Unions-Vorschläge zur Wahlrechtsreform: Mit weniger als 30 % zur absoluten Mehrheit?!

Die Wahlrechtsreform, die dazu führte, dass die Sieger:innen mancher Wahlkreise nicht in den Bundestag einziehen werden, ist umstritten. Sie ist allerdings nicht grundsätzlich „undemokratisch“, wie einige der Betroffenen (vor allem aus den Kreisen von CDU und CSU) behaupten. Es gibt nicht das eine richtige Wahlrecht, sondern verschiedene Varianten, die alle innerhalb des Rahmens der Demokratie liegen. Ironischerweise ist es die Union selbst, aus deren Reihen regelmäßig Forderungen nach einem sogenannten Grabenwahlsystem kommen – das wiederum die Mehrheitsverhältnisse wirklich absurd verzerren würde, wie wir in einer Beispielrechnung zeigen.

Union auch nach Wahlrechtsreform überrepräsentiert – und dennoch empört?

Vielleicht habt ihr das viral gegangene Video vom CSU-Politiker Volker Ullrich gesehen, in dem der Augsburger Direktkandidat Claudia Roth (Grüne) vorwarf, sie sei „keine Demokratin“. Ullrich hatte die meisten Erststimmen in seinem Wahlkreis geholt, war allerdings einer der Unglücklichen, die aufgrund der Wahlrechtsreform dennoch nicht in den Bundestag einzogen (Roth hat zwar auch nicht gewonnen, zieht aber über die Landesliste in den Bundestag ein). Oder ihr habt das Spiegel-Interview von CDU-Kandidatin Petra Nicolaisen gelesen. Die holte zwar im Wahlkreis Flensburg-Schleswig die meisten Erststimmen und schlug damit sogar den scheidenden Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Doch Nicolaisen zog aus demselben Grund nicht in den Bundestag ein. Sie hält das neue Wahlrecht für „gefühlt undemokratisch“.

Nicolaisen und Ullrich werden also beide nicht wieder in den Bundestag einziehen, genauso wie voraussichtlich 21 weitere Wahlkreissieger von CDU, CSU, SPD und AfD. Dass es dabei die Unionsparteien (18x) am häufigsten getroffen hat, bestärkt natürlich das Ungerechtigkeitsgefühl. Gleichzeitig sind das allerdings eher Einzelschicksale. Bei 23 nicht eingezogenen Wahlkreissieger:innen bleiben immer noch 276 Wahlkreise, von denen jetzt Direktkandidierende einziehen werden. Außerdem dürfte gerade die Union sich eigentlich nicht über das Wahlrecht beschweren. Da etliche Stimmen durch die Fünfprozenthürde gar nicht im Parlament vertreten sind, halten CDU und CSU zusammen fast genau ein Drittel der Mandate – obwohl sie nur 28,6 % der Stimmen haben. Bei perfekter Repräsentation wären es fast 30 Sitze weniger, die die Unionsparteien besetzen.

Das Problem mit der Repräsentation

Nun muss man da auch einräumen: Eine perfekte Repräsentation gibt es nicht. Es ist nämlich eine ganz schöne Wissenschaft, wie man genau aus einem Wahlergebnis nun ein repräsentatives und gleichzeitig handlungsfähiges Parlament macht. Dafür muss eine Demokratie Kompromisse finden, denn das perfekte Wahlrecht existiert nun einmal nicht. Bevor wir auf weitere, oft wirklich zu Recht kritisierte Aspekte unseres Wahlsystems schauen, müssen wir aber erst noch einmal über die Union reden.

Denn während sie sich aktuell trotz Über-Repräsentation ungerecht behandelt fühlt und u.a. der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schon lautstark angekündigt hat, das Wahlrecht wieder zu überarbeiten, ist der Vorschlag, welcher aus Unionsreihen regelmäßig zur Reform des Wahlrechts kommt, eine viel größere Verzerrung des Abstimmungsverhältnisses.

So sprach sich schon Ende 2019 eine Gruppe von Unionsabgeordneten für ein sogenanntes Grabenwahlsystem aus. In der auslaufenden Legislaturperiode hatte es eine Kommission zur Reform des Wahlrechts gegeben, für die alle Parteien Sachverständige benennen konnten. Drei von der Union benannte Sachverständige (Bernd Grzeszick, Stefanie Schmahl und Rudolf Mellinghoff) legten dabei wiederum einen Vorschlag vor, der in Richtung eines Grabenwahlsystems ging. Ähnlich äußerten sich die Unions-Mitglieder der Kommission bereits im Zwischenbericht.

Während Reform natürlich grundsätzlich erstmal gut klingt (und angesichts eines sich bis 2021 immer weiter aufblähenden Bundestags auch einfach nötig war), hat das Grabenwahlsystem aber enorme Schwächen.

Das Grabenwahlsystem: Wahlhelfer für große Parteien?

Aber was genau ist eigentlich ein Grabenwahlsystem? Der Name kommt daher, dass die Wahl aufgesplittet wird in eine Direktwahl und eine Verhältniswahl. Anders als bei unserem aktuellen Mischsystem werden diese beiden Wahlen nicht miteinander verrechnet, sondern es sind wirklich getrennte Ergebnisse. Auch wenn man wahrscheinlich trotzdem mit einem einzigen Stimmzettel wählen könnte, läge dazwischen symbolisch ein Graben.

Mit der Erststimme werden weiterhin Direktmandate aus dem jeweiligen Wahlkreis vergeben. Diese ziehen, wie bis 2021, sicher in den Bundestag ein. Mit der Zweitstimme wird, wie gewohnt, eine Partei gewählt. Nach der bundesweiten prozentualen Verteilung dieser Zweitstimme werden die Sitze verteilt.

„Moment“, werden jetzt manche sagen, „aber wo bleibt da die Wahlrechtsreform? Das ist doch genau wie es bis 2021 immer war?“ – Nicht ganz! Denn bisher wurden (und werden) die Zweitstimmen mit den Erststimmen verrechnet. Also eine Partei bekommt schon so viele Sitze, wie ihr prozentual zustehen – aber diese zustehenden Sitze werden erst einmal von denen aufgefüllt, die ihre Wahlkreise gewonnen haben. Erst danach kommen Listenkandidat:innen zum Zug.

Im Grabenwahlsystem wird das aber komplett getrennt. 299 Sitze werden also streng nach Wahlkreissieg besetzt. Die anderen Sitze werden genauso streng nach den Prozenten der Zweitstimmenergebnisse besetzt. Dazwischen läuft der Graben – es wird also nichts miteinander verrechnet. Das bedeutet in der Praxis: Die tatsächliche Verteilung der Zweitstimmen (die ja aktuell die Zusammensetzung des Bundestages prozentual bestimmt) hat nur noch auf die Hälfte der Sitze überhaupt einen Einfluss – der Rest ist davon völlig unabhängig. Wir haben das mal für die aktuelle Bundestagswahl hypothetisch ausgerechnet. Wenn ihr euch das Ergebnis anschaut, werdet ihr möglicherweise verstehen, warum die Union ein Fan von dieser Idee ist.

Grabenwahlsystem – Beispiel Bundestag 2025

Wir haben einfach mal eine hypothetische Wahlrechtsreform „beschlossen“ und durchgerechnet, was passiert wäre, wenn die Stimmergebnisse der Wahl am Sonntag nicht mit unserem aktuellen, sondern einem Grabenwahlsystem in Mandate umgewandelt worden wären. Dafür haben wir den Bundestag auf 598 Sitze begrenzt, von denen 299 die Direkmandate sind und die übrigen 299 nach Verhältniswahl (Methode: Sainte-Laguë) verteilt werden. Außerdem könnt ihr über den Button oben links zum Vergleich umschalten, wie der Bundestag tatsächlich aussah und wie er 2021 gewählt wurde:

Natürlich ist das nicht 1:1 auf die Realität übertragbar, da es bei einem solchen Wahlrecht möglicherweise verstärkt taktisches Wählen und Absprachen zwischen den Parteien gegeben hätte. Außerdem würde es auch bei einem Grabenwahlsystem natürlich auf die Details ankommen. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass die Unionsparteien stark profitiert hätten – und enorm überrepräsentiert wären. In unserem Rechenbeispiel hätten sie mit rund 28,6 % der Stimmen mehr als 48 % der Mandate bekommen – könnten also mit einem Wahlergebnis von etwas über einem Viertel der Zweitstimmen fast allein regieren!

Mehrheitswahlsysteme führen in der Praxis dazu, dass sich Parteiensysteme auf wenige, große Parteien oder Wahlbündnisse zuspitzen. Das Standardbeispiel dafür sind natürlich die USA mit ihrer komplett polarisierten 50/50-Demokratie. Aber auch in Frankreich oder dem Vereinigten Königreich gibt es solche „Winner takes it all“-Systeme. In beiden Ländern führten sie zuletzt dazu, dass große Parteien (Tories und Labour im UK) oder Wahlbündnisse (die linke NFP, Macrons ENS und die rechte RN) die Politik dominieren.

Auch Stichwahl-System macht Wahlrechtsreform nicht besser

Befürworter eines Mehrheitswahlsystems in Deutschland argumentieren damit, dass ein solches System das Land regierbarer macht. Wenn weniger Parteien einen größeren Anteil an Mandaten haben, ist es tendenziell einfacher, Koalitionsregierungen zu finden. Eine solche Wahlrechtsreform geht aber auf Kosten der Repräsentation der diversen politischen Meinungen.

Das Grabenwahlsystem ist zwar keine ganz so extreme Änderung, da es ja Hälfte/Hälfte macht zwischen Direktwahl und Verhältniswahl. Außerdem merken Verfechter:innen dieses Systems an, man könne die Verzerrung etwas ausgleichen, indem nicht automatisch der/die Erstplatzierte einzieht. Es gäbe dann eine Stichwahl, wenn niemand in einem Wahlkreis über 50 % geholt hat. Das waren bei der Wahl am Sonntag übrigens fast alle Wahlkreise. Allein Dorothee Bär (CSU) holte in Bad Kissingen mit mehr als 50 % der Erststimmen den Sieg.

Doch auch dieses System würde wenig an den Grundproblemen des Grabenwahlsystems ändern – zu dem Ergebnis kommt der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der Uni Friedrichshafen. Er hat zum deutschen Wahlrecht habilitiert und analysierte 2023 im Kontext der Debatte um die Wahlrechtsreform aktuelle Vorschläge zum Grabenwahlsystem. Er zeigte dabei anhand der Wahlen 2017 und 2021, dass die Einführung einer Stichwahl die Ergebnisse tendenziell noch mehr zu den großen Parteien hin verzerrt – was 2021 ironischerweise dazu geführt hätte, dass Rot-Grün eine Mehrheit hätte haben können. 2017 hätte die Union dagegen in jedem Fall allein durchregieren können – egal, ob mit oder ohne Stichwahl.

Was könnte man überhaupt ändern?

Wenn sich Kandidierende demokratischer Parteien hinstellen, und das Wahlsystem als “gefühlt undemokratisch” bezeichnen, dann kann das heftige Auswirkungen haben. Solche Kommentare delegitimieren unser Wahlsystem und damit die Grundlage der Demokratie. Außerdem klingt es immer ein bisschen so, als hätten die anderen nicht ganz nach den Regeln gespielt. Doch was sind eigentlich genau “die Regeln”? Wie viel dürfte man überhaupt verändern im Wahlrecht, was gibt das Grundgesetz vor?

Im Grundgesetz steht dazu erstaunlich wenig Konkretes. Wer in Gesellschaftskunde in der Schule aufgepasst hat, kennt sicherlich die Wahlgrundsätze aus Art. 38 (1) GG. Die Wahlen sollen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein, steht dort. Doch wie das genau in der Praxis umgesetzt werden soll, das wurde 1949 explizit nicht ins Grundgesetz geschrieben. Damit bleibt es der Gesetzgebung überlassen.

Was angesichts des Grundgesetzes NICHT geht, ist z.B. ein Electoral College wie in den USA. Dort wählen die Bürger:innen Wahlleute, die dann für sie den Präsidenten oder die Präsidentin wählen. Das ist allerdings dann keine unmittelbare Wahl mehr. Auch wenn man z.B. die Wahlkabinen abschaffen und die Menschen per Handzeichen abstimmen lassen würde, wären die Wahlgrundsätze der Freiheit und Gleichheit nicht eingehalten, da dann mindestens ein sozialer Druck beim Wählen entstehen würde.

Doch was Mehrheits- vs. Verhältniswahlrecht angeht, ob es eine Sperrklausel gibt und wenn ja, wie hoch diese sein sollte oder wie hoch das Wahlalter sein muss (das ja streng genommen auch in den Grundsatz der allgemeinen Wahl eingreift) – das muss der Bundestag selbst entscheiden.

Wie steht die Union aktuell zur Wahlrechtsreform?

Anfang 2023 hatte die Union offenbar ein Einsehen, dass sie mit ihrem Vorstoß keine Mehrheiten bekommen würde und schlug eine Alternative vor. Demnach sollte der Bundestag verkleinert werden, indem die Grundmandateklausel auf 5 Direktmandate erhöht werden sollte (damit wäre die Linke 2021 rausgeflogen, die CSU müsste dagegen nicht zittern) und die Möglichkeit, bis zu 15 Überhangmandate nicht auszugleichen, maximal ausgenutzt werden sollte (davon hätte vor allem die Union als stärkste Partei profitiert).

Spannend bleibt, ob die Union in der neuen Legislaturperiode es noch einmal mit einer Wahlrechtsreform in Richtung Grabenwahlsystem versuchen wird, da jetzt Grüne und FDP nicht mehr in der Regierung sind (die vor allem darunter leiden würden). Ob ihr Entgegenkommen 2023 nur ein taktischer Schachzug war, oder ob es tatsächlich ein Umdenken gab, bleibt unklar. Friedrich Merz hat jedenfalls angekündigt, dass es zeitnah die nächste Wahlrechtsreform geben wird.

Fazit: Anlass zur Wahlrechtsreform ist da – fehlt der Wille?

Es ist nicht grundsätzlich undemokratisch, das Wahlrecht zu verändern. Genauso ist nicht nur das demokratisch, was wir “schon immer so gemacht” haben – auch, wenn es durch Änderungen im Wahlrecht sicherlich Verschiebungen gibt. Die Union sollte das wissen, schlug sie doch in der Vergangenheit bereits Wahlrechtsreformen vor, die zufällig genau der CDU und CSU einen teils massiven Anstieg an Mandaten ermöglichen würden. 

Natürlich gibt es gewisse Grenzen was die Bearbeitung des Wahlrechts angeht. Das Bundesverfassungsgericht wird nicht jegliche Veränderung zulassen. Das haben wir ja zuletzt auch gesehen, als das Gericht die Ampel-Regierung zurückpfiff, die die Grundmandateklausel bei Beibehaltung der Fünf-Prozent-Hürde kippen wollte. Wahrscheinlich dürfte übrigens auch eine komplette Kehrtwende hin zum reinen Mehrheitswahlrecht einkassiert werden.

Trotzdem gibt es gewisse Elemente im Wahlrecht, die man durchaus als “ungerecht” bezeichnen und über deren Reform man diskutieren kann, ohne gleich alle Alternativen als “undemokratisch” zu framen. Durch die Fünfprozenthürde sind fast 7 Millionen Stimmen der Bundestagswahl in den nächsten vier Jahren nicht im Parlament vertreten. Außerdem waren in Deutschland 2023 über 12 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit oder Staatenlose in Deutschland gemeldet. Diese 12 Millionen dürfen (auf Bundesebene) genauso wenig wählen wie die Millionen Kinder und Jugendliche unter 18. 

Wenn es einem wirklich um die Demokratie geht, dann müsste man sich eigentlich um bessere Teilhabe dieser Gruppen kümmern – und zwar unabhängig davon, welche Partei nun davon genau profitieren wird. Eine Facette der Wahrheit ist aber auch, dass Parteien im Bundestag ungern etwas von ihrer Macht abgeben. Deswegen sind Veränderungen im Wahlrecht auch so zäh. Und gerade Friedrich Merz zeigte ja zuletzt, dass ihm kritische Stimmen eher lästig sind.

Titelbild: Canva

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