Die Tagesschau und "russische Geheimpapiere"

Von Dagmar Henn

Wirklich, unfassbar. Was da jetzt so alles als "investigativ" verkauft wird. Die Tagesschau erzählt von "Geheimpapieren", "Vertraulichen Dokumenten" eines "russischen Thinktanks". Und was steht drin?

Analysen zu politischen Parteien und deren Stiftungen – in Deutschland. Nicht wirklich ungewöhnlich, das ist eher das Brot-und-Butter-Geschäft, je nachdem, wohin solch eine Denkfabrik orientiert ist, innenpolitisch oder außenpolitisch. Klar, nicht jeder hat mit solchen Einrichtungen schon zu tun gehabt, aber man kann das sehen, wenn man mal bei den deutschen Parteistiftungen die Veröffentlichungen ansieht: Länderanalysen, die wichtigsten politischen Organisationen eingeschlossen, sind etwas völlig Normales, so wie es Wahlanalysen bezogen auf Deutschland auch sind.

Verwerflich (und enthüllend) sollen diese Papiere sein, weil sie unter anderem an das Außenministerium geschickt wurden. Nun, Klappern gehört zum Handwerk und solche Läden wollen natürlich, dass sie ein gewisses Ansehen halten und beispielsweise bei Veranstaltungen, Podien und Symposien einbezogen werden. Zu diesem Zweck verschickt man auch mal ein paar zusätzliche Informationen. Und was steht da drin?

Beispielsweise das:

"In einer Analyse zur Lage nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland im September heißt es etwa: "Durch bestehende Kanäle muss der Druck verstärkt werden, um die Angst deutscher Bürger vor einem möglichen Konflikt zwischen der NATO und der Russischen Föderation zu schüren." Klargemacht werden solle: Dieser Konflikt werde vom Westen provoziert, insbesondere durch Politiker wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), die Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder den Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU)."

Wir haben es also mit einer Empfehlung aus einer Denkfabrik zu tun, die an Regierungsstellen geht und Konsequenzen aus der Wahlanalyse zieht. Wahnsinnig spannend. Vor allem, weil das, was darin steht, so überraschend ist. Schließlich kann man den erwähnten Akteuren, Pistorius, Strack-Zimmermann und Kiesewetter, regelmäßig dabei zusehen, wie sie sich für mehr Krieg in die Bresche werfen.

Angst "vor einem möglichen Konflikt zwischen der NATO und der Russischen Föderation" wäre übrigens ganz vernünftig. Wer zur Zeit des Kalten Kriegs aufgewachsen ist, erinnert sich noch daran, dass es sinnvoll war, Risiken ernst zu nehmen. Das kann gelegentlich davon abhalten, am Rande des Abgrunds einen großen Schritt nach vorn zu machen.

Aber mal abgesehen davon, dass diese Analysen ganz gewöhnliche Dutzendware sind – die Tatsache, dass sie "an Russlands Nomenklatura, darunter das Außenministerium in Moskau und an den russischen Botschafter in Berlin" gingen, besagt nur, dass da jemand eine Post- oder E-Mail-Adresse kennt. Es besagt nicht einmal, dass diese Dokumente tatsächlich gelesen wurden, erst recht "erlauben" sie keine "seltene Einsicht, wie man im Umfeld des Kreml die politische Lage in Deutschland wahrnimmt" – noch nicht einmal, wenn das betreffende Papier aus dem Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften stammt.

Ja, in der Arbeit von Thinktanks spiegeln sich Entwicklungen und Debatten wider. Allerdings weiß ich aus eigener politischer Erfahrung, dass die politischen Akteure zumindest in Deutschland vielleicht den Newsletter der eigenen Parteistiftung abonniert haben, aber schon selten überhaupt lesen, was von dieser Stiftung veröffentlicht wird, von dem, was die Konkurrenz veröffentlicht, ganz zu schweigen. Wahlanalysen samt daraus gezogenen Konsequenzen werden bestenfalls in den zwei Wochen nach der Wahl gelesen. Und es ist eine sehr kleine Minderheit, die das tut – in allen Parteien. Was immer sie schicken, muss sich ohnehin erst in der Flut anderer Papiere durchsetzen.

Um zu beurteilen, ob die Ergebnisse dieses russischen Thinktanks tatsächlich Einfluss auf die russische Politik – welchen Teil davon auch immer – haben, müsste man das aus der Vergangenheit belegen können. Aber deutsche "investigative Journalisten" belegen nichts, sie raunen, und wenn es dabei gegen Russland geht, ist das immer noch gut genug.

"Schon im August 2023 etwa empfahlen die Analysten im vertraulichen Teil eines der Papiere, 'über bestehende Kanäle engere Kontakte zu Wagenknecht und ihrer Umgebung zu schmieden'. Denn Wagenknecht sei eine wichtige Gegnerin der 'antirussischen Kräfte sowohl in Deutschland wie auch in Brüssel'."

Es ist wirklich keine Raketenwissenschaft, herauszufinden, wer in Deutschland zumindest weniger massiv antirussisch ist. Wobei auch Wagenknecht immer den Satz vom "russischen Angriffskrieg" geliefert hat. Ich hätte das also zumindest mit einer kleinen Mahnung zur Vorsicht versehen. Aber das war ja auch kein Papier von mir.

Dass sich die Kenntnisse dieser Denkfabrik in Grenzen halten, zeigt sich in der von der Tagesschau angeführten Empfehlung, "mittels Hochschulen und akademischen Einrichtungen die Kontakte zu Parteistiftungen wieder aufleben zu lassen". Vielleicht hat ihnen noch niemand gesagt, dass alle Auslandsstiftungen der deutschen Parteien ihr Geld vom Auswärtigen Amt und nicht vom Bundestag erhalten? Und auf die außenpolitische Linie verpflichtet sind? Das ist wie mit den Goethe-Instituten. Klar, vielleicht nützliche Begegnungen, aber eben notorisch auch ein gewisser Anteil Spione. Meine Empfehlung an die russischen Behörden wäre, die Tür für die Stiftungen nicht wieder aufzumachen, aber ich bin keine Denkfabrik. Immerhin, die Heinrich-Böll-Stiftung wieder ins Land zu lassen, geht, erwähnt die Tagesschau, auch den Autoren dieser "Geheimpapiere" zu weit.

Übrigens, neben der Tatsache, dass die erwähnte Denkfabrik E-Mail-Adressen im Kreml kennt, ist es vor allem der Name des Institutsleiters, der dafür steht, dass das alles ganz böse statt langweiliger Politalltag sein muss. Immerhin war sein Großvater fast drei Jahrzehnte Außenminister der Sowjetunion. Beim braven Westler löst allein das schon einen Schauer aus, mit Anklängen von "Der Spion, der aus der Kälte kam".

Bestimmt haben sie wochenlang darüber gesessen, über den "geheimen Zusatzteilen", wieder einmal gleich aus mehreren Redaktionen bestückt. Mit, wie die Einschätzung nahelegt, völliger Ahnungslosigkeit vom politischen Alltag (ein kleines Praktikum im Büro eines Bundestagsabgeordneten in Gestalt von drei Wochen Postbearbeitung hätte da schon geholfen), aber dafür großer Entschlossenheit, das übliche Nichts bis aufs Blut zu melken.

Das hatten wir zuletzt zweimal, beide Male mit völlig aufgeblasenen Berichten über Internetseiten, deren Reichweite minimal ist, die aber gleich als Staatsgefährdung verkauft wurden. Nun wird aus einer völlig banalen politischen Analyse eine Verschwörung gebastelt. Wenn da spannende Dinge zu finden wären wie beispielsweise die Verbindungen der Ehefrau von Olaf Scholz zu den Kinderquälheimen der Haasenburg, dann wäre es vielleicht ein, zwei Gedanken wert, diese "Geheimpapiere" genauer zu betrachten.

Aber es ist, wie es ist. Wäre das ein Film, wäre es einzig die Hintergrundmusik, die für Spannung sorgt. Wenn die aufgeregten Streicher und der erwartungsvolle Bass erst gestrichen sind, erweist sich, dass der Rest bestenfalls zur Einschlafhilfe taugt. Wetten, dass die das bei der Sendung Kontraste, die diese Nummer auch verbraten soll, gemerkt und deshalb besonders eifrig zu genau diesem Mittel gegriffen haben?

Irgendwann, wenigstens einmal, wäre es eine nette Abwechslung, wenn das, was da so groß aufgemacht wird, auch nur genug Substanz für eine Kurzmeldung hätte. Und irgendwer vielleicht Informationen angemessen bewertet, statt vollkommen haltlose Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber das ist vermutlich zu viel erwartet von den überbezahlten Redakteuren von Zeit und rbb ...

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