Werbeindustrie: „Ohne Körper gibt es keine Daten“

Künstlerin und Forscherin Joana Moll spricht im Interview über die enge Verwobenheit der Werbeindustrie mit der Kriegsmaschinerie. Ein zentraler Knotenpunkt: der menschliche Körper.

Joana Moll
Joana Moll in der Ausstellung zu ihrem Projekt „Carbolytics“ CC-BY-NC-SA 2.0 aksioma.org

Max Freitag: Die US-Firma Anomaly Six rühmte sich 2022 mit ihrer Fähigkeit, Mitglieder der US-Geheimdienste über kommerziell verfügbare Daten verfolgen zu können. Warum ist das relevant?

Joana Moll: Anomaly Six konnte NSA- und CIA-Agent*innen anhand von Handydaten aus dem Ökosystem der Werbetechnologie, kurz Ad-Tech, verfolgen. Das zeigt, wie mächtig dieses Datenerfassungssystem ist. Man kann diese kommerzielle Überwachungsstruktur gegen die vermeintlich sichersten Organisationen der Welt einsetzen. Das offenbart auch, was mit der breiten Bevölkerung angestellt werden kann.

Für meine Arbeit dient es als Beispiel dafür, wie der militärisch-industrielle Komplex, die Geheimdienste und Ad-Tech-Unternehmen potenziell und tatsächlich miteinander verflochten sind.

Max Freitag: Ihre Forschung bringt Werbetechnologie mit Kriegsführung in Verbindung. Neben Ad-Tech sprechen Sie von einer „Kill Cloud“. Was genau meinen Sie mit diesen Begriffen?

Joana Moll: Das Konzept der Kill Cloud stammt von Lisa Ling und Cian Westmoreland. Es bezeichnet ein gewaltiges Waffensystem, das viele verschiedene Technologien mit dem Ziel der asymmetrischen Kriegsführung verbindet. Die Drohne ist die markanteste Erscheinungsform der Kill Cloud, aber die zugrundeliegende Struktur ist viel größer. Das World Wide Web ist Teil davon und Ad Tech ist sein wichtigstes Geschäftsmodell.

Targeted Advertising heißt, wir bekommen eine individuell zugeschnittene Anzeige serviert, während unzählige Firmen ohne unser Wissen unsere Daten abgreifen. Unternehmen wie Google erzielen rund 80 Prozent ihres Umsatzes mit Werbung.

Wie Datenhändler NATO und US-Militär bloßstellen

Tanz um neoliberalen Militarismus

Max Freitag: Sie stellen fest, dass die Grenzen zwischen Werbung und Krieg immer mehr verschwimmen, was zu einer „stillen Militarisierung der Zivilgesellschaft“ führt. Wie hängt das zusammen?

Joana Moll: Die Werbebranche ist das „größte Unterfangen der Informationsbeschaffung, das je von Menschenhand geschaffen wurde“, so der Journalist Byron Tau . Es ist schwer, sich die Allgegenwärtigkeit dieser Systeme vorzustellen. Sie sind Teil unseres Berufslebens, aber auch unserer Privatsphäre, unserer Freizeit, unserer Person. Wenn wir vor einem Bildschirm sitzen und Daten generieren, tragen wir allerdings zu einem noch größeren Ökosystem bei, das auf militärische Zwecke ausgerichtet ist.

Das Internet an sich ist eine militärische Infrastruktur. Sein Vorgänger Arpanet entstand 1969 mit dem Ziel der Überwachung und Kontrolle im Kalten Krieg. Diese Ära kennzeichnet eine massive Verschiebung in der Art, wie Krieg verstanden wurde. Wie in den Weltkriegen standen sich zunächst Supermächte gegenüber. Das wurde zu Supermächten gegen kleinere Formen des Widerstands, die überall und schwer zu identifizieren waren, wie im Vietnamkrieg und im US-geführten Kampf gegen den globalen Kommunismus. Das Internet entstand aus der Notwendigkeit, die Strategie an diesen neuen Kriegsschauplatz anzupassen.

Der 11. September markiert einen sehr wichtigen Wendepunkt in der Geschichte hin zur Militarisierung. Das Verteidigungsbudget des Pentagons stieg zwischen 1998 und 2011 um 91 Prozent. Eine Politik des neoliberalen Militarismus gewann an Boden. Jedes Unternehmen muss sich dessen Werten verschreiben. Wir alle tanzen um diese Wirtschaftsdoktrin herum, die sowohl im Afghanistankrieg als auch im Irakkrieg effektiv umgesetzt wurde und sich mit den Kriegen in Gaza und in der Ukraine noch verschärft.

Max Freitag: Was ist neoliberaler Militarismus?

Joana Moll: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte insbesondere in den USA das Wirtschaftsmodell des militärischen Keynesianismus. Die Idee war, dass Militärinvestitionen den Wohlstand sichern könnten. Nach dem Kalten Krieg setzte sich der Neoliberalismus durch. Investitionen in Verteidigung verloren an Bedeutung, Persönlichkeiten wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan „befreiten“ die Märkte.

Aber als die Welt am 11. September die Twin Towers, Symbole westlicher Vorherrschaft, zerstört sah, konnte sich der öffentliche Diskurs wieder gegen „die anderen“ wenden. Ein Feind gegen den Westen wurde identifiziert. Das Resultat war ein Wettlauf um Militärausgaben. Doch der Neoliberalismus verschwand nicht. Der neoliberale Militarismus entstand mit hohen Militärausgaben, aber in einer sehr neoliberalen Perspektive. Der Wohlstand ist weg. Der Militarismus ist zurück. So wurde es unvermeidlich, dass sich Unternehmen wie Facebook oder Google in die Militärindustrie einordneten.

„Alles vermischt sich“

Max Freitag: Können Sie Beispiele dafür nennen, wie die Zivilgesellschaft in den neoliberalen Militarismus integriert wird?

Joana Moll: Die App „Muslim Pro“ soll Gläubigen eigentlich dabei helfen, die Richtung Mekkas in Bezug auf ihren Standort herauszufinden. Das US-Militär hat Daten dieser App gekauft, um potenzielle Terrorist*innen zu identifizieren. Ein anderes Unternehmen, PlanetRisk, nutzte Standortdaten aus gewöhnlichen Apps, um syrische Geflüchtete auf der ganzen Welt zu verfolgen. Auch hier war das Ziel, diese Informationen an US-amerikanische Anti-Terror-Bemühungen zu verkaufen. Oder nehmen wir das umstrittene Unternehmen Palantir, der maßgeblich an den laufenden Operationen des israelischen Militärs beteiligt ist. Jetzt hat das Unternehmen einen sehr lukrativen Auftrag vom National Health Service im Vereinigten Königreich erhalten, um ein System zur Verwaltung von Gesundheitsdaten aufzubauen.

Wie kann man kontrollieren, dass all diese Informationen nicht letztendlich für die Kriegsmaschinerie verwendet werden? Die Tendenz gibt es bei vielen Unternehmen. Alles vermischt sich, man versteht nicht wirklich, wo die Grenzen liegen.

Max Freitag: Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung ist der menschliche Körper. Sie sagen, Sie verfolgen einen „somatischen Ansatz“. Was bringt eine solche Perspektive?

Joana Moll: Der Körper ist das Zentrum von allem, ohne Körper gibt es keine Daten und wenn wir Technologien nutzen, setzen wir deren Grundwerte mit unserem Geist und unserem Körper in die Tat um.

Ein gutes Beispiel ist das körperliche Verhältnis zum Smartphone, als wesentlicher Bestandteil der heutigen wirtschaftlichen, politischen, technischen, historischen und militärischen Systeme. Wir nehmen gegenüber dem Handy eine bestimmte Haltung ein.

Eine der unmittelbaren körperlichen Reaktionen ist, dass sich die Wirbelsäule aufgrund der Neigungsbewegung versteift. Die Aufmerksamkeit wird auf das Gerät ausgerichtet. Man wird zunehmend unfähig, Informationen aus der physischen Umgebung aufzunehmen. Wir sind alle schon mal fast in etwas hineingelaufen, weil wir auf unser Handy gestarrt haben.

So werden immer mehr Informationen auf diese Systeme übertragen, während sich Körper und Aufmerksamkeit komprimieren. Auch unsere Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab. Unsere Denkbewegungen entwickeln sich im umgekehrten Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Systeme im Ad-Tech-Ökosystem.

Unsere Körper waren schon immer durch eine Art Kontrollarchitektur eingeschränkt, zum Beispiel durch den Arbeitsplatz. Heute werden die Einschränkungen allgegenwärtig, teilweise durch unser eigenes Verhalten. Wir sind Teil der Infrastruktur, unsere Körper, unsere biologischen Systeme, unsere Nervensysteme. Wenn wir das verstehen, ist die Rückeroberung des Körpers ein bedeutender politischer Akt. Wir müssen verstehen, dass diese Systeme nichts sind. Ohne menschliche Körper würden sie nicht existieren. Wir müssen den Körper von einem Objekt zu einem Subjekt machen.

Welche Art Mensch werden wir?

Max Freitag: Wie hängt das mit Kriegsführung zusammen?

Joana Moll: Die Disposition des Körpers ist Teil der Militarisierung. Wenn man beobachtet, wie sich der Körper bewegt: Er ist hyperkontrolliert, hat sehr kurze Gedanken- und Bewegungsbahnen. Endloses Scrollen und Klicken verewigen sich im Laufe der Zeit zu festen Mustern und verweigern Körper und Geist jegliche originellen Handlungen, selbst wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.

Der Körper wird auf die Zwecke des neoliberalen Militarismus ausgerichtet. Es gibt eine interessante Parallele zwischen dem Verhalten von Soldat*innen und dem von Nutzer*innen solcher Ad-Tech-Technologien.

Max Freitag: Bedeutet das, dass mein Körper zur Kill Cloud beiträgt?

Joana Moll: Unsere Körper tragen indirekt zur Kill Cloud bei. Es gibt viele sehr zwielichtige Unternehmen, die sich an Ad-Tech beteiligen, um Daten für militärische Zwecke zu sammeln. Aber es geht um mehr als nur die Bereitstellung von Daten für militärischen Systeme.

Für mich ist die entscheidende Frage, wie sich das umgekehrt auswirkt, wie unsere Körper in die Logik des neoliberalen Militarismus und seine Ideologien eingebunden werden. Es entsteht eine bestimmte Art Mensch. Wir müssen verstehen, welche Art Mensch wir im Zeitalter der digitalen Militarisierung werden.

Joana Moll ist eine Künstlerin und Wissenschaftlerin aus Barcelona. Aktuell lehrt sie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Zu ihren Forschungsthemen gehören die Materialität des Internets, Überwachung, soziales Profiling, und User Interfaces. Ihre Arbeit wurde in Museen, Kunstzentren, Universitäten, Festivals und Publikationen auf der ganzen Welt vorgestellt. Als Fellow des Disruption Network Institute hat sie ihr Verständnis der Schnittstelle von Werbetechnologie, Kriegsführung, und menschlichen Körpern vertieft. Als Teil ihrer Fellowship beim PACT Zollverein wird sie bald eine Oper zur Rückeroberung des Körpers vorstellen.


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