Seit einem Jahr ist Argentiniens Präsident Javier Milei nun im Amt – er trat am 10. Dezember 2023 an und wurde am 19. November 2023 zum Präsidenten gewählt. Milei übernahm ein schwieriges Erbe: Argentinien befindet sich schon seit Jahrzehnten in der Krise, ausgelöst unter anderem durch Hyperinflation, Währungsverfall und mehrfachen Staatsbankrott. Doch Milei machte es nicht besser – im Gegenteil. Vor allem gesellschaftspolitisch sind Mileis Überzeugungen mehr als kritisierenswert. So leugnet er unter anderem den menschengemachten Klimawandel, befürwortet Organhandel, spart Frauen– und LGBTQIA+-Rechte weg und ist gegen Abtreibung auch nach Vergewaltigung.
Doch auch wirtschaftspolitisch geht sein harter Sparkurs vor allem zulasten der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen. Damit ist er doch eigentlich weit davon entfernt, ein Beispiel zu sein, zu dem Deutschland aufblicken sollte, oder? Doch FDP-Chef Christian Lindner (FDP) ist der Ansicht: „Wir sollten in Deutschland ein kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen.“ (ARD Mediathek, Min. 45). Wir schauen auf die Auswirkungen von Mileis Politik.
Milei und sein Wirtschaftsexperiment
Seit Beginn seiner Amtszeit hat Milei die Argentinier:innen auf eine harte Zeit eingeschworen, die ihnen bevorstehe. Gemeint ist seine drastische Sparpolitik oder: seine „Schocktherapie“. Sein Wirtschaftsexperiment bestehe theoretisch aus drei Phasen: Schock, Stabilisierung und Wachstum. Bisher kam aber nur der Schock: Staatsausgaben wurden um 30 Prozent gesenkt (siehe Diagramm), unter anderem bei Infrastrukturausbau und Bildung wurde gekürzt, 30.000 Stellen des Staatsapparates wurden gestrichen, Pensionen wurden nur unterhalb der Inflationsrate erhöht und Subventionen unter anderem auf Strom, Wasser und Benzin wurden gestrichen.
Milei bezeichnet sich selbst als Anarcho-Kapitalist. Heruntergebrochen: der Markt stehe über allem und der Staat dürfe sich nicht einmischen. Die Kettensäge, die er symbolisch im Wahlkampf einsetzte, steht für seine Vision: Der Staat muss zerstört werden – soweit die Theorie. Dass es aber in der Praxis natürlich Marktversagen gibt, wie beispielsweise in der Sozial- und Klimapolitik, leugnet Milei.
Wichtig zu wissen, und was auch Christian Lindner als Finanzpolitiker sicherlich eigentlich weiß, ist, dass Argentiniens Wirtschaftsprobleme komplex und vielschichtig sind und nicht auf eine Ursache, wie zum Beispiel einen aufgeblähten Staatsapparat, verkürzt werden können. So stützt sich Argentiniens Wirtschaft hauptsächlich auf den Bergbau und die Landwirtschaft – schwankende Rohstoffpreise sind da ein großes Problem. Auch Argentiniens Militärherrschaft zwischen 1976 und 1983 limitierte die wirtschaftliche Entwicklung des südamerikanischen Landes.
Natürlich: zu große Staatsausgaben, Korruption und Missmanagement sind Probleme, die Argentiniens Wirtschaft hemmen. Doch Mileis Reformen werden Experten zu Folge das Problem nicht bekämpfen – sondern noch stärker auf diejenigen verschieben, die schon jetzt am meisten darunter leiden.
Lindner will „Disruption, Reformfreude und Innovationskraft“
Christian Lindner sieht also ein Vorbild in Milei (und Musk, wie er bei Caren Miosga in der Talkshow sagte). Er ist sich jedoch bewusst, wie polarisierend diese beiden Namen sind – und hat sich nach seinem Auftritt in der ARD zu einer Stellungnahme auf Twitter genötigt gefühlt, dass er nicht Aspekte wie das mit dem Organhandel oder Abbau der Frauenrechte meinte:
Lindner wolle also nicht „den Stil“ von Milei und Musk übernehmen, er wolle aber „Mut zur Veränderung“ und Neugierde, was man sich bei den beiden abschauen könne. Was er mit „Stil“ meint, hat er nicht genauer gesagt. Offen ist also, ob er Mileis brachiale Kommunikation meint, seine Leugnung des Klimawandels, seine Haltung gegen die in Argentinien hart erkämpften Abtreibungsrechte oder seine Befürwortung von Organhandel. Gehen wir fairerweise einfach davon aus, dass er vor allem Mileis Wirtschaftspolitik meinte. Doch auch Argentinien unter Milei wundert als Vorbild für Deutschland.
1. Inflation sinkt – aber wohl nicht so nachhaltig, wie es scheint
Der Rückgang der Inflation in Argentinien ist zunächst das Hauptargument, an das sich die Verteidiger von Mileis Politik klammern. Nach einem Jahr „Schocktherapie“ ist es auch eines der wenigen Punkte, welche er vorzeigen kann. Wichtig in dem Kontext ist, dass Argentinien schon seit Jahren unter Hyperinflation leidet und das in einem derart rasanten Tempo, dass die Preise teilweise gar nicht mehr schnell genug angepasst werden konnten. Kein Wunder also, dass Milei den Rückgang der Inflation als Erfolg feiert und immer wieder darauf verweist. Auf den zweiten Blick ist es aber weniger eindeutig, als die Zahlen auf dem Papier glauben lassen.
Zunächst die Zahlen: Im Oktober sank die jährliche Inflationsrate auf 193%. Seit Frühjahr geht sie tatsächlich kontinuierlich und deutlich zurück. Zum Vergleich: In Deutschland liegt sie im November bei 2,2%. Und ging unter der Ampel ebenfalls bereits kontinuierlich zurück.
Der Hauptgrund für den Rückgang der Inflation ist die abgewürgte Nachfrage und der dadurch zurückgegangene Konsum im Land. Einfach weil die Menschen durch die harte Sparpolitik Mileis weniger Geld haben, können sie nicht mehr viel konsumieren – und die Anbieter müssen so ihre Preiserhöhungen moderat halten, um noch Dinge zu verkaufen.
Für Milei ist das erst mal ein Erfolg: “Das Länderrisiko für internationale Kredite hat sich seit seinem Wahlsieg halbiert, die Kurse argentinischer Unternehmensaktien und Staatsanleihen sind gestiegen, die Zentralbank häuft Reserven an, und im April verkündete Milei den ersten Haushaltsüberschuss in einem Quartal seit über 15 Jahren”, wie die TAZ schreibt.
Steigt die Inflation bald wieder?
Doch wie nachhaltig ist der Rückgang der Inflation? Selbst die FDP-nahe Friedrich Naumann Stiftung ist da skeptisch. Sie schreibt:
“Auch wenn der deutliche Rückgang der Inflation seit dem Amtsantritt der neuen Regierung ein eindeutiger Erfolg ist, bleibt abzuwarten, wie nachhaltig dieser ist. Zum einen dürfte der schrittweise Rückgang der Subventionen, z.B. für Lebensmittel, Energie und öffentlichen Verkehr, naturgemäß die Preise für diese Güter und Dienstleistungen steigen lassen, was im täglichen Leben auch bereits erfahrbar ist. Zweitens ist der Rückgang der Inflation teilweise auch auf den rezessionsbedingten Rückgang der Konsumnachfrage zurückzuführen. Damit die Inflation auch längerfristig niedrig bleibt, sobald die Nachfrage wieder anzieht, ist daher ein wachsendes Angebot an Gütern und Dienstleistungen erforderlich.
Drittens ist das Konzept der offiziellen Inflationsmessung in Argentinien nicht unumstritten, liegt der, insbesondere von der ärmeren Bevölkerung wahrgenommene Preisanstieg für die von ihnen benötigten elementaren Waren doch teils deutlich über den offiziell ausgewiesenen Zahlen, was Zweifel an der Repräsentativität des zugrunde gelegten Warenkorbes hegt.”
Mileis kurzzeitige Vorzeigestatistik könnte schon bald weniger rosig aussehen. Die Weltbank prognostiziert, dass das argentinische Bruttoinlandsprodukt um 3,5 Prozent schrumpfen wird. Und seine Sparpolitik hat hohe Kosten, unter denen die ärmeren Bevölkerungsschichten leiden. Schauen wir deshalb auf die Entwicklung der Armutsquote.
2. Armutsquote steigt unter Milei drastisch an
Armut gab es in Argentinien schon vor Mileis Amtsantritt. Noch im ersten Halbjahr 2023 lag die Armutsquote bei 40 %. Doch unter Milei ist sie rasant angestiegen und liegt mittlerweile bei 53 %. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist damit arm. Es ist die höchste Armutsquote der vergangenen 20 Jahre.
Im folgenden Diagramm siehst du, dass unter Milei sowohl die Anzahl der extrem armen (blau) als auch die der armen (rot) Menschen angestiegen ist. Der Unterschied: Extreme Armut bedeutet, dass Menschen nicht einmal über ein ausreichendes Einkommen verfügen, um für einen Nahrungsmittelkorb bezahlen zu können, der einen Mindestbedarf an Energie und Eiweiß deckt. Oberhalb der extremen Armutsgrenze werden auch andere Güter eingerechnet, die zu wesentlich erachteten Bedürfnissen zählen.
Menschen zwischen 0 und 14 Jahren bilden die größte Gruppe unter den Armen: Fast sieben von 10 Kindern leben in Armut, davon fast 3 von 10 in extremer Armut.
Darüber hinaus wächst die Ungleichheit: Die Einkommensschere hat sich weiter geöffnet, wie der Anstieg des Gini-Koeffizienten von 0,446 auf 0,467 zeigt. Mileis Kürzungen im Sozialbereich zeigen also bereits ihre “Wirkung” und führen zu hohen gesellschaftlichen Kosten. Argentiniens Armutsproblem wird noch dazu verschärft, indem Milei auch Suppenküchen schließen lässt – eine lange Tradition zur Unterstützung der Ärmeren im Land. Bereits ganz real leiden Menschen jetzt Hunger – dank Milei. Beinahe zwei Drittel der Kinder müssen mit einer Mahlzeit am Tag auskommen.
Auch Arbeitslosengeld zu beziehen wird unter Milei immer schwieriger. Gleichzeitig werden immer mehr Menschen entlassen, Massenentlassungen sind mittlerweile legal. Das bringt uns zum nächsten Punkt: der steigenden Arbeitslosigkeit im Land.
3. Mehr Arbeitslosigkeit
In bereits oben zitiertem Bericht der Friedrich-Naumann Stiftung werden die Auswirkungen von Mileis Sparpolitik auf die Arbeitslosigkeit im Land analysiert – mit düsteren Aussichten:
“Inzwischen hat die Arbeitslosigkeit die Inflation als größte Sorge der Argentinier in Umfragen verdrängt. Unmittelbar mit der Wirtschaftskrise verbunden ist ein Anstieg der (offiziellen) Arbeitslosigkeit auf 8%. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der Beschäftigten im informellen Sektor in Argentinien rund 45% beträgt, die damit – wie in vielen lateinamerikanischen Ländern – über keinerlei soziale Absicherung verfügen. Weniger Konsumnachfrage und weniger Investitionen führen zu weniger Bedarf an Arbeitskräften.
Gleichzeitig wird mehr Arbeitskraft angeboten, denn immer mehr Argentinier sind aufgrund der hinter der Inflation zurückbleibenden Lohnentwicklung auf Zweit- oder sogar Drittjobs angewiesen. Gleichzeitig fallen (unvermeidlich) Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor fort: Um die Staatsausgaben zu reduzieren und die Effizienz des unter der peronistischen Vorgängerregierung stark aufgebähten öffentlichen Sektors (rund 3,5 Millionen Staatsbeschäftigte) zu steigern, hat Milei begonnen, zehntausende Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor abzubauen (bisher rund 30.000 von angekündigten 70.000).”
Ironischerweise empfahl Christian Lindner auf Twitter Friedrich Merz genau diesen Bericht der Naumann-Stiftung – obwohl er sich in großen Teilen kritisch gegenüber den Auswirkungen und der Nachhaltigkeit von Mileis Maßnahmen liest.
Mehr Arbeitslosigkeit, steigende Armut, wegfallende soziale Unterstützungen – das alles sind Auswirkungen von Mileis “Reformfreude und Disruption”, wie Lindner sagen würde? Das kann doch beim besten Willen nicht seine Vision für Deutschland sein. On top kommen noch die steigenden Mietpreise für Langzeitmieter:innen im Land – ebenfalls angetrieben durch Mileis “Reformfreude” und brav beworben übrigens von der Pro-FDP BILD-Zeitung. Darauf schauen wir im letzten Punkt und stellen fest: auch hier taugt Milei doch nicht als Vorbild für Deutschland.
4. Steigende Mietpreise
Kurz nach Mileis Amtsantritt hob er zwei Mietregulierungsmaßnahmen der Vorgängerregierung auf. Zum Einen durften vor Milei Vermieter die Miete nur um einen bestimmten Prozentsatz anheben, der jährlich von der argentinischen Zentralbank neu angesetzt wurde (sprich: Mietpreisbremse). Zum Anderen durften Mietverträge nur alle drei Jahre erneuert werden, so lange mussten sie unverändert gültig sein. Beides große Errungenschaften für den Mieterschutz.
Mileis Argument war jedoch, dass diese Regulierung des Staates zu einer Wohnungsverknappung vor allem in der Hauptstadt Buenos Aires führe. Nach seinen Deregulierungsmaßnahmen standen fast dreimal so viele Wohnungen zur Verfügung wie zuvor und die durchschnittlichen Mieten in Buenos Aires sind um 40 Prozentpunkte weniger stark gestiegen als die Inflation.
Der Grund dafür, dass es unter Milei mehr Wohnungsangebot gibt, liegt daran, dass durch den Wegfall des Mieterschutzes nun mehr Vermieter:innen ihre Wohnungen auf dem Markt anbieten. Weil sie zuvor die Miete nur geringfügig anheben und so nicht an die Inflation anpassen durften, vermieteten viele lieber nicht und viele Wohnungen standen leer.
Deregulierung zu Lasten von Langzeitmietern
Doch die Teuerung der Mieten ist immer noch enorm: Im Oktober lag die Inflationsrate bei 193%. Minus 40 Prozentpunkte bedeutet, dass die Mieten im Vergleich zum Vorjahr immer noch um durchschnittlich 153% anstiegen (Achtung: Zahlen können variieren, abhängig davon, mit welchem Monat verglichen wird). Viele Langzeitmieter:innen können sich daher keine Wohnung mehr leisten oder müssen umziehen.
“Eine Auswertung des Wirtschaftsinstitutes Centro de Estudios Económicos y Sociales Scalabrini Ortiz (CESO) ergab, dass der argentinische Mindestlohn aktuell nur für rund die Hälfte der Mietkosten einer typischen Einzimmerwohnung in Buenos Aires reichen würde”, wie Focus Online schreibt.
Die von der BILD-Zeitung angepriesene Deregulierungspolitik “funktioniert” eben nur, wenn man außer Acht lässt, dass sie zu Lasten der Langzeitmieter:innen geht. Und erst recht nicht als Beispiel für Deutschland taugt. Gerade, wenn die Mietpreisbremse auslaufen sollte, werden sich auch bei uns immer weniger Menschen ihre Wohnung weiter leisten können. Noch dazu dürfte die nächstes Jahr wahrscheinlich anstehende Erhöhung der Grundsteuer an die Mieter:innen weitergereicht werden.
Hier müssen wir allerdings auch auf die geringe Vergleichbarkeit hinweisen. Denn die Situation in deutschen Ballungsräumen ist eine andere als in Argentinien. Leerstände gibt es in deutschen Städten, anders als in Buenos Aires vor Milei, so gut wie nicht. Der Leerstand ist bei uns vor allem ein Problem ländlicher Regionen, die mit Abwanderung zu kämpfen haben. In den Großstädten herrscht eher ein akuter Wohnraummangel.
Fazit Mileis Wirtschaftspolitik: nur für die “erste Klasse”
Die oben aufgeführten Punkte zeigen, wie verheerend Mileis Wirtschaftspolitik für alle Bevölkerungsgruppen sind, die nicht der Mittel- und Oberschicht angehören. Ein Argentinier sagt im Spiegel: “Wir sind auf der Titanic, steuern auf den Eisberg zu. Nur die in der ersten Klasse werden gerettet.”
Eigentlich hatte Milei angekündigt, dass seine Deregulierungspolitik und seine Sparmaßnahmen die verhasste (obere) “Kaste” (“la casta”) treffen sollten. Also genau die Leute, die er für Argentiniens Niedergang verantwortlich macht. Dazu gehören peronistische Politiker:innen, aber auch Gewerkschafter:innen, Journalist:innen und Akademiker:innen.
Wie Hernan Letcher, Direktor des argentinischen Zentrums für Wirtschaftspolitik (CEPA) sagt: Die Leidtragenden sind jedoch nun die einfachen Leute, unter anderem Rentner:innen, deren Pensionen gekürzt werden, die Arbeiter:innen im öffentlichen Sektor oder die Bauarbeiter:innen.
Doch nicht nur seine Wirtschaftspolitik ist für die breite Mehrheit der Gesellschaft fatal – auch seine Gesellschaftspolitik. Wir gehen nicht davon aus, dass Herr Lindner diese Punkte meinte, aber zum Verständnis, warum der Vergleich so provokant ist – und wahrscheinlich auch als Provokation intendiert war – zeigen wir eine ausgewählte Liste der Standpunkte Mileis abseits der Wirtschaftspolitik.
So extrem ist Mileis Gesellschaftspolitik
Unter anderem steht er für diese Haltungen:
1. Milei leugnet den menschengemachten Klimawandel. Für ihn dient Klimapolitik nur dazu, „sozialistische Penner zu finanzieren, die Papiere schreiben“. Das Umweltministerium hat er abgeschafft. Die argentinische Delegation auf der Klimaschutzkonferenz COP29 in Baku dieses Jahr reiste vorzeitig ab.
2. Organhandel unter Marktbedingungen befürwortet er. Der Markt könne alles regeln.
3. Wenn es aber um die Selbstbestimmung des Körpers der Frau geht, sieht es mit der Freiheit plötzlich ganz anders aus. Die von der Frauenrechtsbewegung hart erkämpfte Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr 2020 möchte er rückgängig machen.
4. Auch das ganze Frauenministerium schaffte Milei ab, obwohl Femizide ein großes Problem in Argentinien sind. Der Plan zur Formalisierung der Arbeit von meist weiblichen Hausangestellten wurde gestrichen. Am 11. November stimmte Argentinien als einziges Land gegen eine Resolution der UN-Generalversammlung zur Prävention und Beseitigung aller Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere im digitalen Umfeld.
5. Auch die Erfolge der Vorgängerregierung für die Rechte für die LGBTQIA+-Community möchte Milei zunichte machen. Auch keine Freiheit für queere Menschen. Das Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI) wurde abgeschafft. Programme zum Schutz der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt wurden gestrichen. Geschlechtergerechte Sprache und jegliche Hinweise auf Geschlechterperspektive sind in öffentlichen Dokumenten jetzt verboten. Queerfeindlichkeit wird unter Milei wieder salonfähig. Queere Menschen fühlen sich nicht mehr sicher.
5. Die Gräueltaten der brutalen Militärdiktatur in Argentinien stellt Milei in Frage und relativiert sie. Die Stiftung Wissenschaft und Politik schreibt:
“Den systematischen Charakter der begangenen Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Folter, Morde, Verschwindenlassen) leugnet er jedoch. Er stellt die von Menschenrechtsorganisationen geschätzte und bisher auch von staatlicher Seite akzeptierte Zahl von rund 30.000 Todesopfern der Militärjunta in Frage.”
Milei: Autoritärer Antisemit?
Es geht noch weiter:
6. Die Pressefreiheit steht auf dem Spiel. Journalist:innen werden regelmäßig von Milei verbal attackiert. Die staatliche Nachrichtenagentur TELAM wurde in eine “Werbe- und Propagandaagentur” umgewandelt, ihre journalistische Tätigkeit damit eingestellt.
7. Weitere autoritäre Züge Mileis werden sichtbar, wenn es um Proteste gegen seine Maßnahmen geht. Diese werden teilweise von der Polizei niedergeprügelt. Während für Suppenküchen und Bildung kein Geld da ist, werden die Bereiche Justiz, Sicherheit und Geheimdienste aufgestockt. Der Mann, der für weniger Staat und mehr Freiheiten stehen soll, kämpft mit mehr Staat gegen die Freiheiten von seinen Kritikern?
8. Das öffentliche Gesundheitssystem wird schrittweise privatisiert. Gesundheit also bald nur noch für die, die es sich leisten können?
9. Auf ihr öffentliches und kostenloses Bildungssystem mit hohen Standards sind viele Argentinier:innen zurecht stolz. Gegen den Sparkurs an den Universitäten wird immer mehr protestiert.
9. Obwohl sich Milei gern als Israelfreund inszeniert und angeblich damit liebäugelt, zum Judentum zu konvertierten, macht seine Sparpolitik auch nicht vor Projekten halt, die Antisemitismus in Argentinien bekämpfen wollen. Wie oben erwähnt, wurde das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus aufgelöst. Jüdinnen und Juden in Argentinien kritisieren, “dass Milei Verschwörungserzählungen anhänge, etwa dem von der Alt-Right verbreiteten Kampfbegriff des “Kulturmarxismus” sowie dass manche seiner Aussagen als strukturell-antisemitisch gewertet werden könnten, beispielsweise wenn er von “nutzlosen, parasitären Politikern” spreche, “die nie gearbeitet” hätten”, wie Monty Ott in der Jüdischen Allgemeinen schreibt.
der rechtsradikale Lügner Musk als Vorbild?
Dass Elon Musk, und damit der andere Name, den Lindner in den öffentlichen Diskurs geschmissen hat, ein Antisemit ist, haben wir schon oft analysiert:
Du siehst: obwohl Lindner ja nicht den “Stil” Mileis übernehmen möchte, zu dem hoffentlich seine gesellschaftspolitischen Haltungen zählen, können all diese Punkte nicht ignoriert werden, wenn man einen Regierungschef als Vorbild anpreist. “Mehr Musk und Milei wagen” – dass Musk ein gnadenloser, rechtsradikalen Lügner und Antisemit ist, ist immerhin bekannt – viel mehr als eine Alliteration ist in dieser Aussage nicht auffindbar. Dass die Demokratie nicht von heute auf morgen, sondern durch tausend Nadelstiche stirbt, haben wir bereits hier analysiert:
Rechtsextreme lieben Milei – auch in Deutschland
Kein Wunder, dass Rechtsextreme viele dieser Überzeugungen Mileis teilen. Ein Blick auf sein Netzwerk zeigt seine Verbündete: Donald Trump (USA), Jair Bolsonaro (Brasilien), Viktor Orban (Ungarn), Vox (Spanien) und, nicht zu vergessen, die AfD in Deutschland. Mit seinem Vorbild will sich Herr Lindner sicherlich nicht in diese Gesellschaft einreihen.
Bei Mileis Deutschlandbesuch dieses Jahr erhielt er einen Preis der Hayek-Gesellschaft. “Der heutige Vorstand der neoliberalen Stiftung besteht überwiegend aus Männern, die FDP-Mitglied sind oder mal waren. Viele prominente FDP-Politiker traten zwischen 2015 und 2017 bereits aus der Hayek-Gesellschaft aus, als sie wegen ihrer Nähe zur AfD in die Kritik geriet – unter anderem Christian Lindner”, wie der Tagesspiegel schreibt.
Ein Blick auf die Zuschauer:innen bei der Preisverleihung lohnt sich: Anwesend waren sowohl AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch sowie der rechtsradikale Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen.
über probleme ohne autoritäre vorbilder sprechen
Doch warum hat Lindner Milei bei der ARD-Talkshow (übrigens nur in einem Halbsatz) erwähnt, gefühlt aus dem Nichts? Es war wohl Teil seiner Strategie, vom D-Day-Paper abzulenken und davon, dass die FDP wieder vor dem politischen Aus steht. Im D-Day Papier wurde Lindner und die FDP heftig aus allen politischen Richtungen kritisiert, weil sie gezielt und dreist die Öffentlichkeit belogen hatten.
Was aber bei der ganzen Aufregung nicht vergessen werden darf und was Herr Lindner uns nicht gesagt hat: Milei möchte den Staat nicht “reformieren”, er möchte ihn abschaffen. Der Staat ist für ihn die Wurzel von allem Übel. Soziale Gerechtigkeit ist für ihn ein “Irrweg”. Für den Staat fühlt er, direktes Zitat, “grenzenlose Verachtung”. Herr Lindner sollte ein bisschen genauer recherchieren, welche Namen er fallenlässt und Medien sollten nicht einfach übernehmen, dass Milei angeblich bloß für “Reformfreude und Disruption” steht.
Es sollte den Zuschauer:innen nicht verschwiegen werden, dass Milei in Argentinien ein lupenreines sozialdarwinistisches Wirtschaftsexperiment durchführt, dessen Ausgang noch nicht absehbar ist, aber klar ist, dass es die Armut im Land weiter verschärfen wird. Und dass Milei darüber hinaus für eine Gesellschaftspolitik steht, die Demokratien nicht würdig ist. Über Bürokratieabbau diskutieren und darüber, wie die deutsche Wirtschaft noch robuster werden kann? Gerne. Aber das muss doch auch ohne Referenzen zu Milei und Musk gehen.
Noch dazu im Hinblick auf die Tatsache, dass Deutschlands und Argentiniens Wirtschaft nun wirklich nicht vergleichbar sind. Mehr noch: Einige Probleme Deutschlands, beispielsweise steigende Mieten trotz Mietpreisbremse, würden mit Mileis Politik noch verschärft anstatt verbessert werden.
Fazit: Weniger Milei wagen
Will Christian Lindner von all dem ablenken, indem er Milei und Musk erwähnt hat? Kaum vorstellbar, dass er wirtschaftliche Rezession und exorbitante Armut für Deutschland will. Dass Deutschland Bürokratieabbau und Deregulierung in einigen Bereichen braucht, steht außer Frage. Wie Steffan Mau es sagte, nachdem Lindner wegen seines Zitates zurückruderte: “Wenn es keine Vorbilder sind, dann sollte man sie auch nicht nennen”.
Artikelbild: Natacha Pisarenko/AP/dpa
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