EU-Richtlinie für Plattformarbeit: Was bei der Umsetzung in Deutschland nicht fehlen darf

Eine neue EU-Richtlinie soll die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitenden verbessern. Die Mitgliedstaaten haben in der Umsetzung allerdings große Freiräume. Gewerkschaften, Forschende und Plattformarbeitende fordern deshalb eine klare und starke Umsetzung in deutsche Gesetze.

Ein Kurierdienstfahrer steht vor einer EU Flagge und einer Deutschlandflagge.
Eine neue EU-Richtlinie soll Plattformarbeit verbessern. Deutschland hat zwei Jahre Zeit, sie umzusetzen. – Alle Rechte vorbehalten Wolt-Fahrer: IMAGO / Michael Gstettenbauer; EU-Flagge: Alexey Larionov; Deutschlandflagge: Christian Wiediger; Montage: Ben Bergleiter

Die kalte Jahreszeit ist angebrochen: Es ist die Zeit der Gemütlichkeit, der warmen Decken und der dicken Socken. Abends wird sich schön auf das Sofa gelümmelt und Essen bestellt – herrlich! Doch das gilt nur für die eine Seite des Bestellvorgangs, die Konsumierenden. Die andere Seite, die Liefernden, radeln bei Wind und Wetter stundenlang durch die Stadt, um den Bestellenden ihre Gemütlichkeit zu ermöglichen. Und das oft unter prekären Arbeitsbedingungen.

Plattformarbeiter:innen, wie etwa Kurierdienstfahrer:innen, arbeiten oft unter unklaren Beschäftigungsverhältnissen, ohne soziale Absicherungen und Interessenvertretungen. Eine neue EU-Richtlinie soll diese Arbeitsbedingungen verbessern. Arbeiter:innen sollen mehr Schutz und Rechte erhalten und Plattformbetreiber für mehr Transparenz sorgen. Nach jahrelangem politischen Ringen einigten sich die EU-Mitgliedstaaten im März endlich auf einen fertigen Text. Die finale Fassung soll noch im Oktober als offizieller Gesetzestext im Amtsblatt der EU erscheinen. Dann werden die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit haben, die Richtlinie in nationale Gesetze umzusetzen.

In Deutschland arbeitet das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) schon seit über vier Jahren daran, Plattformarbeit fairer zu gestalten – bisher ohne konkrete Ergebnisse. Im November 2020 veröffentlichte das BMAS ein Eckpunktepapier. Da zeichnete sich auf der höheren EU-Ebene aber schon Bewegung ab, das Vorhaben wurde beiseitegelegt.

Unklare Beschäftigungsverhältnisse

Viele Plattformarbeitende sind formell selbstständig. Ihr Arbeitgeber muss ihnen beispielweise keinen Mindestlohn zahlen, dafür sind sie aber auch flexibler in ihren Tätigkeiten und können sich ihre Aufträge selbst aussuchen. Es gibt aber viele Fälle von Scheinselbstständigkeit: Arbeitnehmende gelten dann als selbstständig, obwohl sie in einem abhängigen Verhältnis zum Arbeitgebenden stehen.

Aber das nachzuweisen, kann für Arbeiter:innen teuer werden. Als Arbeiter:in gerichtlich gegen Scheinselbständigkeit vorzugehen kostet in der Regel viel Zeit und Geld – Ressourcen, die viele Plattformarbeitende nicht haben. Mit der Richtlinie will die EU den Prozess zugunsten der Arbeiter:innen umdrehen: Dann müssen die Unternehmen beweisen, dass sie ihre Arbeiter:innen richtig behandeln.

Dafür hatte die EU-Kommission ursprünglich klare Kriterien geplant. Diese Kriterien konnten die EU-Mitgliedstaaten dann aber aus dem fertigen Gesetz herauskürzen. Sie dürfen nun selbst bestimmen, welche Kriterien sie sich in ihre nationalen Gesetze schreiben wollen. Das wird aber vor allem dazu führen, dass es in jedem EU-Staat weiter leicht unterschiedliche Regeln geben wird und sich Arbeitende weiter im Unklaren sind, was genau jetzt für sie gilt. Das sehen auch einige der Mitgliedstaaten so, etwa Bulgarien.

Es braucht eine starke Umsetzung

Gewerkschaften fürchten, dass die Richtlinie ihre Wirkung verlieren könnte, sollten diese Kriterien zu ungenau definiert werden. „Wir streben eine starke Umsetzung an“, sagte Mark Baumeister von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die unter anderem die Interessen von Kurierdienstfahrer:innen vertritt.

Auch die Referentin für Selbständige bei ver.di, Veronika Mirschel, sieht eine klare Regelung als notwendig. Sie will nicht, „dass jeder jetzt plötzlich als Angestellter bei Plattformen gilt, nur weil er über eine Plattform arbeitet.“ Die Gefahr einer „De-Facto-Abschaffung der Selbständigkeit“, wie die Richtlinie in FDP-Kreisen gefürchtet wurde, besteht laut Mirschel aber nicht.

Plattformarbeiter:innen, die nicht selbständig beschäftigt sein wollen, würde eine starke Umsetzung der EU-Richtlinie zu Gute kommen. Eine von ihnen ist Petra Hirsch (Name geändert), sie arbeitet selbständig als Übersetzerin und Lektorin auf einer Plattform, die sie lieber nicht nennen wollte. Obwohl sie formal selbständig ist, bestimmt die Plattform ihre Bezahlung und Arbeitsbedingungen.

Sie beschreibt die Schwierigkeiten, die mit ihrer Selbständigkeit verbunden sind und meint, dass sie sich den Schutz eines Angestelltenverhältnisses wünscht. „Ich würde sehr gern all den Schutz genießen, den man als Arbeitnehmer in Deutschland bekommt: Kündigungsschutz, ein Recht auf betriebliche Mitbestimmung, vielleicht auch auf einen Tarifvertrag“, sagte sie im Gespräch mit netzpolitik.org.

Subunternehmen bieten ein Schlupfloch

Doch selbst wenn die deutsche Regierung die Richtlinie mit klaren Kategorien umsetzt, bleiben den Plattformen Möglichkeiten, ihre Pflichten zu umgehen. Zum Beispiel, indem sie die Verantwortung auf andere Firmen schieben, erklären Patrick Feuerstein und Tobias Kuttler vom Forschungsprojekt „Fairwork“. „Das Subunternehmertum birgt hier Probleme, da es oft als Schlupfloch genutzt wird, um Arbeitsstandards zu unterlaufen. Ohne strikte Kontrolle könnte die Richtlinie ihre Wirkung verfehlen“, prognostiziert Feuerstein.

Plattformen wie Uber oder Bolt beschäftigen ihre Fahrer:innen oft nicht selbst, sondern regeln das über kleinere Subunternehmen. Für die gelten nicht die selben Regeln wie für die großen Plattformen. Hier müssten für Subunternehmen die gleichen Bedingungen gelten wie für die direkt angestellten Beschäftigten, sagt Tobias Kuttler von Fairwork. Das Problem des Subunternehmertums geht die EU-Richtlinie nicht direkt an. Die beiden Forschenden von Fairwork erhoffen sich deshalb, dass das BMAS es bei der deutschen Umsetzung auf die Agenda setzt.

Transparenz mit Algorithmen

Ein weiteres Ziel der Richtlinie ist der Schutz vor Algorithmen – also vor Software, die Arbeitenden Anweisungen gibt. Unternehmen müssen Arbeiter:innen künftig bei der Einführung neuer Systeme mit einbinden und transparent machen, wie sie funktioniert und Daten erfasst. Das tun sie aktuell oft nicht.

Die Plattformarbeiterin Petra Hirsch* weiß etwa nicht, inwiefern Algorithmen ihre Arbeit bestimmen. Sie sieht die EU-Richtlinie als Möglichkeit, endlich für Klarheit zu sorgen und fordert das Recht zu wissen, ob und wie Algorithmen ihr Aufträge erteilen.

Austauschmöglichkeiten für Arbeiter:innen

Gewerkschaften wollen mehr in Plattformarbeit eingebunden werden. Sie könnten zum Beispiel unabhängige Kommunikationswege für Arbeiter:innen schaffen, meint Veronika Mirschel von ver.di. Miteinander reden können ist eine Grundvoraussetzung, um Betriebsräte zu gründen oder sich anderweitig selbst zu organisieren. Artikel 20 der Richtlinie sieht deshalb vor, dass Plattformarbeiter:innen privat und sicher miteinander kommunizieren können.

Für die Plattformarbeiterin Petra Hirsch* ist der Austausch mit anderen Arbeiter:innen sehr wichtig. Sie hat sich über die Freie Arbeiter:innen-Union, eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft, mit anderen Spracharbeiter:innen vernetzt. Sie tauschen sich nun über Honorare und Arbeitsbedingungen aus, was sie als essenziell für die gegenseitige Unterstützung ansieht.

Wie genau solche Kommunikation gestaltet werden könnte, hat Anna Hampel für die Denkfabrik „Minor“ erforscht. Es brauche Mindestanforderungen an Kommunikationskanäle und algorithmisches Management, fordert sie im Gespräch mit netzpolitik.org. Nur so könnten Plattformarbeitende sich sicher und effektiv vernetzen.

Eine große Frage: Sollen Vorgesetzte an solche Kommunikationskanälen teilnehmen können? Das sieht Eric Reimer, Rider und Betriebsrat bei Lieferando, kritisch. „Wir haben Erfahrungen mit Foren, bei denen auch Mitarbeitende des Managements der Plattform dabei waren: Da fand kein kritischer Austausch statt, die Plattform war quasi tot“, zitieren die Forscher:innen von Minor ihn.

Wenn das Unternehmen die Kommunikationskanäle betreibt, kann das Überwachung bedeuten. Der Betrieb könnte deshalb an Externe ausgelagert werden, schlägt das Paper vor – zum Beispiel an Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, gemeinnützige Organisationen oder unabhängige Expert:innen.

Umsetzung noch offen

Anfang Oktober lud das Arbeitsministerium zu einem Treffen. Dabei waren Minor, Fairwork, ver.di, NGG und andere Interessensvertreter:innen. Sie schildern im Gespräch mit netzpolitik.org positive Eindrücke und die Bemühtheit des Ministeriums, alle Perspektiven einzubinden. Dazu gehörten allerdings auch wirtschaftsnahe Verbände und Akteure, die die Umsetzung der Richtlinie weiter aufweichen wollen.

Wie die Richtlinie in den nächsten zwei Jahren in Deutschland umgesetzt wird, bleibt also offen. Inmitten der Frist liegt nächstes Jahr noch eine Bundestagswahl, deren Ausgang wohl einen erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung haben wird. Danach wird das BMAS über drei Legislaturperioden an ihrem Vorhaben gesessen haben, Plattformarbeit fairer zu gestalten – irgendwann hoffentlich mit Ergebnissen.


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