Die Deutsche Bahn steht vor großen Herausforderungen: Sie muss das marode Schienennetz sanieren und die Infrastruktur digitalisieren. Aus Kostengründen will das Unternehmen nun die Digitalisierung massiv zurückfahren – obwohl das geplante Sondervermögen Investitionen ermöglichen sollte.

Bis heute sind bei der Deutschen Bahn noch Stellwerke im Einsatz, die aus der Kaiserzeit stammen. Wie vor über einhundert Jahren werden hier die Weichen noch von Hand gestellt.
Die Deutsche Bahn AG will das eigentlich ändern. „Die Digitalisierung ist ein zentraler Erfolgsfaktor für den Wandel hin zu einer robusten, leistungsfähigen und modernen Bahn“, schreibt das Unternehmen noch in seinem Zwischenbericht 2024. Züge sollen künftig weitgehend automatisiert, in geringerem Abstand und damit enger getaktet fahren. Und je automatisierter die Bahn fährt, desto weniger Störungen gebe es, so das Versprechen des Konzerns.
Den Weg dahin soll die Forschungsabteilung „Digitalisierung Bahnsystem“ (DBS) ebnen, die Teil der Bahn-Initiative Digitale Schiene Deutschland (DSD) ist. Noch. Denn die Deutsche Bahn AG wird die Abteilung zum 1. August dieses Jahres auflösen. Statt auf die Digitalisierung will sich das Unternehmen in Zukunft vor allem auf den Erhalt des Bestandsnetzes konzentrieren. Das geht aus Audioaufnahmen einer internen Veranstaltung vom 20. März hervor, die netzpolitik.org anhören konnte.
Diese Weichenstellung erfolgt zu einem überraschenden Zeitpunkt. Denn erst vor wenigen Tagen haben Bundestag und Bundesrat für ein milliardenschweres Sondervermögen gestimmt. Dessen Mittel sollen auch in die Modernisierung der Deutschen Bahn fließen.
Mehr Kapazität durch Digitalisierung
Die Entscheidung der Bahn hatte sich bereits Mitte vergangenen Jahres angedeutet. Medienberichten zufolge strebt die Bahn schon seit längerem eine „Neuordnung der Mittel innerhalb des Budgetrahmens der Digitalen Schiene Deutschland“ zugunsten des „Erhalts der Geschäftstätigkeit“ an. Konkret bedeutet das: weniger Geld für die Digitalisierung und mehr Geld für die Sanierung der Haupttrassen.
„Höchste Priorität hat aktuell der Ersatz störanfälliger Alt-Stellwerke, um damit rasch und effizient positive Effekte auf Qualität und Kapazität im Bestandsnetz zu erzielen“, bestätigt eine Bahn-Sprecherin auf Anfrage von netzpolitik.org. Sie betonte zugleich, dass die Initiative Digitale Schiene Deutschland weiterlaufe. Allerdings werde die DB InfraGO, ein Tochterunternehmen der DB AG, das „Portfolio“ anpassen.
Im Rahmen von „Digitale Schiene Deutschland“ will die Bahn ihre Infrastruktur modernisieren. Damit der Zugverkehr zuverlässiger und leistungsfähiger wird, sind drei Vorhaben zentral. Erstens das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS). Das moderne Zugleitsystem soll eine einheitliche Steuerung und Kommunikation von Zügen ermöglichen. Zweitens das neue digitale Zugsicherungssystem European Train Control System (ETCS). Es ist ein wichtiger Baustein von ERTMS und ermöglicht die sichere Steuerung einzelner Züge mittels Sensoren. Derzeit ist Deutschland ETCS-Schlusslicht in Europa. Und drittens sollen elektronische Stellwerke durch digitale Stellwerke (DSTW) ersetzt werden.
Gewaltige Finanzierungslücken
Diese Technologien sind auch die Voraussetzung für ein (teil-)autonomes Fahren der Züge. Hier drosselt die Deutsche Bahn AG aber nun deutlich das Tempo. Einige technologische Entwicklungen, darunter die Arbeiten am teilautonomen Fahren (GoA2), werde die Bahn in andere Unternehmensbereiche migrieren, kündigte die Bahn-Sprecherin gegenüber netzpolitik.org an. Auch die Entwicklung des vollautomatisierten fahrerlosen Zugbetriebs GoA4 will die Deutsche Bahn „in kleineren und damit besser migrierbaren Schritten“ fortsetzen.
Vorerst gestoppt wird das Projekt Advanced Digital Infrastructure (ADI). Es bietet die Voraussetzung für das höchste ETCS-Level, bei dem die Züge direkt miteinander kommunizieren und quasi autonom fahren. Der Nutzen dieser Technologie ergebe sich aus Sicht der Bahn jedoch erst in „weiterer Zukunft“, außerdem sei ihre Umsetzung zu kostspielig.
Stattdessen will die Bahn nun in die Instandsetzung der bestehenden Infrastruktur investieren. Dafür will sie auch Mittel aus dem geplanten Sondervermögen erhalten. Für die Sanierung des Bestandsnetzes veranschlagt das Unternehmen bis 2034 rund 170 Milliarden Euro. Aber auch für die Digitalisierung braucht die Bahn nach eigenen Angaben 28 Milliarden Euro. Insgesamt sieht sie für die kommenden zehn Jahre einen Investitionsbedarf in Höhe von rund 290 Milliarden Euro.
Auch eine aktuelle Machbarkeitsstudie für die Bundesregierung weist auf gewaltige Finanzierungslücken hin. Demnach müsste der Bund bis zum Jahr 2029 etwa acht Milliarden Euro in die Digitalprojekte der Bahn investieren. Für den gesamten Ausbau der Strecken auf Basis des Zugsicherungssystems ETCS könnten demselben Bericht zufolge bis zum Jahr 2070 fast 54 Milliarden Euro nötig sein.
Digitalisierung hat „keinen guten Stand“
Doch obwohl noch nicht klar ist, wie viel Geld die Bahn aus dem Sondervermögen erhält, nimmt der Konzern eine Weichenstellung für die kommenden Jahre vor.
Zu den folgenreichen Entscheidungen gehört auch die Auflösung der Forschungsabteilung „Digitalisierung Bahnsystem“ (DBS). Rund 240 Beschäftigte arbeiten dort aktuell noch. Etwa 70 bis 90 der Stellen sollen gestrichen werden. Alle anderen Beschäftigten sollen, wenn möglich, andere Aufgaben im Unternehmen übernehmen.
Die Digitalisierung habe im Unternehmen derzeit „keinen guten Stand“, hieß es am vergangenen Donnerstag, als die Entscheidung in der Abteilung bekannt gegeben wurde. Das Top-Management wolle sich „auf unsere bestehenden Gleise konzentrieren und diese in Ordnung bringen – nicht aber auf die Digitalisierung.“
An dieser Entscheidung wolle die Deutsche Bahn ungeachtet des geplanten Sondervermögens festhalten, so die Bahn-Sprecherin gegenüber netzpolitik.org. Schließlich sei die Umstrukturierung schon vor Monaten beschlossen worden.
Der weitere Weg sei vorgezeichnet. Bestehende große Digitalisierungsprojekte werde die Bahn vertragskonform beenden, so die Sprecherin. Bei „kleineren europäischen Entwicklungsprojekten“ werde das Unternehmen in den kommenden Monaten mit den jeweiligen Projektpartnern darüber verhandeln, „wie ein qualifiziertes Niederlegen der Arbeiten geplant werden kann“.
Das aber aber wird die Gefahr noch vergrößern, dass die dort Beschäftigten in andere Unternehmen wie Siemens oder Hitachi abwandern. Entsprechend teuer dürfte es werden, wenn die Deutsche Bahn später wieder Bedarf an deren Expertise hat.
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