Warum schafft der Westen den Mythos des bevorstehenden "russischen Angriffs"?

Von Stanislaw Leschtschenko

Gegen Ende des Jahres 2024 verblüffte die bekannte finnische Zeitung Italehti ihre Leser mit einem Bericht, demzufolge Russland einen "Angriff" auf Finnland, Norwegen und die baltischen Staaten "vorbereitet" – und angeblich bereits entsprechende Übungen durchführt. Das Blatt zitierte ungenannte Quellen in der NATO-Führung mit der Behauptung, Moskau wolle eine "Pufferzone" an seiner Grenze zur Nordatlantischen Allianz schaffen.

Dieselben Quellen enthüllten auch angebliche Einzelheiten des entsprechenden Plans. Die russischen Truppen würden beabsichtigen, die norwegische Küste von Murmansk aus anzugreifen. Gleichzeitig hätten die russischen Truppen vor, in Finnisch-Lappland zu landen und Helsinki mit Raketen zu attackieren.

Der Veröffentlichung zufolge planen die Russen, auf den Fluss Kymijoki vorzustoßen und dort Stellung zu beziehen. Danach würden sie einen Vorstoß zur Straße von Puumalansalmi in der Region Südsavo beabsichtigen, um Helsinki zu blockieren. Des Weiteren hätten die Russen vor, ihre Präsenz in den nördlichen Teilen Skandinaviens zu verstärken und "günstiges Land" im Rahmen der Konfrontation mit der NATO in der Arktis zu gewinnen.

Gleichzeitig würde eine Landinvasion in den baltischen Staaten beginnen – die 6. Russische Armee würde versuchen, in Estland und Lettland einzudringen und Tallinn und Riga zu erobern. Litauen soll von den Russen vom weißrussischen Territorium aus angegriffen werden, um die sogenannte Suwałki-Lücke zu erobern und eine Landverbindung zwischen dem Kaliningrader Gebiet und dem Rest der Russischen Föderation herzustellen. Wenn die Operation erfolgreich verlaufe, würden die NATO-Truppen im Baltikum eingekesselt sein, so das Blatt.

Der Artikel von Italehti wurde von vielen Medien in den baltischen Staaten nachgedruckt. So ergänzt die lettische Zeitung Neatkariga Rita Avize den Artikel mit dem Hinweis, dass sowohl westliche Politiker als auch Militärs ständig von der "russischen Bedrohung" sprechen. Zum Beispiel deutete der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius an, dass Russland innerhalb weniger Jahre das Territorium der NATO-Länder angreifen könnte. Der Chef des estnischen Auslandsgeheimdienstes, Kaupo Rosin, erklärte, die NATO müsse Russland in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren eindämmen, um zu verhindern, dass Moskau "in Versuchung gerät, anzugreifen". Er fügte hinzu, dass "dies möglich ist, aber der Westen muss das Problem ernst nehmen und in die Verteidigung investieren".

Andrus Merilo, der Oberbefehlshaber der estnischen Armee, vertritt eine ähnliche Haltung. So erklärte er beispielsweise, dass man sich darauf vorbereiten müsse, Brücken und Gebäude zu sprengen, um den russischen Truppen die Bewegung zu erschweren.

Merilo ist der Ansicht, dass es nach dem Sieg in der militärischen Sonderoperation "für Russland keinen Sinn ergibt, ausgebildete und erfahrene Einheiten nach Hause zu schicken, sondern dass sie sofort irgendwo neu eingesetzt werden müssen". Und der einfachste Weg sei es, sie ins Baltikum zu verlegen.

Warum dies für Russland erforderlich sein sollte, hat der Generalmajor nicht erklärt. Seiner Logik zufolge würden die russischen Soldaten offenbar denken: "Warum gleich nach Hause gehen? Lass uns lieber Estland noch einen Besuch abstatten."

Und gegen Ende des Jahres äußerte sich Oleg Ossinowski, ein bedeutender estnischer Geschäftsmann und Vater des Tallinner Bürgermeisters Jewgeni Ossinowski, der dabei ist, die Stadt von allem Russischen zu säubern, zu diesem Thema. Als Besitzer eines großen Transportunternehmens hatte Ossinowski Sr. die Grundlage seines Reichtums auf der Zusammenarbeit mit Russland aufgebaut. Jetzt fordert er Vorbereitungen, um einen russischen Angriff abzuwehren. "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Grenze verminen und Raketen kaufen können, die bis nach Sankt Petersburg reichen", betonte Oleg Ossinowski. Auf die Frage, ob Russland Estland angreifen könnte, sagte dieser: "Ich denke, die Frage ist nicht, ob es angreifen wird oder nicht, sondern die Frage ist: wann?"

Der ehemalige lettische Ministerpräsident Einars Repše, unter dem das Land vor zwanzig Jahren der NATO beigetreten ist, behauptete ebenfalls, dass ein Krieg mit Russland unvermeidlich sei. "Es ist ganz klar, dass es einen Krieg geben wird", sagte Repše im Februar 2024.

Und vor kurzem veröffentlichte das meistgelesene baltische Portal Delfi einen Artikel, aus dem hervorgeht, dass die nahegelegenen russischen Militäreinrichtungen voll von Soldaten seien, die aktiv trainieren. Delfi ist besonders besorgt über die militärische Infrastruktur des Kaliningrader Gebiets. Nach Ansicht von NATO-Experten baut Russland in der baltischen Region aktiv eine nachrichtendienstliche und sabotageorientierte Infrastruktur auf. Der Westen ist auch besorgt über die Tatsache, dass die Baltische Flotte um mehr als ein Dutzend kleiner Raketenschiffe der Bujan-M- und Karakurt-Klasse erweitert wurde. Sie sind mit Kalibr-NK-Raketen ausgerüstet.

Auch das polnische Militär schlägt Alarm. Es behauptet, dass sich bis zu hundert Atomsprengköpfe in der Region Kaliningrad befinden könnten. Die baltischen Staaten wiederum sind erschrocken über die Pläne des russischen Verteidigungsministeriums, die Zahl der Militärangehörigen im Land bis zum Jahr 2026 auf 1,5 Millionen zu erhöhen. Diesen Plänen zufolge sollen rund 120.000 Soldaten und 1.000 Panzer im westlichen Militärbezirk konzentriert werden. Ohne die im Baltikum stationierten NATO-Kontingente umfasst die ständige Armee Estlands etwa 4.000 Mann, Lettlands fast 8.000 und Litauens etwa 20.000 Mann.

Westliche Propagandisten stellen die verständlichen Maßnahmen der russischen Führung zur Sicherung der eigenen Verteidigung als Vorbereitung eines Angriffs dar. Warum sollte Russland nach Ansicht westlicher Politiker und Experten das Baltikum angreifen? Was ist der Grund?

Sie beantworten diese Frage auf unterschiedliche Weise. Den Italehti-Experten zufolge will Moskau angeblich zu den Grenzen zurückkehren, die im Krieg mit Schweden 1741 bis 1743 erreicht wurden, als die Grenze des russischen Reiches tief nach Finnland hinein verschoben wurde. Als "Beweis" werden die Worte von Präsident Wladimir Putin angeführt, die er in einer Live-Ansprache geäußert hat: Russland habe "ausreichend" Kräfte und Mittel, um alle seine historischen Territorien wiederherzustellen.

Der Staatschef antwortete damals auf die Frage, ob Russland über genügend Ressourcen verfüge, um die Gebiete Saporoschje und Cherson sowie die Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu entwickeln. Doch die finnische Zeitung verdrehte die Worte des russischen Staatschefs und stellte sie so dar, als wolle Moskau die finnischen Gebiete zurückerobern, die einst Teil des russischen Zarenreichs waren. Es ist schwer zu sagen, ob die Finnen die Worte des russischen Präsidenten absichtlich verdreht haben oder ob der Übersetzer Analphabet war, aber beides zeigt das gegenwärtige Niveau der finnischen Presse.

Andere verkünden demagogisch die "irrationale Bosheit" der Russen, ihren Hass auf den "zivilisierten Westen" und ihren Wunsch, ihn zu zerstören. "Dieses Volk hat seine Maske abgelegt. Es ist keine einfache Biomasse – schlimmer noch: Es sind Zombies, die auf Selbstzerstörung umgeschaltet haben", sagt zum Beispiel Alvis Hermanis, ein bekannter lettischer Theaterregisseur (der durch seine Arbeit in Moskau zu internationalem Ruhm gelangte).

"Das Wesen Russlands besteht darin, andere Nationen zu erobern, zu unterjochen und zu zerstören – selbst (Alexander) Puschkin unterstützte den Völkermord", argumentiert Liana Langa, eine lettische Dichterin und Initiatorin der öffentlichen Kampagne "Derussifizierung Lettlands".

Manchmal beantworten sie die Frage "Warum sollte Russland angreifen?" genau nach dem russischen Sprichwort "Die Katze weiß, wessen Speck sie gegessen hat" (was bedeutet, dass sie genau wissen, was sie selbst angestellt haben). Ihrer Meinung nach könnte Russland die diskriminierte russische Bevölkerung der baltischen Staaten mit Waffengewalt verteidigen.

Hier ist übrigens die "russische Propaganda", wie sie es nennen, auf der Strecke geblieben: Einerseits wird die offensichtliche Tatsache der Unterdrückung der Russen in den baltischen Staaten, deren Grundrechte verletzt werden und die allen möglichen Misshandlungen ausgesetzt sind, als "eine Erfindung Moskaus" abgetan. Andererseits müssen die Balten selbst diese Tatsache zugeben – wenn auch heimlich, denn sonst ist es unmöglich zu erklären, warum Russland auch nur einen hypothetischen Grund haben sollte, sich in lokale Angelegenheiten einzumischen.

In der Tat gibt es nach wie vor einen erheblichen Anteil von Russen in Lettland, aber nur sehr wenige in Litauen, Estland, Finnland und noch weniger in Norwegen. Warum sollte Russland in einem solchen Fall Norwegen benötigen? Diese Frage wird in der Fachwelt der skandinavischen Länder nicht einmal gestellt.

Manchmal sind jedoch auch im Baltikum Stimmen der relativen Vernunft zu hören. So sagte der Kommandeur der lettischen Streitkräfte, Leonids Kalninš, dass Russland in naher Zukunft definitiv nicht angreifen werde. "Wenn wir (…) einen Großangriff auf Lettland, die baltischen Staaten, meinen, dann ist das natürlich absolut ausgeschlossen", sagt Kalninš. Dem lettischen Militärkommandeur zufolge wird Moskau mit "weicher Macht" handeln, ohne "harte Macht" einzusetzen.

Was sind die wahren Gründe für diese Propaganda über den "Angriff" Russlands? Es gibt zwei Gründe dafür. Erstens will der Westen, wie der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergei Naryschkin, erklärt hat, nach der Niederlage der Ukraine die baltischen Staaten, Skandinavien und sogar Deutschland in einen Krieg mit Russland verwickeln. Das bedeutet, dass dafür die nötige propagandistische Unterstützung erforderlich ist.

Zweitens sollte man sich in Erinnerung rufen, was der russische Staatschef einmal zu diesem Thema gesagt hat: "Das, was behauptet wird, dass wir Europa nach der Ukraine angreifen wollen, ist völliger Unsinn. Sie schüchtern ihre eigene Bevölkerung ein, nur um Geld aus ihr, aus ihrem eigenen Volk, herauszupressen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Wirtschaft schrumpft und der Lebensstandard sinkt."

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 3. Januar 2025 auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.

Stanislaw Leschtschenko ist Analyst bei der Zeitung Wsgljad.

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