Der Sommer der Tiere auf Schloss Weitersroda, mein sterbender Vater und ein letzter Ausweg ins Innere der Menschheit. (Prinz Chaos II)
Die warmen Monate des Jahres 2017 werden im Schatzhaus meiner Erinnerungen einen Ehrenplatz einnehmen: als jener Sommer, in dem die Tiere in mein Leben kamen.
Nun hatte ich zuvor schon Tiere „gehabt“, so wie man Tiere eben „hat“, wenn man nicht das Geringste versteht von ihnen.
Als meine Schwester einst zu einem Kindergeburtstag ein Meerschweinchen geschenkt bekommen hatte, war ich neidisch geworden und hatte meinerseits eines gefordert und erhalten.
Ich war allerdings mit der Pflege überfordert und bald auch gelangweilt von dem Tier. Genauso erging es mir einige Jahre später mit zwei Mäusen, die ich in einem Käfig hielt und deren Gestank ich nicht Herr werden konnte.
Es waren das die typischen Tierhaltungsdesaster eines westdeutschen Haushalts in weitgehender Entfremdung von der Natur. Ja, sicher: meine Eltern waren Fördermitglieder von Greenpeace und der Müll wurde brav in sieben verschiedene Tonnen getrennt.
Ich selbst rettete den Regenwald durch einen diesbezüglichen Aufkleber auf meinem Schulkoffer, aber auch, indem ich bereits als Unterstufenschüler McDonalds boykottierte, wenn alle Mitschüler hinliefen. Mein Boykott war allerdings noch halbgar. Denn ich ging stattdessen zu einem Stand, der Hot Dogs verkaufte.
Anders als der Regenwald ließen mich abgeschlachtete Robben kalt. Überhaupt erreichten Tiere mein Herz nicht im Mindesten.
Der Große Verbündete
Das änderte sich zuerst mit Wuschel. Dieser Kater war in der ersten zwei Jahren, nachdem ich das noch sehr einsame Schloss Weitersroda bezogen hatte, mein treuer Begleiter. In den brutalen ersten zwei Wintern erfüllte mich seine Fürsorglichkeit und Treue mit Dankbarkeit. Als ich ihn einschläfern lassen musste, weinte ich bitterlich.
Dieser erste Einbruch der Tierwelt in mein Herz blieb jedoch stecken. Es folgten Jahre der Herausforderung, Kämpfe mit Behörden, Konflikte im Dorf, eine finanzielle und bauliche Dauerkrise, Angriffe durch die lokale Naziszene.
Ich verstrickte mich rettungslos ins Weltliche und büßte meine wunderbare Stille, mit der ich das Projekt begonnen hatte, ein. Ich rieb mich auf, verkämpfte mich und schaukelte mich emotional von einem Extrem ins nächste.
Es waren gesundheitliche Schwierigkeiten, die mich schließlich in die Stille und auf den Erdboden der Tatsachen zurückzwangen.
Gehalten haben mich und das Projekt in diesen Krisenjahren – neben einem ganzen Haufen guter Leute, die unsere Notlage erkannt und tatkräftig eingriffen haben: die Bäume und die Pflanzen!
Deren lautloses Wachsen und Werden ging unbeeindruckt vom Auf und Ab meines Bankkontos, meiner Stimmungen und sonstiger humanoider Angelegenheiten einfach weiter.
Im Winter lernte ich alsbald „den großen Verbündeten“ erkennen.
Die Monate der Zurückgezogenheit warfen mich und die wenigen anderen Bewohner zuverlässig auf uns selbst zurück. Viele konnte sich selbst nicht gut ertragen. Sie ergriffen die Flucht. Denen, die standhielten, die sich aushalten konnten, wurde der Winter zu einem Lehrmeister und zu einer großen Reinigungsprozedur.
Das Pulsieren der Jahreszeiten ist unser natürlicher Lebensrhythmus. Im Winter Südthüringens wird das Schloss immer kleiner. Nach und nach geben wir Lebensräume auf, zunächst im Außenbereich und dann auch immer mehr Zimmer im Schlossinneren. Der Strom der Besucher ebbt ebenfalls ab, was nach mitunter recht anstrengenden Besucherzahlen in den Sommermonaten wiederum Erholung bedeutet.
Hat der Große Verbündete seine Macht voll entfaltet, sind wir zurückgedrängt auf jene Räume, die wir mit vereinten Kräften beheizen. Diese sind dann in der Regel so warm und kuschelig, dass sie eine große Intensität des Gemeinschaftserlebnisses ermöglichen.
Der Frühling des Abschieds
Sobald der Große Verbündete uns aus seiner eisigen Umarmung entlässt, platzen wir voller Lebensenergie hinaus ins Freie, wie Tiere nach dem Winterschlaf.
Im Jahr 2017 gelang uns dieser Siegeslauf besonders heroisch. Ein großes Gewächshaus wurde errichtet. Das neu formierte Gartenteam schmiss mit Tausenden von Samen um sich. Wir pflanzten eine dreistellige Anzahl neuer Bäume.
Für mich war es dennoch ein trauriger Frühling. Ich musste einen doppelten Abschied nehmen. Wie auf den eisernen Parallellinien eines Bahngleises gingen das Leben meines Vaters und eine für mich sehr bedeutende Liebesbeziehung in den Sterbeprozess über.
Diese Phase war brutal für mich – aber sie hielt auch ein überraschendes Geschenk bereit. Es war dies der tatsächliche Sterbevorgang meines Vaters.
Mein Vater, der aus einer sozialistischen Arbeiterfamilie stammte und als Rebell ins Leben gestartet war, hatte anschließend einige Jahrzehnte als Versicherungsangestellter hinter sich gebracht. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg ging eine Versteinerung einher, die sich vor allem in endlosen Stunden vor dem Fernseher manifestierte.
Meinen Bruder brachte das zu der Aussage: „Der Fernseher hat meine Familie zerstört!“
Auch im Pflegeheim, in dem mein Vater gelandet war, nachdem eine Pflege zu Hause nach einem weiteren Schlaganfall nicht mehr zu gewährleisten war, lief das vermaledeite Gerät ununterbrochen. Schon Versuche, den Ton leiser zu machen, stießen auf wütende Proteste des Siechenden.
Das Wunder der Herzöffnung
Als ich ins Pflegeheim gerufen ward, da mein Vater im Sterben liege, stand ich eine Stunde und fünfzig Minuten später an seinem Bett. Ich hatte meine Instrumente dabei und drehte als erste Amtshandlung dem Terrorgerät den Saft ab.
Stattdessen spielte ich auf der Waldzither meinem Vaters das schöne Tiroler Volkslied „Fein sein, bei’nander bleib’n“ vor und auf der Gitarre „We shall overcome“, das ihm als Fan von Harry Belafonte einmal sehr viel bedeutet hatte.
Meine Geschwister kamen hinzu und meine Stiefmutter und deren Tochter. Und tatsächlich: es sollte uns gelingen, dem Vater im Sterben nach einmal so nahe zu kommen, wie wir es allesamt nicht mehr für möglich gehalten hatten. Ja, diese finale Herzöffnung des Vaters erschien uns als waschechtes Wunder und erfüllte uns mit Dankbarkeit und Demut.
Unverhofft war eine Zärtlichkeit und Vertrautheit möglich, die ich selbst seit langen Jahrzehnten vermisst hatte. Ich streichelte seine Brust, er griff mit letzter Kraft nach meiner Hand und ein unglaublicher Energiefluss setzte ein zwischen uns.
Es war, als platzten alle Panzerungen von ihm ab in diesen letzten Stunden.
So ging mein Vater, der so lange mit sich gerungen hatte, friedlich und versöhnt mit der Welt hinüber in ein anderes Reich. Und wir, die Hinterbliebenen, feierten eine wunderschöne Beerdigung und schöpften aus dem Erlebnis seines Heimgangs ebenfalls Versöhnung und Frieden.
Neues Leben namens Ernstl
Ich war noch nicht fertig damit von meinem Vater – und von meiner Geliebten – Abschied zu nehmen, da brachte Hörnchen, unsere erste Kuh, neues Leben zur Welt. In Erinnerung an meinen Vater tauften wir den schönen Bullen: Ernstl!
Diese Geburt war natürlich ein feierlicher Vorgang. Sensationell aber war, was die Kühe – die durch ein erfolgreiches „Cowfunding“ bald zu einer kleinen Herde anwuchsen – mit uns Menschen machten.
Mir ist inzwischen klar, weshalb diese Tiere in Indien heilig sind. Kühe sind das Gegenteil von Fluchttieren. Sie strahlen eine sagenhafte Ruhe und Gelassenheit aus. Zumindest tun sie es dann, wenn sie auf einer Weide grasen können und anständig behandelt werden.
Finanziell waren die Tiere ein einziges Zuschussgeschäft. Das Geschenk des Friedens, das sie uns gemacht haben, kann nicht bezahlt werden.
Vorübergehend nahmen wir auch ein Pferd namens Svedo auf. Es war von einem befreundeten Landwirt aus verwahrloster Haltung gerettet worden und wurde bei uns einige Wochen aufgepäppelt, bevor es in eine Herde eingegliedert werden konnte.
Mit Svedo erlebte ich eine gegenseitige Herzöffnung, die ich nie vergessen werde. Ganz unverhofft tat sich eine große Zärtlichkeit zwischen uns auf und der Augenkontakt war so intensiv und persönlich, wie ich es bei Menschen noch nicht erlebt hatte.
Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an manche Diskussion in jener Zeit, als ich noch ein harten Marxist, Leninist, Trotzkist und dergleichen gewesen bin. Nachdem das Konzept „Seele“ in diesen Kreisen bereits verlacht wurde, ging es in Debatten über Tiere bestenfalls darum, ob jene überhaupt ein Bewusstsein haben.
Auch dieses wurde meistenteils verneint, was nach heutigem Stand meiner Erfahrung nur erklärbar ist durch die vollständige Abwesenheit jeglicher persönlicher Erlebnisse mit Tieren.
Wenn die Panzerungen abplatzen
Jetzt steht der große Verbündete wieder vor der Tür. Auf Schloss Weitersroda werden letzte Baustellen im Außenbereich abgeschlossen und die Wintervorbereitungen beginnen.
Nicht nur für die neuen Schlossmitbewohner, die wir ins diesem Sommer gewinnen konnten, bedeutet dies vor allem: Nestbau!
Und natürlich ist der Herbst auch eine Phase des Sterbens. Meine geliebten Bäume lassen ihre Blätter fallen, die ohnehin erschreckend wenigen Insekten verschwinden und das Wachsen und Werden der Natur kommt, zumindest äußerlich, zum Erliegen.
Weiterhin beschäftigt mich das Wunder meines sterbenden Vaters. Wie kam es, dass dieser scheinbar rettungslos versteinerte Mann in diesen letzten Momenten derartig aufmachen konnte, sich geradezu verwandelte?
Ich bin auf folgende Erklärung verfallen: Die Verdrängungsprozesse, die wir bewirtschaften müssen, um die Wirklichkeit aus unserer Wahrnehmung zu bannen, kosten Kraft. Für meinen Vater, der einmal sagte: „Gefühle und so: das ist nicht so meins…“, war es ein Kraftakt, diese Gefühle, die ja doch da und die seinen waren und sich tief drinnen ständig regten, zu unterdrücken.
Sterben ist aber keine leichte Aufgabe. Es verlangt dem Menschen alles ab, seinem Körper, seinem Geist. Alle Kraft zieht sich nach innen zusammen, wenn der Mensch sich darauf vorbereitet, den Körper endgültig aufzugeben und diese Welt zu verlassen.
In diesem Augenblick, wenn die Kräfte nicht mehr hinreichen, um auch noch die Kreisläufe der Selbstunterdrückung aufrechtzuerhalten, kann das Verdrängte plötzlich durchbrechen. Und tut es das, platzen die Panzerplatten jahrzehntelang aufgebauter Verdrängungsstrukturen ab und das Eigentliche des Seins kommt mit einem Male wieder zum Vorschein.
Gesellschaftstod als Hoffnung
Ich bin geneigt, diesen Prozess auf unsere Gesellschaft zu übertragen als eine finale Option der Hoffnung.
Denn unsere Gesellschaft wird untergehen. Sie ist dem Tode geweiht. Nicht, dass die Apokalypse eine ausgemachte Sache wäre. Aber diese Gesellschaft, die wir kennen, mit ihrem Parlamentarismus aus dem 19. Jahrhundert, mit ihrem krebsartigen Wachstumsmodell, mit ihrer Ressourcenverschleuderung, ihrem technischen Innovationstsunami und ihren völlig falschen Prioritäten wird untergehen.
Ja, ich wünsche dieser Gesellschaft den Tod. Ich sehen ihn herbei und suche ihn zu beschleunigen. Denn ich halte es mit Hannes Wader, der in einer aktualisierten Version des alten Protestliedes „Trotz alledem“ gesungen hat:
„Wenn das System auch fault und stinkt
Weiß doch kein Mensch, trotz alledem
Wann es in sich zusammensinkt.
Mächtig und zäh, trotz alledem
Wird es wohl noch weiter fortbesteh’n
Doch sollte es zu lang‘ so weitergeh’n
Könnte, was danach kommt, sogar
Noch schlimmer sein, trotz alledem“
Wie lange es noch fortbestehen wird, das faulende, stinkende System, kann freilich niemand wissen. Die Anzeichen seiner tödlichen Krankheit sind unübersehbar. Jeder Mitarbeiter eines deutschen Großkonzerns kann von Vorgängen berichten, die klingen wie die Geschichten über Misswirtschaft in der Sowjetunion, 1988.
Auch der Kraftaufwand für die allgemeine Verdrängung nimmt immer weiter zu. Vielen ist er längst unerträglich geworden, sie klappen mit Burn-Out zusammen.
Doch dann stehe ich wieder alleine an der Salattheke einer Autobahnraststätte und sehe hinüber zum Schalter des Burger King, wo sich eine Schlange von zehn Leuten gebildet hat und denke mir: die allermeisten werden es niemals checken!
Seit diesem Sommer aber kommt mir in diesen Momenten mein sterbender Vater in den Sinn. Wie ich seine Brust streichle und wie er mit letzter Kraft nach meiner Hand greift. Wie ein machtvoller Strom der Liebe und der Kraft einsetzt zwischen uns und meinen ganzen Körper erfüllt. Wie wir uns in die Augen schauen und uns endlich einmal wieder wirklich sehen. Und wie er aufhört zu kämpfen, zu verdrängen und sich endlich darauf einlässt, hinüberzugehen: in eine neue, friedlichere Welt.
Vielleicht wird dieses Wunder der Herzöffnung auch der Menschheit zu Teil werden. Womöglich sogar zu einem Zeitpunkt, an dem wir noch genug Gesundes und Kraftvolles übrig gelassen haben in unserer Zerstörungsorgie, dass etwas Besseres entstehen kann aus diesem Gesellschaftstod, der unvermeidlich kommen wird und täglich schon beginnt.
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizensiert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie dieses Werk beliebig verbreiten und vervielfältigen.
Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.
Meist kommentiert