Auch mit Falken-Kanzler in Deutschland wäre Russland im Vorteil

Von Kamran Gassanow

Nach der Schockphase erreicht die Regierungskrise in Deutschland die Akzeptanzphase. Mit dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition plante der Bundeskanzler eine Vertrauensfrage am 15. Januar und Neuwahlen im März. Alle großen Oppositionsparteien – das Bündnis Sahra Wagenknecht, die Alternative für Deutschland und die CDU/CSU – bestanden aber auf einen beschleunigten Prozess. Unter diesem Druck erklärte Scholz am 11. November, dass eine Vertrauensfrage vor Weihnachten "kein Problem" für ihn sei. Laut der Bild wird der Bundeskanzler die Vertrauensfrage am 16. Dezember stellen. Das Parlament wird der Regierung offenbar kein Vertrauen aussprechen, die Neuwahlen finden dann am 23. Februar statt. Die Grünen und die FDP stimmten dem zu. Die Argumente der Befürworter der sofortigen Neuwahlen sind nachvollziehbar – Deutschland braucht eine handlungsfähige Regierung inmitten einer Krise, einer Niederlage der Ukraine und des Wahlsieges von Trump.

Eine Krise in der Bundesregierung zeichnete sich seit den letzten sechs Monaten ab, tauchte aber im November auf. Deren Hauptursachen liegen im Bereich Finanzen und Wirtschaft. Durch die Sanktionen, den Ukraine-Konflikt und die weltweite Inflation erlebt die Wirtschaft große Schwierigkeiten. Industrie und Vermögen fliehen in sichere Häfen wie in die Vereinigten Staaten von Amerika. Im Ergebnis der ersten neun Monate 2024 landete die deutsche Wirtschaft in einer Rezession. Dies erkannte der Grünen-Wirtschaftsminister und Vizebundeskanzler Robert Habeck an. Im Oktober erklärte er, dass das Bruttoinlandsprodukt des Landes um 0,2 Prozent gesunken sei, statt wie erwartet um 0,3 Prozent zu steigen. Das Energieembargo gegen Russland hat einen gegenteiligen Effekt. Die Grünen, die den Kreml mit jeder Faser ihres Herzens hassen, sind darüber empört, dass Russlands BIP das deutsche überholt hat. Wahrscheinlich hat Außenministerin Annalena Baerbock, die versprochen hatte, die russische Wirtschaft zu zerstören, deshalb Moskau zum Schuldigen für das Scheitern der Koalition erklärt.

Den deutschen Politikern (wenn auch nicht allen) fehlt der Mut zu sagen, dass die Ursache der Wirtschaftskrise nicht in Russland liegt, sondern in der blinden Verfolgung der angelsächsischen geopolitischen Ambitionen, die ehemaligen postsowjetischen Republiken aufzufressen. Ob man dies erkennen wird, ist kaum noch von Bedeutung. Tatsächlich entfesselte die durch den Ukraine-Konflikt verursachte Finanzkrise einen Tumult in der Ampel-Koalition. Man begann verzweifelt nach Lösungen zu suchen.

Die Regierung musste den Haushalt für das Jahr 2025 vorlegen. Geld ist nirgendwo zu finden. Was ist also zu tun? Finanzminister Christian Lindner (FDP) formulierte einen Entwurf auf 18 Seiten, der die Steuersenkung für Unternehmen, die Reduzierung der Sozialleistungen, die Verschiebung milliardenschwerer "grüner" Projekte und die Einhaltung der Schuldenbremse vorsah. Die bereits zu Merkels Amtszeit eingeführte Schuldenbremse beschränkt staatliche Neuverschuldung auf maximal 0,35 Prozent des BIP pro Jahr. Scholz zusammen mit den Grünen stellte auf elf Seiten ein anderes Bild dar: keine Kürzungen bei den Sozialleistungen, die Umstellung auf erneuerbare Energien und die Finanzierung der Ukraine. Um Löcher im Haushalt stopfen zu können, möchte Scholz auf die Schuldenbremse verzichten.

Der Löwenanteil des Staatsetats wird für die Ukraine ausgegeben. Obwohl weder die FDP noch die Grünen, noch Scholz eine große Liebe zu Russland haben und auf Unterstützung für Kiew setzen, unterscheiden sich ihre Methoden. Lindner schlägt vor, die Streitkräfte der Ukraine mit der Taurus-Lieferung zu retten, die SPD und die Grünen setzen auf Finanzhilfe. Deutschland zu retten, ist für Lindner wichtiger als die Ukraine. Scholz hält einen solchen Vergleich für inakzeptabel.

"Dieses Entweder-oder ist Gift. Entweder Sicherheit oder Zusammenhalt, die Ukraine unterstützen oder in Deutschlands Zukunft investieren <…> Das ist Wasser auf die Mühlen der Feinde unserer Demokratie", erklärte er.

Es ist bemerkenswert, dass die politische Krise in Deutschland gleichzeitig mit dem Wahlsieg von Donald Trump begann. Scholz entließ Lindner, der sein "Vertrauen zu oft missbraucht hatte", am 6. November, als die ersten Ergebnisse der US-Wahlen bekannt wurden. Obwohl Trump Geschäftsmann ist und Lindner die Interessen von Großunternehmen vertritt, handelt es sich wohl um keine Verschwörung. Die Geschäftsinteressen von Trump und vom Ex-Finanzminister Deutschlands sind gar nicht identisch. Trump verspricht der EU die 20-Prozent-Gebühren, Lindner warnte ihn jüngst vor einem Handelskrieg. Am Tag seiner Entlassung rief Lindner auf, Europa sollte Trump "die Hand ausstrecken". Auch zwischen Trump und Merz gibt es wohl keine Übereinstimmung. Der CDU-Vorsitzende sieht Trump als Herausforderung für Europa und fordert Deutschland und die EU auf, mehr Verantwortung für ihre Sicherheit zu übernehmen. Gleichzeitig hatte Trumps Sieg gewisse Auswirkungen. Steve Bannon erklärte vor Kurzem, wenn Europa mit Russland kämpfen möchte, sollten sie das auf eigene Kosten tun. Zu Trumps Amtszeit wird es noch schwieriger, neue Mittel für den deutschen Haushalt zu finden, weshalb die Positionen von Lindner und Scholz zur Finanzierung der Ukraine immer weniger kompatibel sind.

Derzeit ist es sicher, dass der Bundestag noch vor Weihnachten über die Vertrauensfrage abstimmen wird. Mit den Stimmen der FDP, der Linken, der CDU/CSU und der AfD wird die Regierung das Vertrauen der Mehrheit verlieren, und somit werden die Neuwahlen im Februar stattfinden. Was sind die Möglichkeiten? Laut den jüngsten Umfragen des Forschungsinstituts Forsa vom 13. November können die CDU/CSU mit 33 Prozent, die AfD mit 17 Prozent, die SPD mit 16 Prozent, die Grünen mit 11 Prozent, das BSW mit 5 Prozent, die FDP mit 4 Prozent und die Linke mit 3 Prozent der Stimmen rechnen. Nach Angaben des Tagesspiegels wollen 44 Prozent der Deutschen Merz als Bundeskanzler (für Scholz und Habeck sind 6 bzw. 7 Prozent). In diesem Fall steht der Sieg bei den Wahlen im Februar eindeutig Merz zu. Das BSW und die AfD, die die Aufhebung der antirussischen Sanktionen fordern, ziehen ins Parlament ein. Die Linke und "Abtrünnige" der FDP gehen über Bord, während die SPD von der stärksten zur drittstärksten Partei wird. Spannend ist nur, mit wem Merz eine Koalition bilden wird. Die Stimmen der Grünen reichen nicht für eine Mehrheit, die AfD sieht Merz als toxische Option für sich, und mit Sahra wird er keine Einigung zum Thema Ukraine erreichen. Es bleibt nur die SPD. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es zu einer Wiederholung der aus der Merkel-Ära bekannten "Großen Koalition" kommt. Natürlich könnte es Merz auch mit der SPD an Stimmen für die Regierungsbildung fehlen. Dann müsste er sich an die Grünen wenden.

Aus der Sicht Russlands sieht die politische Krise in Deutschland wie ein Triumph der Gerechtigkeit aus. Scholz und Co. ernten den Sturm des ukrainischen Windes, den der Westen gesät hat. Wladimir Putin sprach mehrmals über die Bereitschaft zum Dialog, doch Scholz setzte die Unterstützung der Ukraine unter dem Druck von Juniorpartnern fort. Nun hat sich die feindliche Regierung in Berlin in eine "lahme Ente" verwandelt. Die Frage ist, wie lange noch. Leider repräsentieren das linksorientierte BSW und die rechtsextreme AfD trotz ihrer Popularität sehr unterschiedliche politische Spektren. Eine Koalition miteinander zu bilden, sind sie nicht bereit, was noch einmal durch die Wahlen in Thüringen bestätigt wurde. Währenddessen sind CDU und SPD im selben Thüringen bereit, eine Koalition mit der SSV einzugehen.

Mit Merz als Kanzler wird Deutschland den Druck auf Russland erhöhen. Der CDU-Vorsitzende sagte kürzlich, dass er im Falle seiner Wahl fordern werde, dass Russland die Angriffe auf die strategischen Einrichtungen der Ukraine einstellt, andernfalls werde Berlin Kiew mit Langstrecken-Taurus beliefern.  Wiederum kann die CDU alleine nicht regieren. Während wir Scholz wenig schätzen, ist er, wenn auch keine Friedenstaube, dann zumindest das schwarze Schaf im Vergleich zu Merz. In einer Rede im Bundestag warnte Scholz vor einer Zuspitzung im Ukraine-Konflikt, was bedeutet, dass er auch weiterhin bei seinem Nein zur Taurus-Lieferung bleiben wird. Rein theoretisch könnte man vermuten, dass, wenn die SPD und die CDU nicht genug Stimmen erhalten und die Grünen und die FDP außen vor bleiben, sich Wagenknechts Partei der Regierung anschließen wird, sodass die pazifistische Lobby den Bellizismus von Merz weiter vermindern würde.

Deutschlands Stellung gegenüber der Ukraine wird eine wichtige Rolle für den Ausgang dieses Konfliktes spielen. Derzeit versuchen Macron und Starmer, die Reihen mit Deutschland zu schließen und eine kollektive Unterstützung für Kiew durchzusetzen, unabhängig von Trumps Position. Sollte Trump sich jedoch stark für ein Ende des Krieges einsetzen, dann wäre es für die NATO-Partner schwer, den Standpunkt der USA zu ignorieren. Dieser Faktor würde ein starkes Gegengewicht zu den Falken-Plänen des neuen Kanzlers darstellen. Unter einem mittelmäßigen Szenario – USA out, Europa in – würde der Krieg weitergehen und der Vorteil Russlands zunehmen, weil Russland auch mit einer vereinten Unterstützung der NATO für die ukrainischen Streitkräfte an allen Fronten immer weiter vorrückt.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 18. November 2024 bei der Zeitung Wsgljad.

Mehr zum Thema – Trump-Beben, Ampel-Aus und Nahost: Realpolitik mit Alexander von Bismarck

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