Regierungsbruch: Diese netzpolitischen Pläne stehen vor dem Aus

Die Regierung ist zerbrochen, dabei hatte sie von Quick Freeze bis Digitale-Gewalt-Gesetz noch so einiges auf der To-Do-Liste. Die Übersicht, welche netzpolitisch relevanten Vorhaben nun platzen dürften.

Christian Lindner und andere FDP-Politiker steigen aus einem Fahrstuhl
Christian Lindner ist nicht mehr Finanzminister. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Bernd Elmenthaler

Die Ampel-Regierung ist zerbrochen, eine Einigung auf den Bundeshaushalt gab es nicht. Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Mittwochabend in einer beispiellosen Abrechung Finanzminister Christian Lindner (FDP) aus dem Kabinett gekegelt und eine Vertrauensfrage im Januar angekündigt; verbunden mit der Aussicht auf Neuwahlen Ende März. Fast alle FDP-Minister:innen sind in Folge des Rausschmisses zurückgetreten – nur nicht Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing. Er ist stattdessen aus der FDP ausgetreten und will Minister bleiben.

Unter anderem die Union fordert noch frühere Neuwahlen. Auch wenn die Situation sich derzeit ständig weiterentwickelt, ist eines abzusehen: Nicht nur der Haushalt hängt in der Schwebe. Auch viele Vorhaben der damals als „Fortschrittskoalition“ angetretenen Ampel dürften mit dem gestrigen Abend geplatzt sein.

Scholz hat zwar angekündigt, in den 2024 verbliebenen Sitzungswochen des Parlaments immerhin alle Gesetze zur Abstimmung zu stellen, die man nicht aufschieben könne. Als Beispiele steht dabei jedoch nichts Netzpolitisches, sondern unter anderem Rente, Steuern und Industriehilfen. Was bleibt dabei auf der Strecke? Die Übersicht.

1. Quick Freeze – Schnee von gestern

Nach langer Stille hatte das bislang FDP-geführte Justizministerium jüngst den Gesetzentwurf für ein Quick-Freeze-Verfahren veröffentlicht. Das gilt gemeinhin als grundrechtsfreundliche Alternative zur von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bevorzugten Vorratsdatenspeicherung, die auch aus den Reihen der Grünen kritisiert wurde. Eine Weile lang sah es so aus, als könnte sich die FDP mit dem Quick-Freeze-Verfahren durchsetzen. In beiden Fällen bekommen Strafverfolgungsbehörden Verkehrsdaten bei konkretem Verdacht auf Straftaten.

Mit dem Abgang des Justizministers und dem Wegfall der FDP aus der Ampel dürfte Quick Freeze jedoch wieder vom Tisch sein – und die Vorratsdatenspeicherung könnte ein Comeback hinlegen. Insbesondere, weil auch die Union immer wieder darauf drängt. Und auf Stimmen der Union ist Olaf Scholz angewiesen, wenn er, wie angekündigt, noch auf den letzten Metern Gesetze durchbringen will. Gerade in dieser Situation dürfte die Vorratsdatenspeicherung auf dem Wunschzettel für Verhandlungen mit der Opposition landen.

2. Sicherheitspaket – unsichere Nummer

Die Union pocht generell auf umfassendere Gesetze zur Überwachung. Jüngst verweigerten etwa im Bundesrat Länder dem sogenannten Sicherheitspaket die Zustimmung. Es sieht unter anderem weitreichende biometrische Befugnisse für Sicherheitsbehörden vor. Blockiert hatte das die Union nicht etwa, weil es ein beispielloser Eingriff in Grundrechte ist, sondern weil es ihr nicht weit genug ging.

Mit einer demolierten Ampel, einem Kanzler unter Zeitdruck und einer Aussicht auf baldige Regierungsverantwortung sitzt die Union zunehmend am längeren Hebel. Wird die Union dieses Momentum nutzen, um das Sicherheitspaket bei den Verhandlungen in einem Vermittlungsausschuss noch mehr nach ihren Vorstellungen zu formen? Oder richtet sie den Blick schon längst auf einen separaten Anlauf für ein neues und eigenes Sicherheitspaket – vorausgesetzt, sie darf bald selbst mitregieren? Das ist zum aktuellen Zeitpunkt noch Spekulation.

3. Digitale-Gewalt-Gesetz – schwacher Start, leises Ende

Noch ein Vorhaben des FDP-geführten Justizministeriums dürfte in der Schublade bleiben: Das Digitale-Gewalt-Gesetz. Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für viele Formen zwischenmenschlicher Gewalt, die Frauen und andere marginalisierte Gruppen der Gesellschaft besonders treffen, dazu zählt etwa Überwachung durch Ex-Partner:innen, Beleidigung und Drohungen im Netz oder die Verbreitung nicht-einvernehmlicher Nacktaufnahmen. Zumindest gegen einen Teil der Probleme wollte die Koalition ein Gesetz vorlegen.

Ein Eckpunktepapier dazu kam bereits April 2023, danach folgte von vielen Akteur:innen breite Kritik. Demnach regele der Entwurf Dinge, die gar nichts mit digitaler Gewalt zu tun hätten, während er zentrale Aspekte des Phänomens außen vor lasse. Lange hörte man nichts, doch offenbar arbeitete das Ministerium weiter an einem Entwurf. Das zuständige Bundesjustizministerium sagte auf unsere Anfrage am Dienstag, der Entwurf werde „derzeit finalisiert und soll zeitnah vorgelegt werden“. Man plane weiterhin, das Vorhaben in dieser Legislatur abzuschließen. Das ist nach dem gestrigen Abend jedoch nicht mehr realistisch.

4. Beschränkung von Staatstrojanern – Luftnummer

Ein weiteres Vorhaben des Justizministeriums bezog sich auf Staatstrojaner, hier war eine Begrenzung der Eingriffsbefugnisse geplant. Die Polizei sollte Staatstrojaner nicht mehr so einfach nutzen dürfen wie eine normale Telefonüberwachung. Hierzu hatte auch das Bundesverfassungsgericht Vorgaben gemacht.

„Das Bundesjustizministerium hat zur Umsetzung dieses Vorhabens im Bereich der Strafverfolgung bereits im Juli 2023 einen Gesetzentwurf in die Ressortabstimmung gegeben. Die regierungsinternen Abstimmungen dazu sind noch nicht abgeschlossen“, schrieb das Justizministerium noch diese Woche. Doch dazu wird es nun wohl nicht mehr kommen.

5. Überwachungsgesamtrechnung – ohne Zähne

Ein grundrechtlich spannendes Projekt der Ampel-Parteien war auch die Überwachungsgesamtrechnung, für die sich sowohl Justiz- als auch Innenministerium zuständig zeichneten. Das Ziel: die „unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie“. Immerhin: Die Arbeit daran geht weiter, denn die erledigt aktuell das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Erste Ergebnisse dazu werden Anfang 2025 erwartet.

Politisch dürften die Ergebnisse der Gesamtrechnung jedoch wenig ändern. Dazu fehlten schon zuvor Wille und Mehrheiten. Auch der jüngste Einsatz von SPD und Grünen für deutlich mehr Überwachung im sogenannten Sicherheitspaket spricht für sich. Hinfällig sein dürfte damit auch die flankierend geplante Freiheitskommission aus unabhängigen Fachleuten. Diese Kommission hätte mal ein Auge auf Gesetzesvorhaben mit Auswirkungen auf Grundrechte haben sollen.

6. Digital- und Verkehrsministerium – ohne Treibstoff

Auch der nunmehr parteilose Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing hatte eigentlich noch einige Punkte auf seiner To-Do-Liste.

Im Gesetzgebungsprozess befindet sich derzeit etwa das Mobilitätsdatengesetz, das für eine bessere Verfügbarkeit von Fahrplänen, Verspätungsinformationen und Ladeinfrastruktur sorgen soll. Vom bisherigen Kabinett beschlossen wurde es Anfang Oktober. „Wir gehen von einer ersten Beratung im Bundestag im Dezember aus“, antwortete das Verkehrs- und Digitalministerium (BMDV) noch Anfang der Woche. Zu den unaufschiebbaren Gesetzen, die Scholz noch auf der Agenda hat, dürfte es aber eher nicht gehören.

Auch die Umsetzung der Gigabitstrategie könnte ins Stocken kommen. Bis 2025 soll demnach etwa die Hälfte der Haushalte und Unternehmen mit Glasfaseranschlüssen versorgt sein. Diese Strategie enthielt zunächst 100 Maßnahmen und wurde später um weitere 35 erweitert. Davon seien laut BMDV derzeit 87 erledigt.

Offen ist das Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus von Telekommunikationsnetzen. Darin geht es etwa um Genehmigungsverfahren, um den Netzausbau zu beschleunigen. Dass sich dieser Bundestag noch damit beschäftigt, ist ungewiss.

Schon vor der Regierungskrise auf dem Seitenstreifen liegengeblieben waren Bemühungen zum Recht auf Verschlüsselung. Das Bundesinnenministerium hatte einen vorliegenden Entwurf blockiert. Das BMDV schrieb uns hierzu am Dienstag: „Es gibt hier weiterhin regierungsinternen Diskussionsbedarf, bevor wir die Verbändebeteiligung einleiten können.“ Priorität hat diese Diskussion nun wohl nicht mehr.

7. Transparenzgesetz – vom Nebel verschluckt

Nicht nur die ehemaligen FDP-Ministerien hatten noch größere Aufgaben zu erledigen. Ungeliebt und verschleppt durch das SPD-geführte Innenministerium gab es etwa ein Bundestransparenzgesetz, verbunden mit dem Rechtsanspruch auf offene Daten. Trotz öffentlichem Druck wurde das Gesetz immer wieder nach hinten verschoben. Offenbar hat es das Vorhaben nicht einmal bis zu einem Entwurf für die Ressortabstimmung geschafft.

„Das Vorhaben Bundestransparenzgesetz wird derzeit innerhalb des BMI abgestimmt“, teilte uns das Innenministerium noch am Dienstag mit. „Es handelt sich um ein komplexes Vorhaben“, schrieb ein Sprecher. Einen Kabinettsbeschluss habe man bisher für für das erste Quartal 2025 vorgesehen. Diese Zeit war sowieso knapp bemessen. Nun steht im ersten Quartal 2025 vermutlich eine Bundestagswahl an.

8. Sicherheitslücken schließen – bleibt offen

Ins Auge gefasst hatte die Ampel auch eine Pflicht für alle staatlichen Stellen, bekannt gewordene Sicherheitslücken beim BSI (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik) zu melden. Hier gab es aber bereits länger eine Pattsituation, denn das BMI steht bei dem Thema in einem Interessenkonflikt. Immerhin lassen sich Sicherheitslücken auch für den Einsatz von Staatstrojanern nutzen.

Eine Sprecherin des BMI formulierte das im Vorfeld des Ampel-Bruchs so: „Der behördliche Umgang mit Schwachstellen erfordert eine ganzheitliche Betrachtung, durch die Cybersicherheit und Gefahrenabwehr in Einklang gebracht werden.“

Die Sprecherin teilte ebenso mit, dass „Beratungen mit Behörden, Ressorts und im parlamentarischen Raum zur konkreten Ausgestaltung und zur Umsetzung“ andauern würden. Man hatte dennoch vor, das Vorhaben in der ursprünglich verbleibenden Legislaturperiode umzusetzen. Damit ist nun kaum noch zu rechnen.

Weniger zögerlich war das BMI bei Vorhaben, das BSI zu einer Zentralstelle für IT-Sicherheitsfragen zu machen. Hierfür bräuchte es aber nicht nur den Bund, sondern auch die Länder. Um die Zuständigkeiten umzubauen, müsste das Grundgesetz geändert werden. „Es werden vertrauliche Gespräche zur Abstimmung mit den Ländern und im parlamentarischen Raum geführt“, teilte das BMI auf Nachfrage am Dienstag mit. Auf der Prioritäten-Liste dürfte dieses Vorhaben nun sehr weit nach hinten gerutscht sein.

Die Liste ist noch länger

Die Liste geplatzter Vorhaben ließe sich noch fortsetzen. Sowieso vom Tisch war etwa eine rechtliche Stärkung und Unterstützung des digitalen Ehrenamts. Das Vorhaben ist jedoch den Finanzen zum Opfer gefallen: kein Geld. „In dieser Legislaturperiode wurden aufgrund der Haushaltslage für eine verstärkte Förderung von Maßnahmen zur Stärkung des digitalen Ehrenamts keine weiteren Haushaltsmittel bzw. Ressourcen zur Verfügung gestellt“, teilte das Innenministerium mit.

Als unrealistisch gelten dürften nun auch die Pläne für ein Beschäftigtendatenschutzgesetz. Wer schützt Arbeitnehmer:innen davor, dass etwa die Firma ihre Leistung mittels Software automatisch überwacht? Die Ampel wird es wohl nicht mehr tun. Auch der Digitalpakt für Schulen wäre noch fortzusetzen. Genau wie die Hacker-Paragrafen im Computerstrafrecht zu reformieren; ein Forschungsdatengesetz auf die Beine zu stellen oder gemeinnützigen Journalismus anzuerkennen. Auf das und mehr darf wohl bald eine neue Bundesregierung Antworten suchen – mit voraussichtlich deutlich weniger progressiver Brille.


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