Rituale auf Dating-Apps: Zwischen sexueller Befreiung und Konsum

Dating-Apps und Berlin – ein Mix aus Mythen, Freiheit und Algorithmen. Doch was steckt wirklich hinter dem Ruf der Hauptstadt als Ort der „Commitment Issues“? Eine Studie untersucht, wie Online-Dating die Partnersuche und intime Rituale in der Stadt verändert.

Zwei Hände stehen kurz vor der Berührung. Zwischen ihnen: Ein Handy, auf dem eine Dating-App installiert ist.
Das Internet ist in Deutschland der Ort, wo sich die meisten Paare kennenlernen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Hände: Nitish Goswami; Handy: Kenny Eliason; Montage: Ben Bergleiter

Die Online-Datingszene in Berlin hat einen schlechten Ruf. An diesem Ort der frei ausgelebten Sexualität kann alles und muss nichts. Eigentlich ein schöner Gedanke. Negativ ausgelegt wird das Kredo hier allerdings oft zum Schutzschild, um sich vor Gefühlen zu schützen. „Commitment Issues“ lautet die häufige Diagnose für Online-Datende in Berlin. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Dr. Fabian Broeker forscht an der London School of Economics auf dem Gebiet der digitalen Ethnografie und beschäftigt sich mit dem Einfluss digitaler Technologien auf zwischenmenschliche Intimität. In seiner Dissertation hat er untersucht, wie Dating-Apps die Partnersuche in Berlin formen.

Dafür sprach er in den Bars, Cafés und Wohnungen dieser Stadt mit Suchenden oder solchen, die es einmal waren. „Es gab da dieses grundlegende Gefühl, dass niemand hier nach etwas Ernsthaftem sucht“, erzählt ihm eine Teilnehmende. Wieder Andere wehrten sich gegen diese Darstellung. Sie argumentierten, dass es sich dabei bloß um einen hochstilisierten Mythos handle, hinter dem man sich verstecken könne. Scheint fast so, als ob es in Berlin nicht die eine universale Dating-Erfahrung gibt.

In diese Erfahrungen wirken auch Dating-Apps hinein. Einerseits verwandelt sich die intime Erfahrung der Partnerwahl durch das Geschäftsmodell der Plattformen in ein gleichförmiges Produkt. Andererseits verschmelzen in diesem Prozess digitale Architekturen und soziale Rituale zu lokal unterschiedlichen Dating-Kulturen.

Sexuelle Befreiungstechnologien?

Technologische Entwicklungen hatten bereits vor dem Entstehen des Internets einen Einfluss auf die Dating-Kultur. Die Massenverfügbarkeit von Autos machte es für junge Menschen beispielsweise leichter, sich außerhalb des Elternhauses zu treffen. Partner:innen konnten freier gewählt und Sexualität offener ausgelebt werden.

Ob Dating-Apps eine ähnliche sexuelle Befreiungstechnologie darstellen, ist umstritten. Ähnlich wie soziale Netzwerke bringen sie mehr Menschen zusammen als man auf anderen Wegen jemals kennenlernen könnte. Die Plattformen werben für die Präzision ihrer Matching-Algorithmen, die eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen zwei Suchenden garantieren sollen.

Allerdings ermöglichen die Apps auch eine neue Oberflächlichkeit. Das Swipen nach links oder rechts stumpft auf Dauer ab. Die Partnerwahl droht zu einer Konsumentscheidung zu verkommen.

Es werden Daten an Datawrapper übertragen.

Ob das nun befreiend ist oder nicht, sie sind mittlerweile ein fester Bestandteil der Dating-Kultur. Fast ein Drittel der Befragten gab in einer deutschen Umfrage an, schon mal auf einer Dating-Plattform aktiv gewesen zu sein. Das Internet ist mittlerweile der Ort, an dem sich die meisten Paare in Deutschland kennenlernen (siehe Grafik). Und doch gibt es immer noch dieses Narrativ, das Kennenlernen in der Offline-Welt sei romantischer als im Internet.

Laut Fabian Broeker basiert diese Erzählung auf einer Gegenüberstellung vom Schicksal in der „echten“ Welt und dem Algorithmus auf Dating-Plattformen. Während sich zwei Menschen zufällig und dadurch sehr romantisch im Auslandssemester kennenlernen können, ist das Match in der App eiskalt berechnet und deswegen technologisch determiniert – so das Narrativ. Schlussendlich ist das Kennenlernen im Nachtleben Amsterdams halt einfach die besser erzählbare Story als der Swipe auf Tinder.

Dating-Geschichten werden zu sozialer Währung

Doch die Geschichte einer Begegnung hört nicht beim Swipen auf. Eine simple Handgeste bildet nur den Startschuss, auf den die wirklich spannenden Ereignisse folgen. Bei einem Rennen ist ja auch nicht der interessanteste Teil, wie die Läufer:innen an den Start gehen, sondern wie sie über die Ziellinie laufen. Die Strecke dorthin lässt die Spannung noch steigen. Ist die Konkurrenz schneller? Stolpert eine:r? Wird ein Bein gestellt? Präsentiert sich jemand besonders aufbrausend, nur um es dann nicht über die Ziellinie zu schaffen? Alles Details, die bei der Erzählung im Freundeskreis für Furore sorgen.

Die unzähligen Geschichten, die sich im Laufe einer Online-Dating-Karriere anhäufen „werden zu einer sozialen Währung“, argumentiert Broeker in seiner Studie. Ob mit gutem oder schlechtem Ausgang, sie bilden hochgradig unterhaltsamen Gesprächsstoff. Wenn die Chemie gestimmt hat, freut man sich mit und wenn es unangenehm war, wird getröstet. Idealerweise kann man in beiden Fällen gemeinsam drüber lachen. Denn „jeder hat irgendwann mal ein schlechtes Tinder-Date, irgendwie gehört es schon zum kulturellen Erbe, eines zu haben“, findet auch ein Studienteilnehmer.

Im digitalen Zeitalter werden Dating-Geschichten allerdings nicht nur dem Freundeskreis erzählt, sondern oft auch der gesamten Followerschaft in den sozialen Medien. Screenshots spielen dabei eine hervorzuhebende Rolle, schreibt Broeker in der Studie. Sie besäßen ein eigenes Sozialleben, durch sie werden soziale Interaktionen, Hierarchien und Geschichten kommuniziert und verhandelt.

Ganze Twitter-Accounts füllen sich mit Content über verrückte Dating-Chats. So zum Beispiel der Account des Berliners Schamas. Mittlerweile ist er vergeben, aber während er über Apps gedatet hat, teilte er immer wieder Geschichten mit seinen Follower:innen. „Mein Account ist nur so geboomt, wegen den Chats“, sagt er gegenüber netzpolitik.org.

Durch das Posten lässt man die Follower:innen visuell an der eigenen Perspektive teilhaben. Das wirkt, wie im Post von Schamas, oft unterhaltsam, ist aber ein sehr intimer Einblick in die Privatsphäre.

Whatsapp als nächste Stufe der Intimität

Generell sind die Erfahrungen rund ums Online-Dating etwas sehr Intimes. Nicht nur das Kennenlernen und Näherkommen anderer Personen, sondern auch das technologische Gerüst drumherum. Broeker beschreibt das Handy als „intime Technologie“, denn die meisten tragen es den ganzen Tag eng am Körper. Es ist oft eins der ersten Dinge, die man nach dem Aufwachen sieht und eins der letzten vor dem Schlafengehen.

Richtig intim wird es laut vielen Studienteilnehmer:innen, wenn sie die Dating-App mit ihrem Match verlassen. Nicht etwa in Richtung Schlafzimmer, sondern in eine andere Messenger-App, wie Whatsapp, Signal oder Instagram. „Plötzlich sind sie in meinem privaten Kreis und können mich anrufen“, sagt eine Teilnehmerin. „Es ist für mich wie ein Übergang in eine andere Sphäre.“

Solche „Übergangsrituale“, wie Broeker sie nennt, sind Schlüsselmomente in einer Dating-Interaktion, denn hier entscheidet sich, ob eine Person die andere in die nächste Stufe der Intimität hineinlassen will. Hier greifen veraltete Geschlechterrollen, fand Broeker heraus. Es sind oft Männer, die den Übergang initiieren und Frauen, die es dann akzeptieren oder ablehnen. Hier werden Stereotypen des „handelnden Mannes“ und der „passiven Frau“ reproduziert, auch im sich so progressiv gebenden Berlin.

Die Perspektive der Befragten „spiegelt die Vorstellung wider, dass intime und emotionale Praktiken sozial geformt sind“, schreibt Broeker. Und so überrascht es nicht, dass auf Dating-Apps, wie im „echten“ Leben, soziale Konstrukte wie Geschlechterrollen reproduziert werden.

Broekers Fazit: Als soziales Produkt steht die Dating-Kultur in einer Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Der Mythos des sexuell freien Berlins wirkt sich laut Broeker auf die Erwartungen und Hoffnungen der Datenden aus. Dating-Apps bringen eigene Rituale hervor, die sich mit der offline existierenden Kultur vermischen. Intime Technologien, wie Dating-Apps stellen „keine Trennung zwischen „real“ und „virtuell“ dar, sondern vielmehr eine Leinwand, auf der sich die imaginären Verhandlungen über Realität und Virtualität abspielen“, schreibt er in seinem Fazit.


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