Stichwahl entscheidet: Wer wird Raisis Nachfolger als Irans Präsident?

Am vergangenen Freitag waren die Menschen in Iran zur vorgezogenen Wahl aufgerufen, nachdem Präsident Ibrahim Raisi im Mai bei einem Hubschrauberunfall ums Leben gekommen war. Da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht hat, kommt es jetzt am Freitag zu einer ersten Stichwahl in Iran seit 19 Jahren. Massud Peseschkian liegt mit rund 42,5 Prozent der Stimmen vorn. Auf dem zweiten Platz folgt Said Dschalili mit rund 38,7 Prozent.

Das Stichwahlergebnis entscheidet darüber, wer die Nachfolge des verstorbenen Präsidenten Raisi antritt. Doch einige Experten zweifeln daran, dass die Wahl die Politik der iranischen Führung grundlegend verändern wird.

Bei dem ersten Wahlgang lag die Wahlbeteiligung bei historisch schlechten 40 Prozent. Im Jahr 2021 lag sie bei rund 49 Prozent. Die Bürger seien mit der wirtschaftlichen Lage im Land unzufrieden, erklärte Ghodrat Schafija, ein iranischer Journalist und Politikwissenschaftler, gegenüber der Zeitung Wedomosti. Ende 2023 lag die Inflation bei über 40 Prozent. Wladimir Saschin, leitender Forscher am Institut für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften, fügte hinzu, dass die Bevölkerung nicht glaube, dass die Regierung in der Lage sei, diese wirtschaftliche Situation zu bewältigen.

Zwischen den beiden Kandidaten, die am kommenden Freitag bei der Stichwahl antreten, gibt es Unterschiede.

Der frühere Gesundheitsminister Massud Peseschkian, ein 69-jähriger Herzchirurg, gilt als ein gemäßigter Reformer. Im Jahr 2021 hat er erstmals und für das Präsidentenamt kandidiert – ohne Erfolg. Bei den Wahlen vergangene Woche setzten sich der ehemalige Präsident Hassan Rohani und der ehemalige Außenminister Mohammad Javad Zarif für ihn ein.

Während seiner Wahlkampagne ruft Peseschkian zu Wirtschaftsreformen auf, die die Inflation dämpfen sollten, analysierte die Zeitung Wedomosti. Außerdem befürwortete er die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten, da er selbst von gemischter Herkunft sei: Seine Mutter war Kurdin, sein Vater kam aus Aserbaidschan. Peseschkian sei auch für seine Kritik gegenüber der geistlichen Führung wegen der Unterdrückung politisch Andersdenkender bekannt, so die Zeitung. Der frühere Gesundheitsminister unterstütze eine schrittweise Annäherung an den Westen, nicht aber an Israel.

Der zweite Kandidat, Said Dschalili, bewirbt sich bereits zum dritten Mal um das Präsidentenamt. Seit 2007 vertritt er Irans Obersten Führer Ajatollah Ali Chamenei im Obersten Rat für nationale Sicherheit.

Während der aktuellen Wahlkampagne wirbt Dschalili für die Fortsetzung der Innen- und Außenpolitik von Raisi. Sein Rivale schlägt vor, den Verzicht auf das Tragen von Hidschabs zu entkriminalisieren. Dschalili seinerseits übt Kritik an den Medien, die die Aufmerksamkeit auf den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei im Jahr 2022 gezogen haben. Seiner Meinung nach sei es wichtiger, über die tausenden von Frauen zu sprechen, die beim Krieg im Gazastreifen ums Leben gekommen sind.

Peseschkians Sieg mit knappem Ergebnis im ersten Wahlgang sei wegen der Zersplitterung unter den Konservativen möglich gewesen, so Wladimir Saschin. Nach dem Rückzug aus dem Wahlkampf habe der konservative Parlamentspräsident Mohammad-Bagher Ghalibaf seine Anhänger dazu aufgerufen, für Dschalili zu stimmen. Deswegen habe er bessere Chancen, die Stichwahl zu gewinnen, erklärte der Experte gegenüber der Zeitung.

Der Wahlausgang sei jedoch nicht vorbestimmt: Wenn Peseschkian etwa 60 Prozent der Wähler, die nicht zur Wahlurne gegangen sind, mobilisieren kann, ist sein Sieg möglich, so Saschin.

Ein Sieg weder von Massud Peseschkian noch von Said Dschalili würde zu einer grundsätzlichen Änderung der iranischen Politik führen, da ein Präsident der politischen Linie des Obersten Führers folge, betonte Saschin. Aber die Staatspolitik eines Präsidenten kann Merkmale haben, die der Ideologie der Islamischen Republik zuwiderlaufe. "Chamenei kann einem Präsidenten eine Blankovollmacht für die Lösung einiger Probleme erteilen", erklärte Saschin.

Laut Schafija werde Peseschkian im Falle seines Sieges den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Situation sowie auf eine Milderung der Probleme der islamischen Kleiderordnung für iranische Frauen legen. Was die Außenpolitik betrifft, werde er zur Frage der Atomvereinbarung mit den USA zurückkehren, während Joe Biden noch im Amt sei. "Abgesehen von diesen Prioritäten wird die neue Regierung die Beziehungen mit Russland, China und den benachbarten Ländern im Rahmen der SOZ, der EAWU und der BRICS weiter stärken", resümierte der Experte.

Ungeachtet der Wahlergebnisse spiele Irans Oberster Führer Chamenei weiterhin eine Schlüsselrolle bei der Festlegung der Wirtschaftspolitik auch mit Moskau und Peking, erklärte der Iranexperte Oleg Akulinitschew gegenüber Wedomosti. Bei der Wahldebatte hatte keiner der Spitzenkandidaten die Prinzipien der außenpolitischen Linie Irans in Frage gestellt, betonte der Experte.

Deswegen würden die Beziehungen Teherans mit Moskau, Peking und anderen östlichen Ländern unverändert bleiben, fügte Akulinitschew hinzu. Die Kontakte mit dieser Gruppe von Staaten seien über einen langen Zeitraum aufgebaut worden. "Heute gibt es eine rechtliche und vertragliche Grundlage für die Stärkung der zwischenstaatlichen russisch-iranischen Beziehungen im Bereich der wirtschaftlichen und humanitären Zusammenarbeit sowie der Informationssicherheit", erklärte der Experte.

Der Präsident der Islamischen Republik steht an der Spitze der Exekutive und wird alle vier Jahre gewählt. Er kontrolliert die Regierung und kann abhängig von seinem politischen Hintergrund und seiner Stärke einen großen Einfluss auf die Staatspolitik und die Wirtschaft ausüben. Im Unterschied zum Posten eines Präsidenten ist der Oberste Führer Irans für alle wichtigen Entscheidungen verantwortlich, die den Staat betreffen. Der Oberste Führer ist auch Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber. Diese Position wurde nach der Islamischen Revolution von 1979 geschaffen. Aja­tol­lah Ali Chamenei ist seit 1989 das politische und religiöse Oberhaupt Irans.

Mehr zum Thema - Präsidentenwahl: Iran am politischen Scheideweg

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