Die Zensoren zerstören die Demokratie

Von Dagmar Henn

In der ganzen Auseinandersetzung, die in Deutschland (und im gesamten Westen) um Meinungsfreiheit und Zensur geführt wird, wird von den Zensurverfechtern immer wieder von "unserer Demokratie" geredet, die gegen "Einflüsse" oder gegen "Hass und Hetze" verteidigt werden müsse. Dabei bleibt immer absolut unscharf, was mit Demokratie überhaupt gemeint ist. Das ist logisch, denn wenn man sich damit auseinandersetzt, wird schnell sichtbar, wie haltlos diese Position ist.

Zuallererst ist Demokratie eine Technik, Entscheidungen zu treffen. Das Gegenbild dazu ist die Entscheidung eines Einzelnen. Der Vorteil der zweiten Variante ist eine deutlich höhere Geschwindigkeit, der Nachteil ist eine deutlich höhere Fehleranfälligkeit. Warum? Weil das verfügbare Wissen, das der Entscheidung zugrunde liegt, begrenzt ist. Die höhere Zahl der Entscheider bei einer demokratischen Entscheidung bietet die Möglichkeit, mehr unterschiedliche Informationen in den Entscheidungsprozess einzubringen, was die Fehleranfälligkeit verringert.

Auf dieser technischen Ebene ist schnell erkennbar, dass eine Beschränkung der verfügbaren Informationen genau diesen Vorteil aufhebt. Je ähnlicher die Personen sind, die die Entscheidung treffen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass weniger bekannte, aber womöglich wichtige Informationen Teil des Entscheidungsprozesses werden können.

Auf der politischen Ebene wird das natürlich deutlich komplizierter, weil es hier nicht nur um verschiedene Informationen, sondern um verschiedene Interessen geht. Und diese Interessen von vornherein extrem unterschiedliche Aussichten haben, sich durchzusetzen ‒ die der Milliardäre haben da weitaus bessere Chancen als die der Millionen, was vor Jahren in einer Studie der Universität Princeton statistisch eindeutig belegt wurde. Was, wenn man davon ausgeht, dass demokratisch gewählte Strukturen die Interessen der Gesamtheit verfolgen sollen, eine starke Verzerrung darstellt.

Aber selbst wenn man, klassisch marxistisch, davon ausgeht, dass das bürgerliche Parlament das Werkzeug der herrschenden Kapitalistenklasse ist, um den "ideellen Gesamtkapitalisten" zu bilden, also das kollektive Interesse nur eines Teils der Gesellschaft abzubilden und gegebenenfalls auch gegen die Einzelinteressen der Angehörigen dieser Klasse selbst durchzusetzen, bleiben die Grundvoraussetzungen einer demokratischen Entscheidung erhalten ‒ nämlich, dass jede zusätzliche Verringerung von Differenz gleichzeitig die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöht.

Das ist keine Frage von Gut und Böse, richtig oder falsch. Das ist eine Frage der Funktionsfähigkeit des Entscheidungsprozesses. Wenn man betrachtet, welche politischen Entscheidungen in den letzten Jahren getroffen wurden, lässt sich feststellen, dass selbst innerhalb des Spektrums großer Konzerne nur noch einzelne wenige starken Einfluss haben. Die ganze Corona-Geschichte beispielsweise brachte enorme Gewinne für einzelne Konzerne, Pfizer etwa, durchaus auf Kosten vieler anderer.

Das ist selbst innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems eine funktionale Schieflage, die mit dazu beigetragen hat, die politischen Auseinandersetzungen zu verschärfen. Das ist nämlich der nächste Aspekt ‒ die Abbildung der verschiedenen Interessen, ob man nun der Vorstellung folgt, es könne die gesamte Gesellschaft abgebildet werden, oder davon ausgeht, es würden nur die Interessen eines spezifischen Teils der Gesellschaft abgebildet, hat, wenn es um gesellschaftliche Prozesse geht, eine Nebenwirkung. Was nicht mehr vertreten ist, muss sich auf andere Weise durchsetzen, und das beinhaltet immer die Möglichkeit, dass diese Durchsetzung irgendwann gewaltsam erfolgt.

Werden wir einmal konkret. Die aktuelle deutsche Gesetzgebung verbietet es, Personen im Gegensatz zu ihren individuellen Wünschen nach ihrem biologischen Geschlecht zu benennen. Das wurde selbst im Bundestag schon mehrfach durchexerziert. So absurd das als Handlung ist, wenn es über längere Zeit durchgesetzt wurde, erzeugt es die Illusion einer allgemeinen Zustimmung ‒ weil kaum jemand mehr den Mut aufbringt, eine andere Position zu vertreten. Langfristig wird dann diese illusionäre Zustimmung zur wahrgenommenen Normalität und selbst wieder zur Grundlage weiterer Entscheidungen. Die, eben weil die Gegenposition nicht mehr geäußert werden kann, de facto keinerlei demokratische Legitimität besitzen, selbst wenn sie in einer Abstimmung eine Mehrheit erhalten.

Wenn man die aktuellen Bundestagswahlen betrachtet, kann man die Folgen der Zensur bereits sehen. Nachdem alle Aussagen, die der NATO-Erzählung widersprechen, auf die eine oder andere Art aus großen Bereichen der öffentlichen Debatte ausgeschlossen wurden, und innerhalb der politischen Klasse, wenn überhaupt, nur vorsichtig geäußert werden, ist eine Entscheidung der Wähler über die nicht ganz unerhebliche Frage von Krieg und Frieden gar nicht mehr möglich.

In der Medienwissenschaft gibt es den Begriff des "Overton-Fensters", um den Bereich der akzeptierten Aussagen zu beschreiben, in dem sich der mediale Mainstream bewegt. Man kann nicht leugnen, dass er sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verengt hat. Was, da die Mehrheit der politisch Handelnden sich weitgehend auf das verlässt, was ihnen von den Medien als Wirklichkeit serviert wird, gleichzeitig bedeutet, dass sich das Spektrum der innerhalb des politischen Prozesses vertretenen Ansichten ebenso verengt. Mit der technisch unabwendbaren Folge einer zunehmenden Fehlerquote.

Es gibt zwei Kernvorstellungen, die sich in dieser Verengung niederschlagen. Die eine ist die Wahnvorstellung, selbst im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, weshalb jede andere Position nur aus böser Absicht vertreten werden kann. Das zeigt sich an Begriffen wie "Klimaleugner". Die zweite ist, dass Demokratie nur ein anderer Begriff für Wohlfühlgemeinschaft sei, und scharfe Auseinandersetzungen per se undemokratisch.

Man kann darin eine langfristige Folge der Einschränkungen sehen, die den politischen Prozess der Bundesrepublik von Anfang an prägten. Die erste scharfe Auseinandersetzung in den Anfangsjahren der BRD drehte sich um Remilitarisierung und Westbindung, und beides wurde gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit beschlossen. Abgesichert wurde das nicht nur durch das KPD-Verbot, sondern außerdem auch noch durch eine langjährige Verfolgung noch der kleinsten, pazifistischsten Gegenbewegung. Im Vergleich mit den meisten anderen europäischen Ländern war das bundesdeutsche Overton-Fenster immer besonders eng.

Nach der kurzen Öffnung in den 1970ern wurde spätestens ab 1989 noch einmal weiter verengt. Dabei wirkten die Annexion und der dominant werdende Neoliberalismus parallel ‒ das Ergebnis sind völlig entleerte politische Begriffe. Musterbeispiel hier ist, was alles als "Sozialismus" bezeichnet wird, ohne dass die Verwender des Begriffs definieren könnten, was er tatsächlich bedeutet. Aber auch "unsere Demokratie" fällt darunter.

Es ist unübersehbar, dass diese Verengung immer größere Teile der Bevölkerung (und immer größere Teile realer gesellschaftlicher Interessen) aus dem politischen Prozess ausschließt, weil in Deutschland aufgrund der sehr speziellen Geschichte dieser Ausschluss nie wirklich als Demokratieproblem wahrgenommen wurde. In letzter Zeit wird dazu immer die Legende gestrickt, es gehe dabei um die Abwehr einer "rechten Gefahr". Allerdings richtete sich dieser Ausschluss historisch nie gegen Rechts, und sobald man die Frage von Krieg und Frieden mit dem ihr zustehenden Gewicht behandelt, tut er das auch heute nicht.

Nun, wenn es eine Haltung gibt, die geradezu die ideale Voraussetzung für katastrophale Fehlentscheidungen schafft, ist das eine Unfähigkeit zur Selbstkritik, gekoppelt mit der Überzeugung, sich im Besitz absoluter Wahrheit zu befinden, und der konsequenten Ausblendung aller Informationen, die dieser Wahrheit widersprechen. Genau das dürfen wir derzeit täglich erleben. Die Handlungen der NATO-Staaten in der Ostsee sind brandgefährlich, und sie beruhen in Gänze auf nicht belastbaren Informationen (angefangen mit dem "unprovozierten russischen Angriffskrieg" bis hin zur vermeintlichen Sabotage von Ostseekabeln), die aber innerhalb des politischen Apparats als Entscheidungsgrundlage dienen.

Die ganzen vielfältigen Zensurverfahren dienen dabei vor allem der eigenen Machtabsicherung. Weil man sich im Besitz der ewigen Wahrheit wähnt, kann jede negative Folge der eigenen Entscheidungen nur das Ergebnis bösartiger externer Einwirkung sein, was den Drang, jede Abweichung zu unterdrücken, immer weiter verstärkt (ein Prozess, der womöglich erklärt, warum die Hexenverfolgung ein "Nebenprodukt" der Auseinandersetzung zwischen Reformation und Gegenreformation war, schließlich meinte jede der beiden damaligen Seiten ebenfalls, im Besitz der ewigen Wahrheit zu sein).

Was aber gleichzeitig dazu führt, dass die Tendenz zu falschen Entscheidungen stetig weiter steigt. Denn die vermeintlich segensreiche Beschränkung verhindert, dass irgendeine Warnung vor den absehbaren Konsequenzen noch durchdringen und Teil des Entscheidungsprozesses werden kann. Ein typischer Fall dafür fand sich ganz zu Beginn der Amtszeit von Wirtschaftsminister Robert Habeck, als er Mitarbeiter des Ministeriums, die seinen Ansichten widersprachen, unter dem Verdacht der Spionage durchleuchten ließ. Eine Haltung, die sich, selbstverständlich auf Grundlage anderer Begriffe, durchaus bei einem Inquisitor des 16. Jahrhunderts finden ließe.

Die Folge dieses Ansatzes ist also mitnichten eine sichere Demokratie, sondern eine demokratische Form, die durch die starke Begrenzung der in Entscheidungen mit einbezogenen Information ihres zentralen Nutzens beraubt ist. Von wo aus es drei Entwicklungsmöglichkeiten gibt.

Die Erste wäre eine Rückkehr zu einer offeneren Debatte. Was keineswegs die Folge hätte, dass "Hass und Hetze" überhandnähmen, denn diese sind, sofern sie nicht von vornherein Projektion sind, eine Nebenwirkung der Sprechverbote. Weniger Kuschelecke für die aktuellen Insassen der Blase, aber eine Wiederherstellung des technischen Vorteils demokratischer Entscheidung.

Die Zweite ist, dass sich die einer solchen Situation inhärente Tendenz zur Diktatur durchsetzt. Auch diese Tendenz ist eine Folge des Problems der Entscheidungstechnik. Wenn die Vorteile des demokratischen Prozesses aufgehoben sind, also die größere Fehlerbeständigkeit verloren ist, dann bleibt als einziges Merkmal die langwierigere und aufwändigere Entscheidungsfindung übrig, und die diktatorische Entscheidung (wie sie in Konzernen üblich ist) erscheint sinnvoller.

Allerdings ‒ da gibt es dann noch Variante drei. Die Folgen der Fehlentscheidungen werden derart katastrophal, dass die betroffene Gesellschaft auf die eine oder andere Weise untergeht. In den letzten Monaten war dieser Moment bereits mehrfach ziemlich nah, allein dank des wahnhaften Handelns von NATO und EU.

Aber auch die wirtschaftlichen Folgen, die sich längst offen zeigen, haben dieses Potenzial, und immer wieder gibt es kleine Musterbeispiele, die das demonstrieren. Das letzte war der erneute Anstieg der Düngerpreise innerhalb der EU, nachdem die Brüsseler Genies (die allerdings noch nie die technischen Vorteile demokratischer Entscheidungen für sich beanspruchen konnten) beschlossen hatten, russischen Kunstdünger zu sanktionieren. Als die Düngerpreise das letzte Mal stiegen, normalisierten sie sich nur, weil viele Landwirte gar nicht erst anbauten und dadurch die Nachfrage zurückging. Die neue Steigerung liefert die nächste Runde. Am Ende führt das zu einem geringeren Nahrungsmittelangebot. Aber dieser Punkt scheint nicht Teil des Entscheidungsprozesses zu sein.

Schlimm daran ist, dass all jene, die in Deutschland gerade so eifrig auf die Straßen gingen, um für "unsere Demokratie" einzutreten, am Ende das genaue Gegenteil bewirken, weil sie das ohnehin vorhandene Problem noch weiter verschlimmern. Die Unipartei, die klimaschonend in den Atomkrieg rauschen zu wollen scheint, bedürfte dringend eines starken korrigierenden Faktors. Aber man muss wissen, worin der eigentliche Vorteil demokratischer Entscheidungen besteht, um zu begreifen, warum Forderungen nach mehr Zensur und Verbot das genaue Gegenteil des Guten sind.

Mehr zum Thema ‒ Medienrechtler Steinhöfel: Habecks Forderung nach Zensur und Meinungslenkung ist "totalitär" 

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