Alfred de Zayas mit Vorschlag zu einem Friedensvertrag für die Ukraine

Die Kriegsziele des kollektiven Westens haben sich zerschlagen. Inzwischen geht es jenen 51 Staaten nicht mehr um den Sieg über Russland, sondern nur noch mit möglichst wenig Gesichtsverlust aus der Sache zu kommen. Alfred de Zayas hat dazu eine ausgewogene Friedensregelung vorgeschlagen.

UNSER MITTELEUROPA veröffentlicht den Friedensvorschlag von de Zayas in zwei Teilen:

Teil 1: Eine neue europäische und weltweite Sicherheitsarchitektur ist vonnöten

Von ALFRED DE ZAYAS | Nachdem immer mehr Politiker und Analysten weltweit erkannt hatten, dass der Ukraine-Krieg nicht militärisch zu lösen ist und es keine Gewinner, doch nur Verlierer geben kann, gilt es, sich auf Schadensbegrenzung zu fokussieren, was einen sofortigen Waffenstillstand erforderlich macht. Es wäre die einzige vernünftige Politik, die zu verfolgen ist: Sie sollte von allen Organisationen der Vereinten Nationen vorangetrieben werden, insbesondere von der UN-Generalversammlung, dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte, dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation u.v.m.

Es gibt in der Tat ein Menschenrecht auf Frieden, zu dessen Einhaltung alle UN-Mitgliedstaaten erga omnes verpflichtet sind. Für unser Überleben wird es von entscheidender Bedeutung sein, dass Regierungen das überholte Paradigma der bedingungslosen Kapitulation bzw. des “der Gewinner nimmt alles” aufgeben. Die aktuelle Kriegstreiberei der Politik, begleitet von den Kriegstrommeln der Mainstream-Medien kann alles andere, nur nicht “patriotisch” sein. Denn, im Atomzeitalter muss alles getan werden, um Spannungen ab- und die Brücken des Dialog wiederaufzubauen.

Mein Plan für den Frieden ist einfach:

  1. ein Waffenstillstand auf der Grundlage der UN-Charta.
  2. ein Verbot von Waffenlieferungen an die Krieg führenden Parteien.
  3. von den Vereinten Nationen organisierte internationale Hilfe für alle Bevölkerungsgruppen, die unter dem Krieg, Mangel an Energie, Nahrungsmitteln etc. leiden.
  4. Von Vereinten Nationen organisierte und überwachte Referenden auf Krim und im Donbass.
  5. Aufhebung der Sanktionen, welche Vorteile der Globalisierung zunichte gemacht, Lieferketten unterbrochen, den internationalen Handel gestört und die Ernährungssicherheit gefährdet haben.
  6. Ausarbeitung einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa und die Welt.
  7. Einrichtung einer Wahrheitsfindungs- und Versöhnungskommission, um die Klagen aller Seiten anzuhören.
  8. Bestrafung von Kriegsverbrechen durch die jeweiligen Regierungen, z.B. ukrainische Verbrechen, würden von ukrainischen Richtern untersucht und verfolgt, russische Verbrechen würden von russischen Gerichten untersucht und bestraft.

Es gibt keine gültige schwarz-weiß Analyse bzw. Einteilung der Welt in nur “gute Jungs” und “böse Jungs”.  Es gab schon immer Gutes im Schlechten und Schlechtes im Guten. Eine schwarz-weiß Analyse findet nur statt, indem man sich weigert, die Meinungen aller Kriegsparteien bzw. der ganzen Menschheit zu hören, welche diese Tragödie mitanzusehen haben. Die Katastrophe, deren Zeugen wir sind, hat ihre Ursachen: Wenn wir einen tragfähigen Plan für Frieden formulieren wollten, dürfen wir einen solchen nicht ausschließlich aus “westlicher” Perspektive betrachten, sondern haben auch die Ansichten von 1,5 Milliarden Chinesen, 1,5 Milliarden Indern, 240 Millionen Pakistanern, 170 Millionen Bangladeschern, 280 Millionen Indonesiern, 220 Millionen Nigerianern, 220 Millionen Brasilianern, 140 Millionen Mexikanern etc. in Betracht zu ziehen.

Zu viel steht auf dem Spiel: Amerikaner und Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen einer innereuropäischen Querele zu riskieren. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehörte. Ein Atomkrieg darf darüber nie geführt werden. Er würde das Ende der menschlichen Spezies bedeuten. Deshalb haben die afrikanischen Staats- und Regierungschefs einen 10-Punkte-Plan vorgelegt. China hat seinen eigenen 12-Punkte-Vorschlag unterbreitet. Beide Initiativen erscheinen ausgewogen und neutral.

Entscheidend ist, dass wir uns JETZT auf einen Waffenstillstand einigen und Vermittler, die konkrete Vorschläge unterbreiten, wie z.B. Papst Franziskus einschalten.

Professor Jeffrey Sachs1 hat in zahlreichen Vorträgen auf eine Beendigung der Feindseligkeiten auf dem Verhandlungswege gedrängt und vor der Gefahr eines Atomkriegs gewarnt. Er zitierte die Eröffnungsrede von John F. Kennedy an der American University vom 10. Juni 19632 – die sich mutatis mutandis auch auf die heutige Weltlage übertragen lässt:

Vor allem müssen die Atommächte bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen. Einen solchen Kurs im Atomzeitalter einzuschlagen, wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch der Welt.

John F. Kennedy

Erinnern wir uns auch daran, dass die US-Regierung 1916 die Gelegenheit hatte, den Ersten Weltkrieg auf diplomatischem Wege zu beenden, dass aber der hochverehrte Woodrow Wilson diese Chance aus innenpolitischen Gründen verspielte. Selbst Henry Kissinger, ein notorischer Falke, hat dies zugegeben.

Der Ukraine “Krieg, in dem zwei Atommächte über ein konventionell bewaffnetes Land gegeneinander kämpfen”, ist eindeutig ein Stellvertreterkrieg, indem NATO-Länder nach einem bestimmten Schema vorgehen, um Russland zu schwächen, doch in der irrigen Annahme, einen Regimewechsel herbeiführen zu können. Die USA und NATO haben nicht verstanden, dass Russen große Patrioten sind und dass sie unter Bedrohung bereit sind zu kämpfen, ganz gleich wie hoch die Chancen stehen. Auch verschärfte Sanktionen werden die russische Bevölkerung nicht dazu bringen können, sich gegen Putin aufzulehnen und einen US-freundlichen Zaren an seine Stelle zu setzen.

Wir haben bereits die Erfahrung drakonischer Sanktionen gegen Kuba über 62 Jahre gemacht: Auch diese schafften es nicht, die kommunistische Regierung in die Knie zu zwingen. 40 Jahre Sanktionen gegen Nicaragua, 23 Jahre Wirtschaftskrieg gegen Venezuela haben die Regierungen Chavez und Maduro ebenfalls nicht zu Fall bringen können. Vielmehr beziehen diese Regierungen von Links bis heute beträchtlichen Rückhalt aus ihren Bevölkerungen.

Wie ich während meiner offiziellen UN-Mission in Venezuela erfahren konnte, macht die große Mehrheit der Venezolaner nicht Maduro für ihre Probleme verantwortlich, sondern die Vereinigten Staaten von Amerika.

Natürlich können wir nicht einfach in die Welt vor dem 24. Februar 2022 zurückkehren. Zu viel Blut ist geflossen. Henry Kissinger (1923 – 2023) zufolge würde jeder “Friedensprozess” die Ukraine “an die NATO binden,“ wie auch immer dieser sich gestaltete. Er sah die ukrainische Neutralität nicht mehr als Option an. Doch, dies war noch die bevorzugte Lösung, als in der Türkei im März 2022 ein Friedensabkommen aushandelt wurde, welches jedoch USA und Großbritannien torpedierten. Letztere bestanden darauf, den Krieg bis zum “Sieg” über Russland fortsetzen und die Ukrainer als Kanonenfutter verheizen zu lassen.

Henry Kissinger schlug vor, dass sich Russland bis auf die Linien vor dem 24. Februar zurückzöge, während die von der Ukraine beanspruchten Gebiete – Donezk, Lugansk und die Krim – nach einem Waffenstillstand Gegenstand von Verhandlungen werden könnten. Ich persönlich habe diesbezüglich meine Zweifel: Denn, nach dem Beschuss dieser Gebiete seit 2014 durch die Ukraine hat sich erheblicher Hass gegen das ukrainische Regime aufgestaut, so dass eine Wiedereingliederung dieser Gebiete in die Ukraine undenkbar scheint. Es würde den Bürgerkrieg fortsetzen – ja, sich sogar zu einem Guerillakrieg ausweiten. Im Grunde bleibt es die Sache der dortigen Bevölkerungen, nach ihrem nachweislich bestimmten Willen zu entscheiden.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1, 55, Kapitel XI und XII UN-Charta) ist im Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte fest verankert und sowohl von der Ukraine als auch von Russland zu respektieren. Natürlich könnte die UNO auch Selbstbestimmungsreferenden organisieren und international überwachen lassen. Doch, die UNO hatte das ukrainische und russische Volk im Stich gelassen: Nachdem die Ukraine sich im Jahr 1991 einseitig von der Sowjetunion abgespaltet hatte sowie auch im Jahr 2014 nach dem antirussischen Staatsstreich auf dem Maidan, der den rechtmäßigen, demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, stürzte, hatte es die UNO versäumt, Referenden in diesen von Russland besiedelten Gebieten zu organisieren und zu überwachen. Ein Referendum im Jahr 2014 hätte die heutige Tragödie verhindert.

Inzwischen sollte jedem klar sein, dass die russische Bevölkerung von Krim, Donezk und Lugansk gegen einen solchen Vorschlag rebellieren würde, so wie die Kosovaren einer Wiedereingliederung in Serbien niemals zustimmen würden. Unklar ist, wie die Bevölkerungen von Cherson und Saporischschja abstimmen würden – in Gebieten in denen die russische Mehrheit weniger ausgeprägt ist. Russland wird sich niemals auf die Linie, wie vor dem 24. Februar 2022 zurückziehen: Russland ist mit gutem Grund der Ansicht, dass die Menschen in diesen Gebieten großer Gefahr ausgesetzt wären und ein Recht auf Schutz haben. Ich persönlich halte nichts von der so genannten Doktrin der “Schutzverantwortung” (Responsibility-to-Protect)3: Falls R2P irgendeine Legitimität hätte, was nicht der Fall ist, dann könnten sich auch die Russen darauf berufen, denn das Völkerrecht kann nicht à la carte angewendet werden.

Es sollte eine neue europäische, wie auch weltweite Sicherheitsarchitektur aufgebaut werden, die den legitimen Sicherheitsinteressen aller in den Regionen lebenden Menschen Rechnung trägt.

Die Unabhängigkeit der Ukraine wäre, wie auch die Russlands, zu garantieren.

Es gibt viele Hindernisse für einen Frieden in der Ukraine, die vor allem auf die unnachgiebige Haltung der meisten NATO-Länder zurückzuführen sind, welche bis heute nicht anerkennen, dass die NATO-Osterweiterung entgegen den 1989/91 getroffenen Vereinbarungen von Russland als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurde und dass Russland früher oder später reagieren würde. Man darf nicht vergessen, dass Russland von 2014 bis 2022 an den Minsker Vereinbarungen, an OSZE-Treffen und am Normandie-Format teilgenommen hat. Es muss anerkannt werden, dass Russland im Einklang mit Artikel 2, Absatz 3 der UN-Charta gehandelt und acht Jahre lang versucht hat, die durch den Putsch auf dem Maidan 2014 entstandenen Probleme mit friedlichen Mitteln zu lösen. Leider war es die Ukraine, unterstützt von den USA und dem Vereinigten Königreich, die sich weigerte, die Minsker Vereinbarungen und das Selbstbestimmungsrecht der russischen Bevölkerung der Ukraine umzusetzen.

Die beiden von Außenminister Lawrow im Dezember 2021 vorgeschlagenen Verträge waren moderat und hätten eine gute Diskussionsgrundlage abgeben können. Diese Verträge hätten Russland die nationalen Sicherheitsgarantien, auf die es Anspruch hat, eingeräumt und einem nachhaltigen Frieden zwischen Russland und Ukraine den Weg geebnet. Bedauerlicherweise wurden diese Vorschläge von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg arrogant abgelehnt.

Fortsetzung mit Teil 2 folgt

Übersetzung aus dem Englischen: UNSER MITTELEUROPA

Quellenverzeichnis:

 

1 https://www.jeffsachs.org/interviewsandmedia/sfky22dggez9rmkpet9dnthx3yt6ll

2 https://www.jfklibrary.org/archives/other-resources/john-f-kennedy-speeches/american-university-19630610

3 See discussion of R2P in para. 32 of my 2018 report to the Human Rights Council. https://undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FHRC%2F37%2F63&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False

See the debate in the General Assembly on 23 July 2009, summarized in my 2012 report to the Assembly (A/67/277). Contrary to some trends and perceptions, the idea of the responsibility to protect, contained in General Assembly resolution 60/1 (2005 World Summit Outcome), did not replace the Charter-mandated international law of non-interference in the internal affairs of sovereign States. The responsibility to protect is not a lex specialis that derogates from Article 2 (3), (4) and (7) or any other provision of the Charter. The principle of non-intervention remains very much valid and is confirmed in countless resolutions of the Assembly and the Human Rights Council. Therefore, responsibility to protect cannot circumvent the Charter or engage in sabre-rattling or propaganda for war. At the plenary debate on the responsibility to protect, the President of the Assembly identified four benchmark questions that should determine whether and when the system of collective security could invoke the responsibility to protect: (a) Do the rules apply in principle, and is it likely that they will be applied in practice equally to all States, or, in the nature of things, is it more likely that the principle would be applied only by the strong against the weak? (b) Will the adoption of the responsibility to protect principle in the practice of collective security be more likely to enhance or undermine respect for international law? (c) Is the doctrine of responsibility to protect necessary and, conversely, does it guarantee that States will intervene to prevent another situation like the one that occurred in Rwanda? (d) Does the international community have the capacity to enforce accountability upon those who might abuse the right?

Alfred de Zayas ist Juraprofessor an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012 bis 18 unabhängiger UN-Experte für internationale Ordnung. Er ist Autor von zwölf Büchern, darunter “Building a Just World Order” (2021), “Countering Mainstream Narratives” 2022, und “The Human Rights Industry” (Clarity Press, 2021).

***

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