Der populäre Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, der inhaftiert und von seinem Posten abgesetzt wurde, ist der wichtigste politische Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
Als İmamoğlu am Wochenende ins Gefängnis gesteckt wurde, gingen Tausende von Demonstranten auf die Straßen der türkischen Städte. Die westlichen Verbündeten des Landes hätten auf diese Ereignisse jedoch zurückhaltend reagiert, schreibt die Nachrichtenagentur Bloomberg.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte, dass Erdoğans Vorgehen gegen die Opposition "die Frage aufwirft, ob die Türkei ihrer langjährigen demokratischen Tradition treu geblieben ist." Sie betonte auch, die Achtung der Grundrechte sei für den EU-Beitrittsprozess von wesentlicher Bedeutung. Die Verhaftung und Suspendierung Imamoğlus bezeichnete der scheidende deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz als "absolut inakzeptabel". Das US-Außenministerium hat sich hingegen kaum zu den Protesten geäußert und bezeichnete die Situation als "interne Angelegenheit" der Türkei.
Erdoğan setze darauf, dass der Westen ihn mehr brauche, als dass es sich an einem Kampf um die Demokratie der Türkei beteiligen wolle. Während die USA und Europa mit Sicherheitsproblemen beschäftigt seien, wolle sich Erdoğan als wichtiger Vermittler bei der Beilegung der internationalen Konflikte positionieren – von der Ukraine bis zu den Konfliktgebieten im Nahen Osten und in Afrika, so die Agentur.
Bloomberg schreibt, dass die Inhaftierung eines so prominenten Politikers wie Imamoğlu, der eine Bedrohung für Erdoğans Chancen auf die Wiederwahl darstellen könnte, jedoch beispiellos sei. Der türkische Präsident habe wahrscheinlich damit gerechnet, dass die wachsende strategische Bedeutung der Türkei ihren Mangel an Demokratie überwiege. Dies habe sich bisher politisch ausgezahlt, selbst wenn Investoren türkische Vermögenswerte loswürden, was die jüngsten Fortschritte bei der Zuführung ausländischer Gelder in die Türkei zunichtemachen könnte.
Der Krieg in der Ukraine habe Europa mehr von der Türkei abhängig gemacht, schreibt Bloomberg weiter. Ihre wachsende militärische Präsenz und Verteidigungskapazitäten hätten sie zu einem wertvollen Verbündeten gemacht, während Trump die Sicherheitsverpflichtungen der USA in Europa überdenke.
"Das globale Umfeld begünstigt Erdoğan, der den Zeitgeist sehr gut spürt", sagt Soner Çağaptay, Direktor des türkischen Forschungsprogramms am Washingtoner Institut für Nahostpolitik, gegenüber Bloomberg. "Ich erwarte keine wesentlichen Gegenmaßnahmen seitens Europas oder der USA."
Die Präsidentschaftswahlen in der Türkei finden erst im Jahr 2028 statt. Laut Verfassung darf der 71-jährige Erdoğan nicht erneut kandidieren. Um dies zu ändern, benötigen Erdoğans Partei Gerechtigkeit (kurz AKP) und ihre Verbündeten eine parlamentarische Mehrheit. "Was immer deutlicher wird, ist Erdoğans Bereitschaft, die Türkei in Richtung einer vollständigen Autokratie zu führen und sich von dem wettbewerbsfähigen autoritären Modell zu entfernen, das die Regierung des Landes in den letzten zehn Jahren geprägt hat", sagt Wolfango Piccoli, Co-Präsident der US-amerikanischen Beratungsfirma Teneo, in einem Gespräch mit Bloomberg.
Die politischen Unruhen in der Türkei kämen zu einer Zeit, in der die transatlantische Verteidigungsindustrie mit ihren eigenen Herausforderungen konfrontiert sei, schreibt die Agentur weiter. Trump verhandelt derzeit über einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Die Türkei könnte Friedenstruppen entsenden, aber nur, wenn Ankara in alle Konsultationen und Vorbereitungen einbezogen werde, berichtete Bloomberg im Februar unter Bezugnahme auf eigene Quellen.
Ankara habe Washington Pläne vorgelegt, den Kampf gegen den Islamischen Staat zu übernehmen und für Stabilität in Syrien zu sorgen, damit die USA sich auf andere nationale Sicherheitsprioritäten konzentrieren könnten, berichtet Bloomberg weiter.
Die Agentur weist darauf hin, dass die Investoren im Moment vielleicht die einzige Kraft seien, die die Bestrebungen des türkischen Präsidenten bremsen könnte. Die Volatilität an den Finanzmärkten gefährde die wirtschaftlichen Vorteile, die Erdoğan seit seiner Wiederwahl im Jahr 2023 erzielt habe. Nach Imamoğlus Verhaftung in der vergangenen Woche fiel der Kurs der türkischen Lira im Handel mit dem US-Dollar und dem Euro jeweils auf ein Rekordtief seit 2021. Die Zentralbank der Türkei hat Maßnahmen ergriffen, um den Verfall der Lira aufzuhalten und damit zu verhindern, dass sie die Inflation anheizt.
"Derzeit können nur massive friedliche Proteste und die Märkte – das Einzige, worüber Erdoğan in der Türkei keine Kontrolle hat – den türkischen Präsidenten dazu bringen, dass er seinen Kurs ändert", so Çağaptay.
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