IZ vom 26.02.2025
Auf den Kopf gestellt
Von Siegfried Prokop
Von den Bildungsreformen in der DDR profitierten auch Studenten aus Vietnam und afrikanischen Ländern (hier an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, 1971)
Siegfried Prokop ist Historiker und hat zahlreiche Bücher zur DDR veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm 2022 im Berliner Trafo-Verlag das Werk »Probleme der Geschichte der DDR. Die Ulbricht-Ära (1950–1970)«.
Die DDR hatte im Vergleich zur Bundesrepublik den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs unter ungleich schwereren Bedingungen zu leisten. Schon die von den USA vorgeschlagene und von Stalin akzeptierte Teilung Deutschlands in zwei Reparationsgebiete, auf der einen Seite die drei Westzonen und auf der anderen Seite die sowjetische Zone, belastete die Ostdeutschen in ungleichem Umfang. Erheblich verschärft wurde die Situation durch die Spaltung Deutschlands und die Sanktionspolitik nach dem Ausbruch des Kalten Krieges 1947/48 mit den von der NATO nach 1949 verhängten Sanktionen. Der Aufbau der DDR begann unter den schwierigen Bedingungen der Trennung ihrer überwiegend verarbeitenden Industrie von der schwerindustriellen Basis im Westen. Anzuerkennen ist, dass nach Überwindung der ärgsten Spaltungsdisproportionen schon 1958 die Industrieproduktion der DDR die geplante Ziffer um 57 Prozent übertraf, während sich in der Bundesrepublik eine zyklische Krise bemerkbar machte.
Bevölkerungsentwicklung
Unter diesen Bedingungen schien es zunächst möglich, der Wanderungsbewegung, die sich bis dahin zwischen beiden Staaten bei offener Grenze zuungunsten der ökonomisch schwächeren DDR vollzogen hatte, eine andere Richtung zu geben. Tatsächlich gingen die Zahlen der Wegzüge bis 1959 zurück, während die Zahl der Zuzüge aus der Bundesrepublik stieg und 50.000 bis 60.000 im Jahr erreichte. Zu berücksichtigen ist auch die Zunahme der Geburten im Ergebnis des »Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau«. Von 1958 bis 1961 betrug der Geburtenüberschuss 250.672 Menschen.
Der 1960 erneut massiv entfesselte Wirtschaftskrieg, die forcierte Abwerbung und die Zuspitzung der Grenzgängerproblematik in Berlin brachten die DDR Anfang der 1960er Jahre um die Früchte dieses Bevölkerungswachstums. Auf die Zunahme der Republikflucht hatten auch innere Prozesse Einfluss. Die soziale Umwälzung erreichte ein solches Tempo, dass ihr manche Bürger in der geistigen Verarbeitung nicht mehr zu folgen vermochten. Sie reagierten mit der Republikflucht auf die subjektiv heftig erlebten Konflikte. Durch Abwerbung und Republikflucht verlor die DDR Ende der 1950er Jahre etwa 2,2 Prozent ihrer Bevölkerung.
Die Bundesrepublik, die selbst unter dem »Braindrain« intellektueller Spitzenkader in die USA litt, hielt sich durch den »Raub der Hirne« aus der DDR schadlos. Aus einer Analyse der sozialen Zusammensetzung der abgeworbenen DDR-Bürger, die im Bezirk Gera angefertigt wurde, ging hervor, dass die Intelligenz von 1953 bis 1960 daran einen durchschnittlichen Anteil von sechs Prozent hatte. 1960 schnellte dieser Anteil auf 12,6 Prozent hoch. Allein an den in diesem Zeitraum aus der DDR abgeworbenen Intelligenzkadern dürfte die Bundesrepublik etwa 1,967 Milliarden US-Dollar Ausbildungskosten eingespart haben.
Die Abwanderung verschärfte darüber hinaus das infolge der beiden Weltkriege anomale Gepräge in der Altersstruktur der Bevölkerung. Der Anteil der Rentner, der Ende 1951 nur 14,4 Prozent ausmachte, erhöhte sich bis 1958 auf 17,2 Prozent und erreichte 1961 18 Prozent. Der Anteil der Kinder unter 15 Jahren ging 1951 bis 1958 auf 20,6 Prozent zurück und stieg bis 1961 auf 23,6 Prozent. Dieser anfängliche Rückgang bedeutete zunächst, dass weniger Menschen in das arbeitsfähige Alter aufrückten, wodurch der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung abnahm. Die rasche Einführung der zehnklassigen polytechnischen Schulbildung ab 1958 verschärfte diese Tendenz weiterhin. In kurzer Zeit verschob sich die Grenze des arbeitsfähigen Alters um zwei Jahre nach oben. Im Jahre 1960 standen nur noch 20 Prozent der Grundschulabgänger zur unmittelbaren Aufnahme eines Lehrverhältnisses zur Verfügung, während bereits 80 Prozent in die Polytechnischen Oberschulen übernommen wurden.
Der Frauenüberschuss als Folge der beiden Weltkriege normalisierte sich in der DDR langsamer als in anderen vergleichbaren Ländern. Der Frauenanteil betrug 1958 etwa 55,1 Prozent und verringerte sich bis 1961 auf 54,9 Prozent, während er in der ČSSR, in Polen und in Ungarn bereits auf 52 Prozent gesunken war.
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik der Volkskammer prognostizierte im Januar 1959, dass der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter bis 1965 um 700.000 zurückgehen werde, allein für 1959 wurde mit einer Zahl von 150.000 gerechnet. Der Ausschuss votierte dafür, trotz dieses Rückgangs zu sichern, dass durch Mobilisierung von Arbeitskräftereserven die Zahl derjenigen, die in Arbeit stehen, annähernd gleichbleibt. Das erforderte, noch nicht berufstätige Bürger für die Produktion zu gewinnen.
Die Rentner schieden als Arbeitskräftereserve bereits aus, da ihr Beschäftigungsgrad schon sehr hoch war. Über 500.000 Menschen im Rentenalter befanden sich in Arbeit. Lediglich bei der weiblichen Bevölkerung wurden noch Arbeitskräftereserven gesehen. Grundvoraussetzung für die Lösung dieser Aufgabe war, dass größere Anstrengungen unternommen wurden, um die Gleichberechtigung der Frau als soziale Frage zu lösen. Das juristisch garantierte Recht jeder Frau auf Arbeit musste in der Realität durchgesetzt werden. Durch eine differenzierte politische Arbeit sollten auch die Frauen von Gewerbetreibenden, von Handwerkern und der vor 1945 ausgebildeten Intelligenz für die Aufnahme einer Arbeit gewonnen werden. Der verstärkte Ausbau der Dienstleistungseinrichtungen, der Kindergärten, -horte und -krippen schuf bessere Voraussetzungen dafür, dass Mütter die Berufstätigkeit mit den Pflichten in der Familie verbinden konnten. Von 1958 bis 1961 erhöhte sich die Zahl der Plätze in Kindergärten und -wochenheimen um 26,2 Prozent und in Erntekindergärten um 5,3 Prozent. Die Zahl der in Horten betreuten Schüler verdoppelte sich von 1958 bis 1960. Von 1958 bis 1961 erhöhte sich der Anteil der weiblichen Beschäftigten an den Gesamtbeschäftigten von 43,9 auf 45,7 Prozent.
Zweifellos hat der Arbeitskräftemangel den Emanzipationsprozess der Frauen in der DDR beschleunigt, ihn jedoch zum »Spiritus Rector« und einzigen Motiv der staatlichen Frauenförderung zu erklären, wie es heute der Zeitgeist behauptet, ist falsch. Dadurch, dass die überwiegende Mehrheit der Frauen ihr Recht auf Arbeit wahrnahm, war es möglich, die Gleichberechtigung in wesentlichen Teilbereichen zu verwirklichen.
Programmfragen
Dass die SED 1963 im Unterschied zur KPdSU, zur KPČ und anderen befreundeten Parteien eine verkürzte historische Perspektive vermied, indem sie nicht erklärte, zum Aufbau des Kommunismus überzugehen, ist als Neuerung anzuerkennen. Die SED war die erste Partei, die gegen massiven Druck aus Moskau davon ausging, dass nach der Übergangsperiode eine längere Etappe des Sozialismus beginnen würde. Walter Ulbricht warnte vor Illusionen: »Der umfassende Aufbau des Sozialismus in der DDR ist – wie die ganze Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und unser bisheriger Weg bei der Schaffung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – keine bequeme Fahrt auf glatter Straße. Jeder Schritt vorwärts muss durch zielbewusste Arbeit, unter großen Anstrengungen, in einem komplizierten Kampf errungen werden. Die geschichtliche Erfahrung lehrt, dass dies nichts Außergewöhnliches, sondern der normale Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung ist.«
Feststellungen zur Rolle der Staatsmacht, die im Parteiprogramm fixiert wurden, wie zum Beispiel die Weiterentwicklung der Diktatur des Proletariats zum Staat des Volkes, durften schon wenige Jahre später nicht mehr erwähnt werden. Das Programm sprach davon, dass die kulturell-erzieherische und die ökonomische Funktion der Staatsmacht beim umfassenden Aufbau des Sozialismus in den Vordergrund treten würden, während die repressive Funktion an Bedeutung verlieren würde. »Durch die Entfaltung der sozialistischen Demokratie entwickelt sich der Arbeiter-und-Bauern-Staat, die Diktatur des Proletariats, zum Volksstaat, der die allumfassende politisch-moralische Geschlossenheit des Volkes verkörpert.« Diese Wertungen folgten Thesen von Nikita S. Chruschtschow. Sie hätten Anlass sein können, die reale Entwicklung der DDR mit der 1963 noch geltenden demokratischen Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Chruschtschows Sturz im Jahre 1964 machte es konservativen Kräften im SED-Politbüro möglich, die politische Umsetzung dieser Passagen zu hintertreiben.
Das Programm ging auch auf das Verhältnis zur Bundesrepublik ein, wobei sich alte Unterschätzungen, Wunschdenken und Illusionen mit realen Bewertungen mischten. Schon damals wurde geschmunzelt, wenn behauptet wurde, die DDR sei der Bundesrepublik eine ganze Epoche voraus.
Ferner wurde nüchtern festgestellt, dass es dem objektiven Entwicklungsgesetz der Nation entspreche, wenn die Lösung der nationalen Frage und damit die Wiedervereinigung angestrebt werden. Erst im Sozialismus werde die deutsche Nation auf eine höhere Stufe gehoben. Der umfassende Aufbau des Sozialismus erfolge »unabhängig von der Entwicklung im westdeutschen Staat«. Die besten Bedingungen entstünden für die DDR, »wenn in Westdeutschland Imperialismus und Militarismus überwunden sind und die beiden deutschen Staaten im Rahmen einer Konföderation in gesicherter friedlicher Koexistenz miteinander wetteifern«.
Das Programm von 1963 beinhaltete Ansätze für eine Gesellschaftsstrategie nach der Transformationsperiode, ohne bereits ein Konzept für eine entwickelte sozialistische Gesellschaft zu bieten. Strategische Aufgabenfelder blieben unerkannt. Nicht korrigiert wurden Beschlüsse, zu denen es im Zeichen der zweiten Berlin-Krise Anfang der 1960er Jahre gekommen war. In weitgehend übereinstimmenden Beschlüssen des SED-Politbüros vom 12. Juli 1960 und des Ministerrates vom 14. Juli wurde festgelegt, dass die Staatsorgane die Beschlüsse der SED auszuführen hätten.
Der politische und technische Apparat des Zentralkomitees der SED stieg bis 1970 von 844 auf 1.770 Mitarbeiter. Adäquate Entwicklungen vollzogen sich auf Bezirks- und Kreisebene. Bezogen auf den Staatsapparat entwickelte die SED seitdem eine ungesunde Parallelstruktur, die jeglichen Ansatz zu einer sozialistischen Demokratie verhinderte. Blockiert wurde auch die Wirkung der anderen Parteien, der CDU, DBD, LDPD und NDPD, deren Mitgliederzahl in den 1960er Jahren anwuchs, was eine günstige Voraussetzung für ein Aufblühen des Mehrparteiensystems in einem demokratischen Sozialismus hätte sein können. Auch diese Chance wurde vertan.
Bildungsgesetz
Im Februar 1965 beschloss die Volkskammer der DDR auf ihrer 12. Tagung das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Erstmals in der deutschen Geschichte sicherte der Staat allen Bürgern das gleiche Recht auf Bildung zu. Zu den grundlegenden Bestandteilen des Bildungssystems wurden gezählt:
– die Einrichtungen der Vorschulerziehung,
die zehnklassige allgemeinbildende Polytechnische Oberschule,
die Einrichtungen der Berufsausbildung,
die zur Hochschulreife führenden Bildungseinrichtungen,
die Ingenieurs- und Fachschulen,
die Universitäten und Hochschulen,
die Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung der Werktätigen.
Die Sonderschuleinrichtungen nahmen Kinder mit physischen oder psychischen Schädigungen auf. Das sozialistische Bildungssystem sicherte jedem Bürger die Möglichkeit des Übergangs zur jeweils nächsthöheren Stufe bis zu den höchsten Bildungsstätten, den Universitäten und Hochschulen, zu.
Alexander Abusch, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, erklärte in seiner Begründung des Gesetzes vor der Volkskammer, dass das Gesetz von einer Kommission, der 67 hervorragende Wissenschaftler, Pädagogen, Vertreter verschiedener Zweige der Volkswirtschaft und Leiter der staatlichen Organe angehörten, ausgearbeitet worden war. In über zehntausend Veranstaltungen war der Entwurf des Gesetzes diskutiert worden. Eine besondere Rolle spielte in diesen Debatten die kritische Bewertung des erreichten Entwicklungsstandes: Das Neue bei dem zu beschließenden Gesetz bestehe darin, dass es die grundlegende Bedeutung und das Wesen einer modernen sozialistischen Allgemeinbildung im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer hohen Spezialbildung klarstelle. In etwa acht Jahren verdoppele sich der Zustrom an Wissen. Es sei sinnlos, unbegrenzte Wissensmengen zu lehren. Das Grundwissen müsse so ausgewählt und gelehrt werden, dass es jedem Menschen den Zugang zu den wesentlichsten Gebieten menschlichen Denkens und Handelns erschließt.
Relativ selbständig
Zum 100. Jahrestag des Erscheinens des ersten Bandes des »Kapital« wurde in Berlin eine internationale Session am 12./13. September 1967 durchgeführt, auf der Walter Ulbricht ein vom sowjetischen Modell abweichendes Konzept vom Sozialismus zu begründen versuchte. Heinz Niemann schilderte in seiner Eigenschaft als ehemaliger Leiter der Stabsgruppe zur Vorbereitung und Organisation dieser Veranstaltung den widersprüchlichen Werdegang des theoretischen Neuansatzes, der im Kreml heftigen Widerspruch auslöste. Die Neuerung bestand darin, dass der Sozialismus keine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft sein kann, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation sein muss. Davor war es üblich, den Sozialismus nur als kurzfristige Übergangsphase anzusehen, in der die Gesellschaft sich von den Muttermalen des Kapitalismus frei machen und die materiellen und geistigen Voraussetzungen für die zweite Phase des Kommunismus schaffen muss. Nicht beachtet wurde, dass der Sozialismus sich auf seiner eigenen Grundlage entwickelt. Ulbricht hielt die noch bestehenden privatkapitalistischen und halbstaatlichen Betriebe sowohl volkswirtschaftlich als auch bündnispolitisch für viel zu wichtig, um sie aus ideologischen Gründen zu enteignen.
Heinz Niemann geht gründlich auf den Volksentscheid vom 6. April 1968 ein, wenn er in seiner Geschichte der SED schreibt: »Erst- und einmalig bis heute in der deutschen Geschichte hatte das ganze Staatsvolk die Gelegenheit, über seine Verfassung abzustimmen.«¹ Bei einer Wahlbeteiligung von 98,05 Prozent stimmten 94,49 Prozent der neuen DDR-Verfassung zu. 409.733 Wahlberechtigte stimmten dagegen. 24.353 Stimmen waren ungültig. Er zählte die seit 1953 in den Westen Abgewanderten zu den Nein- bzw. ungültigen Stimmen hinzu und kam so zu einer Legitimationsrate von rund 75 Prozent. Niemann widerspricht der heute verbreiteten These, die SED habe sich niemals und zu keiner Zeit auf eine Mehrheit der Bevölkerung stützen können, sie sei nie durch »freie Wahlen« legalisiert worden, auch sonst in keiner Weise politisch-moralisch legitimiert gewesen. Er belegt diese Bewertung auch mit Umfrageergebnissen des Instituts für Meinungsforschung, das, weil es Erich Honecker zu unbequem war, 1978 aufgelöst wurde.
Ulbricht hatte 1968 gegen Einwände aus Moskau durchgesetzt, dass die DDR in Artikel 1 der Verfassung als ein »sozialistischer Staat deutscher Nation« charakterisiert wurde. 1971 hinterließ Ulbricht seinem Nachfolger Honecker einen Staat, dessen Finanzen in Ordnung waren, der eine handlungsfähige Regierung hatte und eine intakte Partei. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung bejahte das Gesellschaftssystem und empfand diesen Staat als den ihren.
Die Hochschulreform
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kamen mit der technischen Revolution neue Anforderungen auf die Universitäten und Hochschulen zu. Am 2. und 3. Februar 1967 tagte in Berlin die IV. Hochschulkonferenz, die die »Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR« beschloss. Die Konferenz verabschiedete ferner »Grundsätze der Leitung der Hochschulen« und drei Entwürfe von Verordnungen: die Hochschullehrerberufungsverordnung, die Mitarbeiterverordnung und die Verordnung über die akademischen Grade. Die gestiegene Bedeutung der Universitäten und Hochschulen wurde dadurch unterstrichen, dass mit Wirkung vom 13. Juli 1967 das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen in ein Ministerium umgewandelt wurde.
Die hochschulpolitischen Entwicklungen im Westen hatten gerade in dieser Zeit turbulente Formen angenommen. Am 2. Juni 1967 war der Student Benno Ohnesorg in Westberlin erschossen worden. Gewaltige Demonstrationen von Studenten in der Bundesrepublik folgten, die sich im Herbstsemester fortsetzen und verstärken sollten. Auch einige Betriebe schlossen sich den Protesten an. Nicht wenige Studenten lasen erst Marcuse und dann Marx und glaubten gar, die Bundesrepublik stünde unmittelbar vor einer Revolution. Vergleichbare Studentenproteste fanden auch in Frankreich, in den USA, in Jugoslawien und in Polen statt. Partei und Regierung der DDR befürchteten das Überspringen der Studentenrevolte auf das Territorium der DDR. Unsicherheit und Unentschlossenheit kamen auf, ob man mit der Umstrukturierung des Hochschulwesens beginnen sollte.
Im Oktober 1967 fand ein Gespräch statt, zu dem DDR-Hochschulminister Ernst-Joachim Gießmann Biologiestudenten des dritten Studienjahres eingeladen hatte. Auf Initiative von Cate Katzenstein und Lienhard Linke, unterstützt von Frau Professor Ursula Nürnberg, hatten sie den Biologiestudienplan entrümpelt und neu konzipiert. Der Minister sagte den Biologen, dass er ihre Arbeit sehr schätze und den neuen Plan versuchsweise für die Humboldt-Universität bestätigen werde. Zugleich beschwor er sie, darüber nichts außerhalb der Universität verlauten zu lassen. Er wünsche keine Unruhe an den Universitäten und Hochschulen der DDR.
Im Gegensatz zu dieser Vorsicht des Ministers kam es am 28. Februar 1968 im Senatssaal der Humboldt-Universität zu einem Paukenschlag. Johannes Hörnig, Leiter der Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED, hielt vor dem zu einer außerordentlichen Beratung einberufenen Senat eine Rede, die zugleich eine Zäsur markierte. Unter dem Druck der internationalen Studentenproteste gegen die Ordinarienuniversität und den »Muff von tausend Jahren« wurde jetzt auch in der DDR der Ausweg nach vorn gesucht, eine rasche Reform unter großzügiger Einbeziehung der Studenten. Hörnig sprach sich dafür aus, dass so wie die Biologiestudenten des dritten Studienjahres an der Humboldt-Universität alle Studenten der DDR aktiv in die Reform einbezogen werden sollten. Der Lehrstoff sei zu optimieren. Die Erweiterung des Wissens dürfe nicht zu einer ständigen Erhöhung der Wochenstundenzahlen führen. Dabei sei von den progressiven Traditionen der Universität auszugehen, das heißt: »Nichts soll verloren gehen, was wertvoll ist, aber nichts soll erhalten werden, was überholt ist.«
Studenten und Mitarbeiter erhielten im Ergebnis der Reform größere Mitspracherechte. Ein positives Ergebnis der Reform war die Studentenforschung durch die Etablierung des wissenschaftlich-produktiven Studiums. Besonderheiten blieben in den Bereichen Medizin und Theologie. Zentralisierungsbestrebungen und Konzentrationsprozesse bedrohten die Fortexistenz der kleinen Disziplinen, so dass diese durch besondere Maßnahmen geschützt werden mussten. Zentrale Pläne in der Forschung im Rahmen der Räte für die Wissenschaftsdisziplinen förderten die Konzentration des Forschungspotentials und verringerten die Doppelarbeit.
Der kreative Forschungsprozess wurde jedoch behindert durch eine Dogmatisierung und Bürokratisierung, die sich vor allem nach 1971 mit dem Wechsel zur Ära Honecker verfestigten. Der geplante Universitätsumbau wurde zugunsten des Wohnungsbauprogramms »aufgeschoben«.
Vergleich DDR–BRD
Ursula Weidenfeld vergleicht in ihrem neuen Buch die Bildungsfortschritte in der DDR mit der Bildungskatastrophe in der Bundesrepublik: »Immer noch gab es im Westen Tausende ein- und zweiklassige Volksschulen, in denen alle Jahrgänge gemeinsam unterrichtet wurden. Auch hier war die DDR weiter (…). Die Bildungsmisere der DDR war beendet, als die des Westens begann.«²
Am 2. Mai 1988 fand in der Moritzbastei in Leipzig eine Podiumsdiskussion über die studentische Rebellion im Jahr 1968 in Westeuropa und in den USA statt, die Sabine Hörnigk organisiert hatte. Das politische Klima in Leipzig war schon so verklemmt, dass sämtliche Leipziger Professoren kurzfristig die Teilnahme an der Veranstaltung absagten (absagen mussten?). Der Leipziger Parteiführung war das Thema wohl zu »rebellisch«.
Nur Vincent von Wroblewski, ein Kenner der französischen 1968er Studentenrevolte von der Akademie der Wissenschaften in Berlin, und ich erschienen. Der Saal war brechend voll. Ich referierte, und Vincent moderierte. Die Debatte zog sich bis 21.30 Uhr hin und musste wegen der nachfolgenden Veranstaltung abgebrochen werden. Gefragt wurde nach dem SDS, nach der Rolle von Herbert Marcuse, der Springer-Presse, des Sex und den Einwirkungen auf die DDR. Diese Studentengeneration hatte keine Ahnung mehr von der Hochschulreform in der DDR, aber der Aufbruch der Studenten im Westen faszinierte sie außerordentlich.
Anmerkungen:
1 Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED. Ein Lesebuch. Berlin 2020, S. 485
2 Ursula Weidenfeld: Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949-1990. Berlin 2024, S. 205
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/494763.bildungswesen-auf-den-kopf-geste...
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