Sea-Watch: Italien will Gegenüberwachung über dem Mittelmeer stoppen

2017 hat die EU-Kommission eine Hintertür für Pushbacks nach Libyen geschaffen. Im gleichen Jahr begann Sea-Watch die Beobachtung dieser Menschenrechtsverletzungen aus der Luft. Damit soll nun Schluss sein.

Die Silhouette eines zweimotorigen Flugzeuges hinter Stacheldraht.
Allein zwischen Januar und März dieses Jahres haben Sea-Watch-Flugzeuge 2.755 Menschen in Seenot gesichtet. – Friedrich Bungert/Sea-Watch

Schiffe von EU-Staaten dürfen Asylsuchende nicht in Folterstaaten wie Libyen zurückbringen. Um dieses Verbot für sogenannte Pushbacks zu umgehen, hat die EU-Kommission eine Hintertür im Völkerrecht geschaffen und seit 2017 eine libysche Küstenwache mitaufgebaut. Die Truppe entführt Geflüchtete in internationalen Gewässern, inhaftiert sie in Folterlagern, regelmäßig setzt sie bei diesen Pullbacks Waffen ein und lässt Menschen ertrinken.

Ebenfalls seit 2017 beobachtet die Organisation Sea-Watch diese Menschenrechtsverletzungen aus der Luft und informiert die zuständigen maritimen Leitstellen über Boote in Seenot. Damit soll nun Schluss sein: Die italienische Luftfahrtbehörde ENAC hat am Montag eine Anordnung veröffentlicht, die den Einsatz von Flugzeugen ziviler Rettungsorganisationen über dem Mittelmeer verbietet. Zur Begründung heißt es, die Flüge gefährdeten „die Sicherheit von Migranten“.

„Das Flugverbot ist politisch motiviert und rechtlich nicht haltbar. Mitten im Europawahlkampf versucht Italien, die letzten Zeug:innen der europäischen Verbrechen im Mittelmeer loszuwerden”, kommentiert Oliver Kulikowski von der Airborne-Abteilung von Sea Watch.

Sea-Watch dokumentiert Beteiligung von Frontex

Laut der Anordnung betrifft das Verbot Flüge im Osten und Westen Siziliens. Davon umfasst ist auch Lampedusa, wo Sea-Watch das zweimotorige Flugzeug „Seabird 2“ stationiert. Es wird von der Schweizer humanitären Piloteninitiative (HPI) betrieben und trägt deshalb das Hoheitszeichen der Schweiz. Auch die „Colibri“ von Pilotes Volontaires aus Frankreich unternimmt Aufklärungsflüge für Sea-Watch im Mittelmeer und ist deshalb ebenso von dem Verbot betroffen.

Allein zwischen Januar und März dieses Jahres haben die Sea-Watch-Flieger 40 Einsätze mit insgesamt 205 Flugstunden absolviert. Dabei haben die Besatzungen 2.755 Menschen in Seenot in 47 Booten gesichtet. Alle Vorfälle wurden wie vorgeschrieben an die Leitstellen der benachbarten Seenotrettungszonen in Malta, Italien und Libyen gemeldet.

Mehr als 700 Menschen wurden anschließend von der libyschen „Küstenwache“ abgefangen und nach Tripolis zurückgebracht. In mindestens acht Fällen konnte Sea-Watch dabei die Beteiligung der europäischen Grenzagentur Frontex nachweisen.

Gesetz gegen Rettungsschiffe auf Luftraum erweitert

In der Anordnung behauptet die ENAC, der Einsatz von Flugzeugen sei eine „unangemessene Interventionsmaßnahme“ und führe dazu, „dass Migranten von den nordafrikanischen Routen in Rettungsbooten abgeholt werden“. Weiter heißt es, die Seenotrettung obliege allein den dafür zuständigen Behörden. Dazu verweist die Luftfahrtbehörde auf internationale Verträge wie das SOLAS-Übereinkommen zur Rettung von Menschen auf See.

Keiner der genannten Verträge verbietet es jedoch, dass zivile Organisationen Rettungsschiffe oder Flugzeuge außerhalb von Hoheitsgewässern betreiben und über entdeckte Seenotfälle die nationalen Leitstellen informieren.

Die Luftfahrtbehörde ENAC untersteht dem italienischen Verkehrsministerium, das von Matteo Salvini geleitet wird. Der rechtsradikale Lega-Politiker war von 2018 bis 2019 Innenminister und hatte zu dieser Zeit bereits erfolglos versucht, die zivilen Seenotretter mit von ihm erlassenen Dekreten an die Kette zu legen.

Erst Anfang 2023 war die Regierung unter der Postfaschistin Giorgia Meloni damit erfolgreich: Per Gesetz werden Kapitän:innen gezwungen, nach einer Rettungsaktion sofort einen zugewiesenen Hafen anzusteuern, der tausende Kilometer entfernt sein kann. Werden weitere Menschen aus Seenot an Bord genommen, drohen eine Geldstrafe von 20.000 Euro und die wochenlange Festsetzung des Schiffes.

Sea-Watch fliegt weiter

Dieses Gesetz zur Repression gegen Rettungsschiffe hat die ENAC nun auf auf den Luftraum erweitert. Wer Rettungsmaßnahmen „außerhalb des geltenden Rechtsrahmens“ durchführt, wird demnach mit Sanktionsmaßnahmen sowie „Verwaltungshaft“ für die Flugzeuge bestraft.

Die Anwälte von Sea-Watch arbeiten bereits daran, gegen die Anordnung vorzugehen. Das Flugverbot kann wie die Repressalien gegen die zivilen Rettungsschiffe vor italienischen Verwaltungsgerichten angefochten werden. In den vergangenen Wochen waren die Organisationen SOS Mediterranée aus Frankreich und SOS Humanity aus Deutschland dazu erstmals erfolgreich. Unter anderem argumentierten die Richter:innen, Italien habe nicht das Recht, Schiffe für angebliche Taten auf hoher See zu sanktionieren, wenn diese nicht unter italienischer Flagge fahren. Auch der Vorwurf, Anordnungen der libyschen Küstenwache nicht zu befolgen, laufe ins Leere, da deren Einsätze nicht als Rettungsaktionen angesehen werden könnten.

Ungeachtet der drohenden Repressalien will Sea-Watch die Gegenüberwachung aus der Luft nicht beenden. Am Mittwochmittag startete die „Seabird 2“ von Lampedusa zu einem Aufklärungsflug. Maßnahmen der italienischen Regierung erfolgten bislang nicht.


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