Von Dagmar Henn
Nachdem inzwischen die offiziellen Zusammenfassungen des Anrufs von Bundeskanzler Olaf Scholz beim russischen Präsidenten Wladimir Putin veröffentlicht sind, gibt es doch noch eine ungeklärte Frage.
Der Spiegel berichtet: "Das Kanzleramt war seit Wochen mit der Vorbereitung des Putin-Telefonats befasst."
Wochen? Klar, der Spiegel liefert dafür eine Ausrede: "Es stimmte sich dabei eng mit der amerikanischen, der britischen, der französischen Regierung und den anderen G7-Partnern ab." Aber wirklich überzeugend ist sie nicht. Die deutsche Zusammenfassung sieht nämlich so aus:
"Der Bundeskanzler verurteilte den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und forderte Präsident Putin auf, diesen zu beenden und Truppen zurückzuziehen.
Der Bundeskanzler drängte auf eine Bereitschaft Russlands zu Verhandlungen mit der Ukraine mit dem Ziel eines gerechten und dauerhaften Friedens und betonte die unverbrüchliche Entschlossenheit Deutschlands, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Aggression so lange wie nötig zu unterstützen."
Nun, um diese Sprüche zu wiederholen, lohnt es sich wirklich nicht, zu telefonieren. Auch wenn man berücksichtigt, dass eine Stunde Telefonat in Wirklichkeit nur eine halbe gewesen sein dürfte, weil Putin zwar Deutsch kann, aber mit Sicherheit kein Deutsch mit Scholz gesprochen hat; also musste jeweils übersetzt werden. Ergibt pro Gesprächspartner 15 Minuten.
Das ist immer noch zu viel, selbst wenn man diese Sätze auf bekannt langweilige Scholz-Manier von sich gibt und viele Pausen einlegt, um Nachdenklichkeit zu simulieren, als seien ihm diese Sätze gerade eben erst eingefallen und nicht einfach dem Standard-Baukasten NATO-Propaganda entnommen.
Aber da muss ja mehr gewesen sein. Schließlich besagt die russische Zusammenfassung, es habe sich um einen in die Tiefe gehenden und offenen Austausch der Ansichten zur Situation in der Ukraine gehandelt. "In die Tiefe gehend" und die Floskel "russischer Angriffskrieg", das sind eigentlich zwei Dinge, die einander faktisch ausschließen.
(Ein Kollege scherzte übrigens, da Putin in Deutschland immer als der Teufel dargestellt wird, habe es für dieses Telefonat eine lange Leitung gebraucht, aber die sei bei Scholz ja garantiert.)
Nun, vermutlich war Scholz bei diesem Telefonat schon etwas ermattet, nachdem er heute schon wieder einen Wirtschaftsgipfel hinter sich gebracht hatte, bei dem sie alle ein Tänzchen um den heißen Brei herum aufgeführt haben dürften. Muss man noch erklären, worin der heiße Brei bestand? Wenn Scholz vom polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk gelobt wird, weil er so brav gesagt habe "Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine", dem Mann, dessen Außenminister sich damals bei den USA bedankt hatte … Nein, wirklich, nach Angaben von Tusk hat Scholz ihn nach dem Gespräch angerufen.
Wahrscheinlich so: "Hallo Donald, hier ist Olaf. Ich habe jetzt mit Putin gesprochen, und ich habe genau das gesagt, was in meinem Skript stand. Auch das mit 'Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine'. Und vor allem kein Wort über … na, wie hieß das noch …" Und Tusk hat dann etwas gesagt wie "Brav, Olaf". Als hätte er ihm die Platte getätschelt.
Irgendwann wird man im Bundeskanzleramt, oder vermutlich eher in den Akten der CIA, eine Kopie des Skripts finden, das Scholz da vorgetragen hat. Vermutlich einschließlich Randbemerkungen und mit Namenskürzeln abgezeichnet. Vielleicht ist dann auch klar, wer dieses Skript verfasst hat.
Das würde einen Teil der wochenlangen Vorbereitungen erklären. Und dann ist da bekanntlich noch das schlechte Gedächtnis von Scholz. Also, wenn er selbst in Polen Bericht erstattet, musste er davor mit Sicherheit all den anderen, also "der amerikanischen, der britischen, der französischen Regierung" reden, aber dann auch noch mit Japan, Kanada und Italien, und, wer weiß, vielleicht sogar mit den irren Balten, und seine Sprüchlein aufsagen und absegnen lassen.
Womöglich ist ihm das bei Beginn des Telefonats herausgerutscht, und er hat erst einmal wie ein braver Bub aufgezählt, wer ihm alles erlaubt hat anzurufen.
"Guten Tag, Herr Putin, hier ist Olaf Scholz, der Bundeskanzler. Ich darf Sie heute anrufen, das haben Macron und Biden und Starmer und … alle gesagt. Und die wissen auch alle, dass ich anrufe, und finden das in Ordnung, weil ich nämlich gleich sagen muss, dass ich diesen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteile und Sie auffordern soll, den zu beenden und die Truppen abzuziehen."
Man kann sich vorstellen, dass die Reaktion am anderen Ende eher so etwas wie "hm" oder ein leises Räuspern war.
"Nein, wirklich. Die haben mir das ganz sicher erlaubt. Und wir wollen alle einen gerechten Frieden und so."
"Ah."
Darauf folgt eine längere Stille. Ein wenig Flüstern im Hintergrund, dann sagt Putin: "Nord Stream". Und der Übersetzer in Berlin wiederholt: "Nord Stream".
"Wie bitte?"
"Nord Stream."
"Es tut mir leid, ich kann Sie so schlecht verstehen."
"N-O-R-D-S-T-R-E-A-M."
"Nein, ich soll sagen, dass wir unverbrüchlich entschlossen sind, die Ukraine in ihrem (kurzes Flüstern zum deutschen Übersetzer: "Wirklich dieses Wort? Kommt das nicht komisch?" Der Übersetzer: "Das steht da. Abwehrkampf. Da kann ich doch nichts dafür. Unverbrüchlich und Abwehrkampf." "Na gut, wat mutt, dat mutt") – Abwehrkampf gegen die russische Aggression."
Putin: "Das ist langweilig, Zeitverschwendung. Ich dachte, Sie wollten ausnahmsweise für Ihr eigenes Land sprechen."
"Nein, ich habe die Erlaubnis von Macron und Biden und …"
Wieder Geflüster im Hintergrund. Putin spricht. Der Berliner Übersetzer: "Präsident Putin hat gefragt, ob sie wirklich, ganz sicher nicht über Nord Stream sprechen wollen."
"Worüber? Was haben Sie eben gesagt? Worüber soll ich sprechen? Ich verurteile diesen russischen Angriffskrieg und, Moment, Entschuldigung, ich hatte gerade einen Wirtschaftsgipfel, und so was macht mich immer ganz wuschig, was steht da noch einmal? Ich fordere …"
"Sie fordern ihn auf, die Truppen zurückzuziehen. Warum haben Sie hier nicht einfach einen Teleprompter, so wie die Harris, ich bin schließlich Übersetzer und kein Vorleser."
So ungefähr. Irgendwann sagt Putin dann, die Ukraine sei schließlich gezielt gegen Russland in Stellung gebracht worden, und man habe alle russischen Bedenken ignoriert. Wahrscheinlich etwas langsamer, als er sonst spricht, weil ohnehin schon klar ist, dass auf der anderen Seite niemand zuhört.
Wie sollte es auch anders sein bei einer Bundesregierung, die sich als Leiter des Krisenstabs Ukraine im Verteidigungsministerium ausgerechnet jenen Generalmajor Christian Freuding hält, der ganz zu Beginn der Geschichte, im Frühjahr 2014, der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eingeflüstert hat, man könnte doch das KSK nach Slawjansk schicken. Und der bestimmt auch etwas später hinter der Behauptung steckte, die OSZE wolle deutsche Friedenstruppen im Donbass haben. Noch so einer, zu dem dieser Krieg "Papa" sagen kann.
Freuding jedenfalls ist von dem Telefonat überhaupt nicht beeindruckt – auch wenn Scholz deswegen ganz beeindruckt von sich selbst ist, aber wann ist er das nicht – und erklärte der Tagesschau ganz zuversichtlich:
"Ich glaube, wir sind bei der Ukraine-Unterstützung mittlerweile in einer so großen Kontinuität, dass weder eine mögliche Auflösung des Bundestages noch ein nicht verabschiedeter Bundeshaushalt 2025 da irgendetwas für die Ukrainer spürbar werden lassen."
Ist das nicht schön? Und dann fügt er noch hinzu: "Wir werden auch am 1. Januar 2025 Lkw in Richtung Polen rollen sehen."
Nur Olaf, der Tapfere, wälzt sich in der Nacht nach dem Gespräch unruhig in seinem Bett und zählt – anstelle von Schäfchen – an seinen Fingern ab, ob er auch wirklich alle um Erlaubnis gefragt hatte: "Macron, Biden, Starmer …", döst kurz ein und schreckt wieder auf: "Nord … – wenn ich nur wüsste, was er gemeint hat, Nord …" und tröstet sich dann wieder mit "Macron, Biden, Starmer …"
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