Von Dagmar Henn
Zwei Jahre treibt der Sumpf nun schon Blüten, die der Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines hinterlassen hat. Nicht, dass die Geschichte seitdem klarer geworden wäre oder sich auch nur ein Ansatz von Logik im Umgang damit fände, im Gegenteil.
Der Spiegel hat zum Jahrestag noch einmal die Erzählung von der Ukraine-Connection ausgeschmückt. Man kann ja vieles machen, solange sich die Leserschaft nicht mit den konkreten Fragen befasst, wie viel Sprengstoff benötigt wurde und was die technischen Voraussetzungen für längere Tauchgänge auf unter 70 Metern Tiefe sind. Dann stellt man eben doch fest, dass da mit einer Jacht und ein paar Hobbytauchern nicht viel zu machen ist.
Das Problem dabei ist vermutlich, dass auch diese Alternativerzählung, die die Ergebnisse von Seymour Hersh vergessen machen soll, der die USA als Täter benannte, nicht allzu laut und nicht mit allzu viel Nachdruck vorgetragen werden kann. Sie muss Raum für Zweifel lassen, weil sonst die Frage unumgänglich ist, welche Konsequenzen es hat, wenn es die Ukraine gewesen wäre. Und diese Konsequenzen sind nicht so folgenreich wie die der US-Variante, aber fast ebenso unerwünscht.
Es ist albern, wenn sich Bundeskanzler Olaf Scholz, wie vor nicht einmal zwei Wochen, bei einem Bürgerdialog in Prenzlau hinstellt, von einem terroristischen Akt spricht und erklärt:
"Wir wollen diejenigen, die das getan haben, wenn wir ihrer habhaft werden können, auch vor ein Gericht in Deutschland stellen."
Wäre das ein Schulaufsatz, gäbe es eine Sechs wegen Themaverfehlung. Der Mann ist Bundeskanzler und nicht Landgerichtspräsident. Sein Job ist die politische Seite des Ereignisses. Und die ist herzlich eindeutig. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines war ein Terrorakt gegen ein zentrales Projekt der deutschen Infrastruktur und damit, sobald ein Staat darin verwickelt ist, eine Kriegshandlung, mit der logischen, unabweisbaren Folge, dass sich Deutschland mit ebendiesem Staat im Krieg befindet. Und zwar ohne gesonderte Erklärung, weil die Handlung selbst einer solchen gleichkommt.
Aber gegen keinen der beiden Kandidaten, die USA und die Ukraine, ist Scholz zu einer angemessenen Reaktion imstande. Nicht einmal zur untersten Reaktion auf der Skala des Denkbaren, wenn er heimlich doch ein friedliebender Mensch sein sollte, der Einbestellung des entsprechenden Botschafters. Das wäre im Verhältnis zum Schaden, den diese Sprengung angerichtet hat, noch mit sehr kleiner Münze heimgezahlt (ich kenne da Staaten, die hätten beispielsweise auf diesen Verdacht hin erst einmal Kiew bombardiert), aber es wäre zumindest nicht das Verhalten eines Leprakranken im Endstadium gewesen, der einen Arm verliert und es nicht einmal wahrnimmt.
Zwei Jahre lang gar nichts. Als wäre nichts gewesen. Millionen Deutsche durften einen Winter lang im Kalten arbeiten, die Heizrechnungen und die Lebensmittelpreise explodierten, und inzwischen wandert die Industrie ab; wenn VW, gewissermaßen das Herzstück der alten bundesdeutschen Sozialpartnerschaft, zu Massenentlassungen greift, dann steht das Wasser nicht nur bis zum Hals, dann steht es längst bis Oberkante Unterlippe. Die Antwerpener Erklärung, die von BASF Anfang des Jahres initiiert wurde, war ein Papier, wie es in der bundesdeutschen Geschichte noch nie da gewesen ist, geradezu ein Verzweiflungsschrei, doch endlich Gehör bei einer politischen Elite zu finden, die sich völlig in die Fantasiewelt aus Kriegslüsternheit und grüner Energie verrannt hat.
Ein halbes Dutzend Beschönigungen werden um das Ereignis gerankt. Schließlich sei ja Nord Stream 2 nie in Betrieb gegangen. Die deutsche Gegenwehr gegen den Brüsseler Irrsinn hielt sich aber auch in Grenzen. Wenn es zum damaligen Zeitpunkt einen Staat gegeben hätte, der von der Leyen und ihrem Zirkus einfach die Pistole auf die Brust hätte setzen können und sagen: "Dann gehen wir eben", dann wäre das Deutschland gewesen. Gewesen, denn inzwischen befindet sich der Kern der EU im freien Fall. Frankreich, weil zu viele seiner afrikanischen Kolonien inzwischen echte Unabhängigkeit einfordern, und Deutschland, weil eben die Industrie ... nun ja, der Arm ist ab, ob wahrgenommen oder nicht.
Und Nord Stream 1? Es war doch das EU-Sanktionstheater, das die – termingerechte, geplante – Wartung ohne Not erschwerte, und auch hier war es letztlich Olaf, der Minikanzler, der das Schmierenstück gewähren ließ. Oder der gar daran mitwirkte, in trauter Einigkeit mit Wirtschaftsminister Habeck, dem Rechenkünstler. Vermutlich, weil Erdgas aus dem aktuellen Reich des Bösen einfach nicht sein darf. Wenn dann Russland gemein genug ist, auf einer ordnungsgemäßen Abwicklung der Zertifizierung zu bestehen, ist eben Russland schuld. Als wären sie diejenigen gewesen, die da etwas Neues erfunden haben. Das ist so, als würde man beim TÜV erklärt bekommen, man müsse das Auto nach, sagen wir, Malaysia schicken, um es abnehmen zu lassen, das dort aber nicht gemacht wird, und man dann als Halter beschuldigt wird, weil man auf einer ordnungsgemäßen Plakette besteht.
Man könnte fast geneigt sein, diese eigenartige Waschlappenartigkeit der deutschen Politik in den Monaten vor der besagten Sprengung als Vorarbeit zu sehen, um sich dann hinstellen zu können und zu sagen, schon irgendwie schlimm, wenn man uns eine Pipeline hochjagt, aber eigentlich auch nicht, weil wir gerade ohnehin kein Gas darüber bekamen ... Als hätte man sich mit den US-Amerikanern zuvor auf einen derartigen Kurs geeinigt. Aber wozu? Um dadurch eine Notlage zu schaffen, in der man allen möglichen grünen Tinnef andrehen kann? Oder einfach nur als Unterwerfungsgeste, weil man so wunderbar rückgratlos aufgezogen wurde?
Man müsste sich eigentlich die Rechte an diesen wenigen Minuten Pressekonferenz sichern, in der damals Scholz neben Biden stand, und dieser erklärte, Nord Stream 2 werde nicht in Betrieb gehen. Das wäre eine fantastische Investition, denn immer und überall, wenn es darum geht, wer Olaf Scholz ist oder war, würde man auf diese Minuten zurückgreifen. Hätte Scholz auch nur einen Funken Selbstwertgefühl im Leib oder Verantwortungsgefühl gegenüber der deutschen Bevölkerung, er hätte seitdem zumindest sein Bestes gegeben, diesen Moment der nationalen Demütigung auszulöschen. Es mag ja sein, dass Bundeskanzler gleich reihenweise auf der Gehaltsliste der Vereinigten Staaten standen, aber einige davon besaßen wenigstens den Anstand, es sich nicht derart anmerken zu lassen.
Seit die Sprengung dafür gesorgt hat, dass große Teile dieser Schäden (die politischen wie die physischen) nicht mehr einfach zu reparieren sind, kann man zusehen, wie die Grundlagen der deutschen Volkswirtschaft fallen wie eine Reihe Dominosteine – in Zeitlupe. Das politische Ansehen ist sowieso dahin. Dabei spielt es nicht einmal eine Rolle, welche Variante der Wahrheit entspricht. Im einen Fall beliefert man den eigenen Feind mit Waffen, päppelt ihn mit deutschen Steuergeldern und behandelt seine Staatsbürger wie willkommene Gäste (man mag einmal in den Genfer Konventionen nachlesen, wie zumindest mit möglichen Kombattanten eines Gegners verfahren wird); oder aber man macht sich zum Fußabtreter der Vereinigten Staaten und gibt vor lauter Nibelungentreue oder Feigheit das letzte bisschen Souveränität preis (den Kauf des überteuerten LNG-Gases gibt es als Bonus).
Wenn nur die handelnden Gestalten mit dieser Erbärmlichkeit leben müssten, wäre das alles zumindest noch eine absurde Komödie. Aber die Kosten, die die deutsche Bevölkerung tragen muss, sind echt. Das erzählt der Geldbeutel jeden Tag. Und die Gefahren sind es auch, weil diese Unterwürfigkeit (gekoppelt mit der Hinterfotzigkeit, die jeder Stiefellecker jenen gegenüber zeigt, die er für unterlegen hält) mit dazu beigetragen hat, dass ein Atomkrieg näher steht als zu jedem Zeitpunkt seit dem September 1962. Es wäre mehr als überfällig, dem Anschlag auf Nord Stream das politische Gewicht zuzugestehen, das er hatte.
Und nicht nur in dieser Hinsicht wäre es erforderlich, etwas mehr Wirklichkeit eindringen zu lassen. Wenn es überhaupt einen schnellen Weg gibt, das Land aus diesem Sumpf herauszuziehen, dann wäre das die Reaktivierung des verbliebenen Strangs von Nord Stream 1. Allerdings bestünde auch diese Möglichkeit nur so lange, wie Russland überhaupt noch ein Interesse daran hätte, Erdgas nach Deutschland zu liefern. Und die Berliner Politik gibt sich noch immer größte Mühe, dafür zu sorgen, dass es das nicht mehr ist. Zwei Jahre nach dem Anschlag auf Nord Stream findet man sich also mit zwei Feinden wieder. Dem einen, der die Pipeline gesprengt hat. Und dem anderen im eigenen Land, der kollaboriert hat und das Werk seitdem eifrig fortsetzt.
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