Regression der Mitte: Wie die „Mitte“ Rechtsextremismus stark macht

Gastbeitrag Daniel Mullis

Bei dem Beitrag handelt es sich um einen leicht überarbeiteten Auszug aus dem Buch »Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte« (2024). Veröffentlich mit freundlicher Genehmigung des Reclam-Verlags.

Rechtsextremismus gilt, so heißt es wiederholt seitens der Bundesregierung und des Verfassungsschutzes, als »größte Gefahr« für die Bundesdeutsche Demokratie. Rassistisch motivierte Morde, die Formierung von terroristischen Netzwerken und die Bildung von Strukturen am rechten Rand stehen dafür. Seit mittlerweile mehr als zehn Jahren erstarkt der Rechtsextremismus in Deutschland, wobei die Erfolge der AfD zugleich Ausdruck eines wachsenden rechten Bewusstseins sowie Motor rechter Politisierung sind. Die Massenproteste in Stadt und Land, in Ost und West der letzten Monate für Demokratie und gegen Rechts sind hierbei ein wichtiges und nicht zu unterschätzendes Stopp-Zeichen.

Allerdings belegen seit Jahren Umfragen wie etwa die Mitte- oder die Autoritarismus-Studie auch, dass rechtsextreme Einstellungen kein Randphänomen der Gesellschaft darstellen, sondern in der Mitte verankert sind. Dennoch bleibt in den Debatten über das Erstarken des Rechtsextremismus der Blick erstaunlich oft an den vermeintlichen Rändern hängen oder fokussiert zu einseitig auf Parteien. Viel zu selten wird zu verstehen versucht, was in der Mitte der Gesellschaft eigentlich passiert ist, dass die extreme Rechte so stark werden konnte, warum offensichtlich lange tradierte Einstellungen gerade jetzt politisch wirksam werden und warum die Brandmauer so kläglich versagt. Mit meinem neuen Buch »Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten«, das aus meiner Forschungsarbeit der letzten Jahre entstanden ist, habe ich versucht, einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten.

Interviews, wo die AfD erstarkt

Zusammen mit einem Kollegen habe ich in ausgewählten Stadtteilen von Frankfurt am Main und Leipzig an die 50 qualitative Interviews mit Bewohner:innen geführt. Allen Stadtteilen gemeinsam ist, dass sie als eher peripher gelten und die AfD dort in den letzten Jahren kontinuierlich gute Ergebnisse erzielen konnte. Gut, es ist in Frankfurt nicht dasselbe wie in Leipzig, aber bei der Landtagswahl im Herbst 2023, bei der die Rechtsaußenpartei in Hessen insgesamt 18,4 Prozent erreichte, lag die AfD auch in den untersuchten Frankfurter Stadtteilen bei jeweils um die 20 Prozent und damit nicht mehr weit hinter den langjährigen starken Ergebnissen in den Leipziger Vierteln.

Ziel der Interviews, die 2019 und 2022 geführt wurden, war es, auf die Menschen zuzugehen und zu verstehen, in welchem Gefüge es der extremen Rechten gelingt, Fuß zu fassen. Wir haben mit Menschen aus allen politischen Lagern gesprochen, da es uns in erster Linie darum ging, das gesellschaftliche Umfeld zu beleuchten und weniger darum, mit Rechten zu sprechen. Konkret haben wir nach sozialen Dynamiken, Krisenerfahrungen, erlebten Konflikten und Glückserwartungen gefragt.

Was dabei zum Vorschein kam, beunruhigt mich zutiefst, zumal deutlich wurde, wie stark das rechte Rauschen mittlerweile die Gesellschaft durchzieht. Was ich hier beschreibe, ist gewissermaßen das gesellschaftliche Gegenstück zur rechten Strategie der Beheimatung, die ich in meinem letzten Beitrag für den Volksverpetzer skizziert habe.

Krisen, Verunsicherung und Frustration

Die Krisen der letzten rund 15 Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, das zeigen die Gespräche sehr deutlich. Insbesondere seit dem Ausbruch der Pandemie überschlugen sich die Ereignisse teilweise so schnell, dass oftmals keine Zeit blieb, die neuen Situationen zu erfassen und emotional zu verarbeiten, bevor die nächste Schreckensnachricht kam. Corona, Konflikte um Migration, die Bewältigung der Klimakrise sowie Konjunkturschwäche, Energiekrise und Inflation sind dabei nur einige Aspekte, die Verunsicherung und manchmal auch Wut auslösen.

Beim Zuhören stoße ich gerade in den Teilen der Gesellschaft, die sich aufgrund ihres Selbstverständnisses als deutsche Mehrheitsgesellschaft als Mitte verstehen und auch verstehen dürfen, auf ein Phänomen, das ich als Regression der Mitte bezeichne.

Regression beruht, so verstehe ich sie im Anschluss an Étienne Balibar, im weitesten Sinne auf der Logik der Schließung sozialer und demokratischer Partizipationsprozesse. Vermeintliche Privilegien der Etablierten werden durch den Ausschluss der Anderen verteidigt, beziehungsweise die Wiedereinführung ehemals gewährter Privilegien gefordert. Regression ist kein Zurück in die Vergangenheit, sie ist immer eine Reaktion auf das Jetzt. Insofern ist sie der Zukunft zugewandt, auch wenn sie eine Zukunft impliziert, die ein Mehr an Ungleichheit, Ausgrenzung und Gewalt beinhaltet.

Manche Menschen ziehen sich frustriert aus Politik und Gesellschaft zurück

Als progressiv verstehe ich umgekehrt das demokratische Register der Ausdehnung, der Inklusion, der Chancengleichheit, des solidarischen Bezugnehmens. Der Aufstieg der Rechten wird dabei gerade dadurch gefördert, dass die Regression in den Alltagswelten der Menschen einerseits rechte Politiken plausibler erscheinen lässt und andererseits progressive Vorstellungen und Adressierungen blockiert.

Politisch hat Regression, wie in den Interviews deutlich wird, unterschiedliche Folgen: Manche Menschen ziehen sich frustriert aus Politik und Gesellschaft zurück, andere engagieren sich lieber vor Ort in sozialen Bewegungen, weil sie das für sinnvoller halten, als sich mit der großen Politik herumzuschlagen, die sich sowieso nicht für ihr Leben interessiere. Einige aber führt die Entwicklung unmittelbar nach Rechtsaußen.

Zu beobachten ist, dass sich gesellschaftliche Stimmungen, Ressentiments und Frustrationen mit der Formierung rechter politischer Kräfte wechselseitig befeuern. Die extreme Rechte profitiert von der krisenbedingt verbreiteten Verunsicherung und dem Unbehagen, nährt sie aber gleichzeitig, indem sie Deutungsangebote für das Erfahrene anbietet und dabei Misstrauen und Hass fördert. Es ist wichtig zu erkennen, dass die extreme Rechte nicht von irgendwelchen Rändern in die Mitte der Gesellschaft einbricht, sondern dass es in der Mitte vielfältige offene Anknüpfungspunkte für rechte Ansprachen gibt und sie gerade durch diese »den Mainstream erreicht« (Mudde).

Warum Regression rechte Narrative plausibel macht

Betrachten wir die beiden Dimensionen der Regression, also dass rechte Narrative plausibler und progressiver und umgekehrt weniger naheliegend werden, genauer, dann gehört die durch neoliberale Ideologien verstärkte Akzeptanz von Ungleichheit und Wettbewerb, die Schnittmengen mit rechten Ungleichwertigkeitsideologien aufweist, gepaart mit der Erosion von utopischen Vorstellungsräumen neben den verbreiteten rassistischen Ressentiments und Demokratieskepsis zu den zentralen, die extreme Rechte begünstigenden Faktoren. Hinzu kommen Prozesse der Individualisierung, aus denen unter anderem der Glaube erwächst, in jeder Situation seines eigenen Glückes, aber auch Unglückes Schmied zu sein sowie ein Recht auf unbegrenzte persönliche Freiheit zu haben (Amlinger/Nachtwey).

Der neoliberale Individualismus macht Positionen unglaubwürdig, die gesellschaftliche Strukturen und politische Ordnungen als Ursache für erlebtes Unbehagen deuten. Damit schafft er eine Distanz zwischen gesellschaftlich verbreiteten Wahrheitsordnungen und progressiven Narrativen, die strukturelle Ungleichheiten durch solidarisches Handeln überwinden wollen.

Hinzu kommt, dass in der saturierten Mitte das Versprechen auf Wohlstand und Aufstieg milieubildend ist (Mau), jedoch beides angesichts von Prekarisierung, einer sich öffnenden sozialen Schere und Abstiegsängsten materiell heute nicht mehr als gesichert gilt. Darauf reagiert ein Teil der Mitte mit Abwehrreflexen gegen diejenigen, die ihnen vermeintlich etwas wegnehmen wollen. Privilegierte Zugänge zu Ressourcen und Status werden dann vor allem mittels weit verbreiteter Ressentiments nach unten und außen verteidigt.

Progressive Erzählungen in der Defensive

Progressive Vorschläge zur Deutung von Welt und kollektivem Handeln erscheinen umgekehrt gerade deshalb als abwegig, weil die Konzepte des Kollektiven, des gemeinsamen Handelns, der Solidarität, der Offenheit und der Inklusion, auf denen sie basieren, in der Mitte der Gesellschaft mittlerweile weitestgehend weder der gelebten Praxis entsprechen noch affektiv verstanden werden.

Das heißt nicht, dass es keine Solidarität oder gegenseitige Hilfe mehr gibt. Wir haben sie im Sommer der Migration in der Willkommenskultur oder in den selbstorganisierten Unterstützungsnetzwerken zu Beginn der Pandemie ja gesehen. In letzter Instanz wird ihr aber nicht vertraut. Kommt es zu Krisen, wird Solidarität nicht als verlässlich empfunden, Hilfe suchen die meisten, so schildern sie in den Gesprächen, lieber in der Kleinfamilie.

Solidaritätsbewegungen flammen hier und da kurzfristig auf, verschleißen dann aber aufgrund von mangelnder Unterstützung und fehlender gesellschaftlicher Einbettung schnell. Politisch werden die Initiativen in Sonntagsreden ausgeschlachtet, mit Preisen geehrt aber erhalten doch zu wenig politischen Rückhalt. Ihre Angebote werden von allzu Vielen primär konsumiert, was ihnen Energie entzieht und den regressiven Rückschlag begünstigt. In gewisser Weise wird deutlich, was Dubiel als wichtigen Aspekt der kontemporären kapitalistischen Marktgesellschaft beschreibt: Solidarische Ressourcen und der Wille zur Kooperation werden verbraucht, ohne dass sie ersetzt werden, womit sie sukzessive verlorengehen.

Gestern das Glück, morgen die Unsicherheit

Die Befunde aus Frankfurt und Leipzig, sprechen angesichts der Verunsicherung in den aktuellen Krisenzeiten recht deutlich dafür, dass die Mitte der Gesellschaft dazu neigt, sich zu verschließen und damit auf eine Politik der Verteidigung von Privilegien und des identitär gedeuteten Eigenen zu setzen. Verbreitet ist ein nostalgischer Blick auf die Aufstiegsgesellschaft der Nachkriegszeit, die zumindest im Subtext der Erzählungen meiner Gesprächspartner:innen durchweg als Referenz für das Glück herangezogen wird.

Es ist in Ost wie West die Epoche des ökonomischen Aufstiegs und der sozialen Sicherheit nach den Weltkriegen, die als Modell für die Normalität gilt, wobei die damalige Welt im Rückblick eben auch als homogener und klarer strukturiert erscheint. Bei der ersehnten Gesellschaft der Vergangenheit handelt es sich um eine, die im Vergleich zu heute deutlich ungleicher war.

Es war eine Gesellschaft, die individuelle Freiheit weniger ermöglichte, in der Frauen Männern stärker untergeordnet waren und in der homosexuelle, queere sowie allgemeine auf sexuelle Emanzipation und Geschlechtergerechtigkeit gerichtete Lebensentwürfe marginalisiert waren. Es war aber auch eine Gesellschaft, die nach der Katastrophe des Faschismus, nach Krieg, ethnischen Säuberungen und Shoah national so homogenisiert war wie nie zuvor. Aber all dies wird in der Stilisierung der Sehnsucht nach dem damaligen Glück gerne außer Acht gelassen. So ist es auch diese Beschwörung der Vergangenheit, die tiefsitzende rassistische Ressentiments, aber auch antifeministische Überzeugungen in der weißen Mitte leicht aktivierbar und politisch nutzbar macht.

Die extreme Rechte gewinnt, wenn ihre Themen gewinnen

Die Menschen erweisen sich in den Gesprächen als äußerst vielschichtig. Klare Typsierungen sind kaum möglich und die Allermeisten verbinden unterschiedliche Narrative, die zugleich eher linke und rechte Register bedienen können. Es ist also bei weitem nicht so, dass Menschen massenhaft manifest rechtsextreme Einstellungen entwickeln würden. Nur sollte dies nicht als Entwarnung verstanden werden. Menschen müssen nicht als Ganzes rechts werden, um sich von der extremen Rechten beheimaten zu lassen. Es reicht, wenn die von der extremen Rechten behandelten Themen und die Art und Weise, wie sie den Konflikt mit der etablierten Politik sucht, als attraktiv erscheinen.

Wenn Konflikte um Themen, mit denen die extreme Rechte emotional punkten kann, wie Migration, Gender und die konkurrierende Abgrenzung nach unten, den politischen Raum dominieren, können diese Themen so gewichtig werden, dass vorhandene Widersprüche zur Politik der extremen Rechten in der Entscheidung der Einzelnen in den Hintergrund treten. Die Regression führt aber auch bei denjenigen, die sich nicht rechts einbinden lassen, zu sozialen Desintegrationsprozessen und zur Abkehr von kollektiven Prozessen. Die Menschen ziehen sich ins Private zurück und vergrößern durch ihre Abwesenheit die Spielräume der Rechten.

Demokratie, demokratisch verteidigen

Wichtig ist mir abschließend die Erkenntnis, die in politischen Debatten sonderbar abwesend ist: Wir haben als Gesellschaft nicht erst dann ein Problem mit autoritären und illiberalen Transformationsprozessen, wenn Rechtsaußen Wahlen gewinnt oder, schlimmer noch, tatsächlich an die Macht kommt. Das Problem beginnt bereits mit der Regression und den beobachtbaren Diskursverschiebungen nach rechts.

Es beginnt dann, wenn kollektive Sicherungssysteme als dysfunktional erlebt werden und Konflikte um Glückserwartungen und Gerechtigkeitsansprüche entbrennen; wenn die Verteidigung der eigenen Privilegien in den Fokus rückt; wenn die Abwertung vermeintlich Schwächerer um sich greift; wenn die Bereitschaft schwindet, sich auf eine gemeinsame Zukunft einzulassen; wenn die Schuld an jeder erdenklichen Misere bei Ausländer:innen gesucht wird; und wenn der Wunsch nach einer Abschottung gegen Feinde im Inneren und Äußeren zunimmt.

Autoritäre Verschiebungen und die Erosion der Demokratie werden zwar von Rechtsaußen vorangetrieben, können, sehr wohl aber auch von Parteien der Mitte und insbesondere von einem »radikalisierten Konservatismus« (Strobl) ausgehen, wenn diese beginnen, demokratische Normen, wie etwa das Recht auf politischen Protest oder Schutz vor Verfolgung, aufzuweichen und bisweilen ganz in Frage stellen. Dabei wird die Verteidigung der Demokratie aufs sträflichste mit der Verteidigung der eigenen Macht verwechselt, sehr zum Leidwesen der Demokratie selbst. Politisch scheint es an der Zeit, die Mitte der Gesellschaft neu zu definieren, sie als post-migrantisch zu verstehen und das beständige Schielen nach Rechts zu den Besorgten Bürgern zu beenden und stattdessen die weit ausgestreckte Hand der aktiven Zivilgesellschaft, die seit Mitte Januar zu Millionen auf der Straße ist, zu ergreifen.

Ein Gastbeitrag von Dr. Daniel Mullis. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Dort arbeitet er zu politischen Geographien, Protest und Rechtsextremismus. Sein Buch „Regression der Mitte“, erschien im Reclam Verlag.

Artikelbild: knipsdesign

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