Option galt der Kauf von Reaktormänteln und Ausrüstung, die der russische Konzern Rosatom im Rahmen des Baus von neuen Reaktorblöcken für das AKW Koslodui an Bulgarien geliefert hatte. Sofia war insgesamt nicht dagegen, forderte aber ursprünglich 600 Millionen US-Dollar und erhöhte später den Preis angesichts von Kiews Not zusätzlich. Damals ärgerte sich Selenskij sehr über Bulgarien: Freunde würden so nicht handeln.

Auch mit den USA war nicht alles einfach. Wenn die Rede von Westinghouse ist, kommt vielen zunächst dessen Konkurs in den Sinn, doch man sollte sich hier nicht täuschen. Tatsächlich verkündete das Unternehmen im Jahr 2016, dass es seine Schulden in Höhe von knapp zehn Milliarden US-Dollar nicht begleichen könne. Doch nach dem Ende des Konkursverfahrens existierte und arbeitete Westinghouse nicht nur weiter, sondern ließ sich de facto legal die Schulden abschreiben. Dabei ist es eine Tatsache, dass alle fünf funktionierenden AP1000-Reaktoren vor dem Konkursverfahren gebaut wurden, und kein einziger danach.

Auf der Webseite des Herstellers wird der AP1000 als einzigartig beworben. Er habe eine elektrische Leistung von 1.100 Megawatt und eine Wärmeleistung von 3,4 Megawatt. Seine Startzeit sei angeblich (das ist das Schlüsselwort) von zehn auf fünf Monate reduziert worden, es seien verkürzte Brennstoffzyklen vorgesehen, der Reaktor sei mit passiven Schutzsystemen ausgestattet, die einen Neustart spätestens 72 Stunden nach der Abschaltung garantieren. Der AP1000 soll außerdem in der Lage sein, beim Betrieb der Auslastung zu folgen und seine Leistung um fünf Prozent pro Minute zu reduzieren oder zu erhöhen.

Der US-amerikanische Reaktor verfügt über keinen Kernfänger, weshalb der Großteil von internationalen Spezialisten, darunter französische, ihn gar nicht für einen Reaktor der Generation III+ halten. Seinerzeit hat Frankreich für seine Reaktoren ebenfalls die Option von Leistungsanpassungen vorgesehen, doch später sorgte der praktische Betrieb ständig für Korrekturen, und Paris musste mehrere Gaskraftwerke dazu bauen, um die Verbrauchsspitzen zu bewältigen. Außerdem verfügt die eigentliche Konstruktion von AP1000 über ein bekanntes Problem: Die Entwickler platzierten die Hauptkreislaufpumpe innerhalb des Reaktormantels, was ihre Reparatur unmöglich macht. In einem der chinesischen Kernkraftwerke, die mit AP1000 ausgestattet wurden, musste der Kraftwerkblock nach einem Bruch der Pumpe für ganze zwei Jahre stillgelegt werden.

Vor kurzem wurde das leidgeprüfte US-amerikanische AKW Vogtle in Betrieb genommen, das ebenfalls ursprünglich von Westinghouse gebaut wurde. Wegen zahlreicher Reklamationen stieg das Unternehmen aus dem Projekt aus, und die Inverstoren – Georgia Power, Oglethorpe und MEAG – mussten das Kraftwerk selbstständig fertigstellen. Dabei stiegen die Baukosten auf 30 Milliarden US-Dollar. Woher die mittellose Ukraine solche Gelder hat, bleibt ein Rätsel.

Zum Schluss das Wichtigste: Kein Vertrag mit Westinghouse sieht eine Verpflichtung des Unternehmens vor, den eigenen ausgedienten Kernbrennstoff auszuführen und zu entsorgen. Selbst unter der Annahme, dass die Kraftwerkblöcke am AKW Chmelnizki durch ein Wunder fertiggestellt werden, können radioaktive Abfälle nur im Umland von Tschernobyl entsorgt werden. Angesichts des totalen Verfalls der ukrainischen Wissenschaft und Industrie ist dies keine illusorische Bedrohung für die Umwelt und Menschenleben in den angrenzenden Gebieten. Damit dort eine echte Sperrzone geschaffen wird, werden nicht einmal Raketenschläge notwendig sein.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 16. April bei RIA Nowosti.

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